Seit 20 Jahren setzt sich Willow Creek in Deutschland dafür ein, dass Kirchen und Gemeinden im Land neu belebt werden. Damit ist Willow nicht allein. Auch die aus der Anglikanischen Kirche in England stammende Erneuerungsbewegung Fresh Expressions (Fresh X) hat in den vergangenen Jahren gerade in vielen Landeskirchen für frischen Wind gesorgt. Allerdings mit einem ganz eigenen Ansatz. Michael Herbst hat sich mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden auseinandergesetzt.

»You like potato and I like potahto
You like tomato and I like tomahto
Potato, potahto, Tomato, tomahto.
Let's call the whole thing off« 

 

So sangen Ella Fitzgerald und Louis Armstrong 1937 und arbeiteten sich durch amerikanische und britische Ausspracheregeln. Am Ende heißt es: ›Let’s call the whole 
thing off!‹ Lass uns das Ganze lieber absagen! Das wird nichts mit uns, so unterschiedlich wie wir sind. Das breite Amerikanisch galt eben als ungehobelt, das Britische dagegen als fein, gebildet, upper class. Das passt einfach nicht zusammen.

Ist das der Ton, auf den wir hierzulande gestimmt sein sollten? Willow und Fresh X, das kann doch nichts werden! ›You like Mega, I like Micro, you like fancy halls, I like small small venues, you like the big show, I like messy church. Let’s call the whole thing off!‹

In der Tat wäre es auf den ersten Blick leichter, die Differenzen zwischen Willow Creek und den Fresh Expressions zu benennen, unabhängig von konfessionellen Differenzen. 

  • Willow Creek ist eine amerikanische Mega-Church in einem riesigen Gebäudekomplex. Die Gemeindephilosophie sagt: Hierher kannst du kommen, und so gut wir können, werden wir alle Hindernisse aus dem Weg räumen, die dich hindern könnten, dich bei uns wohlzufühlen. Die Gottesdienste in South Barrington sind auf höchstem Niveau produzierte professionelle Events, Musiker, Künstler und Redner handverlesen. Das ist es, was den ersten Eindruck ausmacht.
  • Was auch immer wir uns als Fresh X vorstellen: Es ist kleiner, unfertiger und unfeiner. Eine Fresh X lebt davon, dass sich ein paar Menschen in einem Kontext verwurzeln. Die Gemeindephilosophie ist missional: Wir rufen nicht her zu uns, sondern wir gehen hin und bleiben. Wir beten intensiv. Wir dienen gemeinsam. Wir pflegen authentische Beziehungen. Wir ermutigen unsere neuen Freunde zu einem mündigen, lebendigen Christsein und lernen mit ihnen zusammen, was Nachfolge Jesu hier bedeutet. Und erst dann entsteht so etwas wie Gemeinde und Gottesdienst, vielleicht in einem Ladenlokal, einem Wohnzimmer oder einer alten Kapelle, wer weiß.

Also doch: ›Let’s call the whole thing off?‹ Wenn wir über die ersten Beobachtungen hinausgehen, fällt eines auf: Die Kritik an Willow Creek kommt häufig aus den Kreisen, die sich für Fresh Expressions begeistern könnten. Es ist grundlegende Kritik, die aus der missionalen Theologie kommt. Kurz: Willow Creek und alle Mega-Churches stehen für ein überholtes und riskantes Unternehmen. Die Mega-Churches waren die Kirche der Baby-Boomer, aber hey: Die gehen gerade in den Ruhestand. Die wollten barrierefreie Gottesdienste, in denen sie Glauben und Spiritualität ebenso professionell zum Konsum angeboten bekommen wie alle anderen Konsumgüter. Das ist vorbei. Heute suchen Menschen eher Orte, an denen sie auf ernsthafte, authentische spirituelle Gemeinschaften treffen, die ihnen nichts vorsetzen und nichts vorschreiben, sondern eine Chance zum eigenen Entdecken und Mitmachen bieten. Und überhaupt: Kirche als Konsumgut, das geht gar nicht! Spiritualität – das sind keine ›tomatos‹ und ›potatos‹. Wo bleibt der Ruf in verbindliche Nachfolge, die Veränderung des Lebens, die soziale Verantwortung? Wo kämen wir hin, wenn wir Spiritualität zum Konsumgut machen und Kirche zum religiösen Dienstleister? Diese Frage müsste man natürlich auch an alle ›kasualkirchlichen‹ Konzepte im Raum der EKD richten! Neil Burgess brachte es auf den Begriff: Was wir in den Mega-Churches finden, ist nicht ›mission-shaped church‹, sondern ›shopping-shaped church‹. Let’s call the whole thing off?

 

GEMEINSAMKEITEN 
ENTDECKEN

Aber leider ist es nicht so einfach. Nach beiden Seiten hin stimmt es so nicht. Zum einen spielen auch in der Fresh-X-Szene in England Gemeinden eine inspirierende Rolle, die groß und leuchtturmartig erscheinen, die sehr attraktiv und auch attraktional wirken, etwa St. Thomas in Sheffield. Und zum anderen ist das Bild von Willow Creek hier eher eine Karikatur. Der Vorwurf des reinen Konsumismus passt nicht zum enormen sozial-diakonischen Einsatz der Willow-Gemeinde, zu den zahlreichen Recovery-Gruppen und erst recht nicht zur geistlichen Vision, »to turn irreligious people into fully devoted followers of Christ«. In der Reveal-Studie formuliert es Willow Creek so: »We need to become as radical in equipping believers to live Christ-centered lives as we are at reaching seekers.« 

Darum möchte ich noch einmal neu ansetzen und fragen: Was haben denn Willow Creek und Fresh X gemeinsam?

  • Beide haben ein hohes Maß an Leidenschaft für die, die bislang unerreicht blieben und vom Evangelium nicht so viel erfahren haben, dass es ihr Leben verändert hätte.
  •  Beide wollen die unselige Spaltung überwinden, die Wort und Tat voneinander isoliert wie Leib und Seele oder Heil und Wohl.
  • Beide legen größten Wert auf das Gebet und erwarten im Gebet, dass der Geist ihnen auf die Schulter tippt und sie in ihrer Mission lenkt.
  • Beiden geht es um mehr als eine formale Zugehörigkeit zur Kirche oder eine intellektuelle Zustimmung zum Glauben. Beide zielen auf ein lebendiges und mündiges Christsein.
  • Beide sind deshalb so kreativ und lebendig, weil sie relativ schmerzfrei Traditionen hinter sich lassen und Strukturen auf den Kopf stellen, wenn es darauf ankommt, der eigenen Mission treu zu bleiben. Bei den Fresh X ist das die Ausgangslage, bei Willow Creek ist es über 40 Jahre eine erstaunliche Flexibilität. 

Willow bietet sich nicht als Blaupause für schnellen Erfolg in der Entwicklung deutscher Gemeinden an.

Es sind gerade diese Gemeinsamkeiten, die ich für spannend halte. Es ist zwar ein nahezu unausrottbares Vorurteil, aber Willow Creek bietet sich – auch auf den Kongressen – nicht als Blaupause für schnellen Erfolg in der Entwicklung deutscher Gemeinden an. Bei Fresh X ist das klar: Es geht um einen Weg geistlicher Entdeckungen, eine missionale Reise mit offenem Ausgang. Darum: Es sind gerade diese gemeinsamen geistlichen Haltungen, die für uns in Deutschland inspirierend sein sollten – Leidenschaft für die Unerreichten, Evangelisation und Diakonie vereint, Gebet im Zentrum, lebendiges, mündiges Christsein als Zielfoto und ein unbekümmerter Umgang mit Strukturen und Traditionen. 

Trotzdem sind beide weiterhin hoch verschieden. Es bleibt schon dabei: Willow Creek ist ein riesiger Tanker, die Fresh X sind eine etwas chaotisch anmutende Flotte höchst verschiedener kleiner und größerer Boote. Willow Creek reproduziert sich auch eher nach ähnlichem Muster selbst, auch dann, wenn regionale Standorte als Filialgemeinden im Großraum Chicago in anderen Kontexten entsteh

Aber beide könnten im Gespräch miteinander einiges lernen: Fresh X dürften im Blick auf die Sensibilität für Kontexte beweglicher und aufnahmebereiter sein. Fresh X haben wahrscheinlich mehr Mut zur ›messiness‹, während bei Willow alles, wirklich alles enorm strategisch durchdacht ist. Aber das ist für uns, ehrlich gesagt, nicht die spannendste Debatte. 

DIE ZUKUNFT 
UNSERER KIRCHE

Deshalb zwei Überlegungen, die von Willow Creek und Fresh Expressions her auf den deutschen Kontext und die Zukunft der Kirche schauen:

Erstens: Ich glaube, dass unsere kirchliche Landschaft sich massiv verändern wird. Wir werden unsere Ortsgemeinden auch in Zukunft haben – und tun gut daran. Aber sie werden ganz anders aussehen als heute. Wir werden auf eine eher regionale Organisation kirchlichen Lebens zugehen. In mehr oder weniger großen Regionen wird es Ortsgemeinden geben, aber es wird auch Fresh Expressions geben, manche unter dem Dach einer Ortsgemeinde, andere übergreifend; eher auf soziale Netzwerke als auf Gebiete ausgerichtet. Es wird funktionale Dienste geben, im Krankenhaus, in der Schule, im Gefängnis, aber sie werden sich – wenn es gut geht – in Richtung auf Fresh Expressions verändern. Es wird hoffentlich spirituelle Einkehrhäuser geben, Orte des Gebets und der Seelsorge. Es wird attraktive zentrale Anlaufstellen geben, große Kathedralen und Zentren kirchlichen Lebens. Und ich kann mir gut vorstellen, dass es in dieser komplexen ›mixed economy‹ auch stärkere, größere Ortsgemeinden gibt: willowförmige Gemeinden, die besondere Leuchttürme sind, hoch attraktiv – im guten Sinne attraktional – die mit ihren Möglichkeiten die vielen kleineren Formationen geistlichen Lebens unterstützen, schulen, manchmal auch ausstatten. 

Beide sind so lebendig, 
weil sie relativ schmerzfrei Strukturen auf den Kopf 
stellen, wenn es darauf 
ankommt, der eigenen 
Mission treu zu bleiben.

Es wird bei uns keine echten Mega-Churches geben, danach sehne ich mich auch gar nicht. Aber wenn unsere Kirchen durch ihre große Transformation gegangen sind und vieles nicht mehr da sein wird, dann hoffe ich, dass bei uns neben den vielen kleinen Booten und Schiffen in jedem größeren Gebiet auch ein paar gut sichtbare und solide Tanker umherfahren. Das sollten die größeren missionarischen Gemeinden in unserem Land jetzt schon im Blick haben: Was ist unsere Rolle in der Region?

Zweitens: Wir können uns über die Entwicklung des Fresh-X-Netzwerks freuen. Das hätten wir uns vor fünf Jahren noch nicht träumen lassen! Wir sind inzwischen eine ökumenische Bewegung mit evangelischen Landeskirchlern, Leuten aus freien Werken, Katholiken und Freikirchlern. Wir haben Aufmerksamkeit beim Kirchenvolk und in den Hierarchien. Evangelische Landeskirchen wie Mitteldeutschland planen Erprobungsräume, und wenn man genau hinschaut, sieht man: Sie öffnen sich für Fresh Expressions. Das Wachstum bringt Weite. Das ist gut so. Fresh Expressions sind nicht uniform, sondern weit und vielfältig. Aber die gemeinsamen geistlichen Haltungen bei Willow und in den englischen Fresh X sind auch eine Mahnung: dass wir nämlich den großkirchlichen Pluralismus nicht einfach bei uns imitieren können. Das heißt zum einen: Wir sollten uns hüten, alles und jedes eine Fresh Expression zu nennen, sondern unsere Kriterien ernst nehmen: missional, kontextuell, lebensverändernd, gemeindebildend muss sein, was wir Fresh X nennen. Wir müssen da-rum ringen, die geist-liche Mitte zu behalten, die wir bei Willow und Fresh X wahr-nehmen. Diese Mitte ist kirchlich durchaus nicht selbst-ver-ständlich. Aber von ihr leben wir, wenn wir den Menschen mehr als nur uns selbst und ein bisschen religiösen Trost geben wollen. Bei dieser Mitte geht es um das Vertrauen, den Gehorsam, die Liebe, die Hingabe, das demütige Hören und dankbare Beschenktwerden, immer bezogen auf den einen: den gekreuzigten und auferstandenen Jesus. 

Und dann darf man singen: »I like tomatos, and you like tomahtos. That’s fine!«