John Maxwell war in den 1980er Jahren der erste, der Bücher zum Thema »Leitung in der Gemeinde« veröffentlicht hat; mittlerweile sind es über 70. Er war es auch, der Anfang der 1990er Jahre die Leitungsbegabung von Bill Hybels entdeckte und ihn ermutigte, über das Thema Leitung auf Gemeindekonferenzen zu referieren. Als dies auf große Resonanz stieß, war es wiederum Maxwell, der Hybels darin bestärkte, den »Leadership Summit« ins Leben zu rufen: einen Kongress, der sich ausschließlich mit Führungsfragen im kirchlichen Bereich beschäftigt und heute weit darüber hinaus Kreise zieht. Im Interview spricht John Maxwell über wesentliche Erkenntnisse aus seiner langjährigen Leitungserfahrung. Der erfahrene Experte ist auch Sprecher beim Leitungskongress 2018 in Dortmund.

John, ist es heute eigentlich schwieriger zu leiten als früher?

Maxwell: Nein. Leitung bleibt Leitung. Die Prinzipien sind zu jeder Zeit gleich. Die Umstände, mit denen wir es zu tun haben, können die Leitungsaufgabe mal mehr, mal weniger herausfordernd machen, das schon. Aber jede Epoche hält die Möglichkeit bereit, dass aus ihr großartige Leitungspersonen hervorgehen. Man kann in der Geschichte einen beliebigen Zeitabschnitt herausgreifen, in dem es galt, einer Herausforderung zu begegnen – und man wird immer eine Leitungsperson finden, die sich dieser Herausforderung erfolgreich gestellt hat.

Welche Aufgabe ist für eine Führungsperson die schwerste?

Für mich persönlich ist es die Erkenntnis, dass nicht unbedingt jeder, der mit mir unterwegs ist, auch bis zum Ziel dabei bleiben wird. Ich muss mir immer wieder bewusst machen, dass ich mich im Laufe der Zeit von dem ein oder anderen verabschieden muss. Deshalb ist es für jeden Leitenden wichtig, möglichst früh zu lernen, dass es Menschen gibt, die die gesamte Wegstrecke entweder nicht mitgehen können, nicht mitgehen wollen oder nicht mitgehen sollen.

Was ist die größte Falle, in die eine Fürungsperson tappen kann?

Dass ein Leitender der Ansicht ist, bei seiner Führungsaufgabe geht es vor allen um ihn selbst. Fürung ist dem Wesen nach selbstlos. Es geht darum, anderen Wert beizumessen. Sobald eine Fürungsperson glaubt, dass er von seiner Position, seinem Einfluss oder der Erreichung eines Ziels persönlich profitiert, ist er oder sie schon in Gefahr.

Wer nicht an sich selbst arbeitet, sollte sich von seinen Träumen verabschieden.

Ein hoher Standard.

Allerdings. Wenn ich eine Leitungsposition innehabe – ganz gleich, auf welcher Ebene – bin ich in gewisser Weise nicht mehr mein eigener Herr. Alles was ich tue, tue ich im Hinblick auf andere. Ich wache nicht morgens auf und frage mich: Was brauche ich heute?

Sondern: Was benötigen die Menschen, für die ich Verantwortung trage, heute? Meine Aufgabe ist also, anderen dabei zu helfen, Erfolg zu haben. Wenn man es schafft, ganz allein eine Aufgabe zu bewältigen, ist man nicht leitungsorientiert, sondern leistungsorientiert. Eine Leitungsperson hingegen führt Menschen zu einem bestimmten Ziel. Mehr noch: Sie führt Menschen nicht nur an Ziele, die sie selbst gern erreichen möchten, sondern auch an Orte, von denen sie glauben, dass sie diese nie erreichen können.

Das erfordert eine Menge Energie und volle Kraftreserven.

In der Tat. Wenn es nur um mich ginge, könnte ich vielleicht mit einem halbleeren Tank über die Runden kommen. Aber es geht ja nicht um mich, sondern um mein Team, für das ich Verantwortung trage und das sich immer an mir orientiert. Wenn sie in mir eine Leitungsperson sehen, die Leidenschaft für das gemeinsame Ziel besitzt, die Energie verströmt, motiviert sie das und verleiht ihnen selbst Leidenschaft. Wenn ich mit halbleerem Tank und leidenschaftslos meine Arbeit verrichte, ist das abträglich für die Moral im Team. Stets aufgetankt und aufgeräumt zu leben und zu leiten hat übrigens einen weiteren positiven Nebeneffekt: Menschen mit viel Energie werden angezogen, möchten zum Team hinzustoßen. Denn wir ziehen in der Regel nur solche Menschen an, wie wir selbst sind – nicht solche, die wir gerne sein würden.

Leitungspersonen, die mit viel Leidenschaft agieren, können für einige Menschen aber auch ermüdend sein.

Solche Vertreter kenne ich auch. Bei ihnen handelt es sich aber meist nicht um Leidenschaft für eine bestimmte Sache, sondern um einen Mangel an Klarheit und Richtung. Diese Leute sind nicht angetrieben von einem gut gefüllten Tank, sondern von hektischer Betriebsamkeit, mit der Absicht, durch Versuch und Scheitern irgendwie den richtigen Weg zum Ziel zu finden. Das ermüdet Menschen und macht sie verrückt. Man ist als Team ständig unterwegs, kommt aber nirgends an. Fortschritt hingegen motiviert und inspiriert. Die Voraussetzung dafür sind eine eindeutige Zielfixierung, eine durchdachte Strategie und klare Prioritäten.

Es gibt nichts Traurigeres als Führungspersonen, die heute immer noch das Gleiche erzählen wie vor zehn Jahren.

Das erfordert Führungsstärke. Wie erlangt man die?

Durch fortwährende persönliche Weiterentwicklung. Sie entscheidet darüber, wie erfolgreich jemand leitet. Es gibt nichts Traurigeres als einen Leitenden, der sich nicht weiterentwickelt und einem heute immer noch das Gleiche erzählt wie vor zehn Jahren. Weiterentwicklung geschieht nicht zufällig. Viele glauben, dass es schon ausreicht, morgens aufzustehen und schon wird man zu einem reiferen Menschen. Für Wachstum und Reife gibt es keinen Automatismus.

Was gilt es zu tun?

Man muss sich bewusst einem Umfeld aussetzen, das wachstumsförderlich ist. Nach meiner Beobachtung leben die meisten Menschen in einer wachstumshemmenden Umgebung. Sie führen nicht ihr Leben, sie akzeptieren es. Was immer ihnen am Tage widerfährt, nehmen sie als gegeben hin. Es ist wichtig, sich bewusst bestimmten Menschen, Situationen und Lernerfahrungen auszusetzen, die uns herausfordern und für das eigene Fortkommen förderlich sind. Initiative ist gefragt. Nur darauf zu hoffen, dass man an Reife gewinnt, ist keine zielführende Strategie.

Die meisten Menschen mit Leitungsaufgaben haben jeden Tag eine lange To-Do-Liste abzuarbeiten. Da bleibt oft wenig Zeit, sich auch noch um das persönliche Weiterkommen zu kümmern. Auch wenn man das gern möchte.

Für den Anfang reicht es völlig aus, sich einfach einen Bereich vorzunehmen, in dem man weiterkommen möchte. Dann trägt man z.B. fünf Mal pro Woche einen 30-Minuten-Termin mit sich selbst in den Kalender ein, an dem man in die persönliche Entwicklung investiert. Viele werden sagen: Diese Zeit habe ich nicht. Wahrscheinlich stimmt das. Aber ich würde mir diese Zeit dennoch freischaufeln, z.B. indem ich 30 Minuten früher aufstehe oder später zu Bett gehe. Oder indem ich die Mittagspause nutze oder das Wochenende. Wer das nicht tut, sollte sich innerlich darauf vorbereiten, sich von seinen Träumen zu verabschieden. Und davon, jemals sein volles Potenzial auszuschöpfen.

Klingt ernüchternd.

Fakt ist: Alles was wertvoll und erstrebenswert ist, ist meist mit Mühen verbunden. Niemand hat sich zufällig eine besondere Stärke oder Kompetenz angeeignet. Diese Menschen haben sich bewusst dafür entschieden, ihre Anlage für diese Stärke zu entwickeln. Nicht nur hin und wieder, wenn es einem in den Kram passt, sondern regelmäßig, täglich. Es gibt zwei völlig unterschiedliche Typen. Der eine sagt: »Ich muss mich erst gut fühlen, bevor ich etwas Bestimmtes tue.« Der andere sagt: »Ich muss erst etwas Bestimmtes tun, dann werde ich mich auch gut fühlen.« Wenn ich immer erst auf das positive Gefühl warte, wird vieles im Leben unerledigt bleiben. Folglich fühle ich mich noch schlechter. Die großen Führungspersonen wissen, dass positive Gefühle sich durch Disziplin, Verantwortungsbewusstsein und Hingabe an eine bestimmte Aufgabe entzünden.

Soll man sich bei der Weiterentwicklung darauf konzentrieren, die eigenen Schwächen zu verbessern oder die Stärken auszubauen?

Eindeutig die Stärken ausbauen! Natürlich muss man sich fragen: Welche Schwächen blockieren meine Stärken? Nur in diesen Bereichen sollte man sich auf seine Schwächen konzentrieren. Das müssen dann aber Dinge sein, die man auch tatsächlich ändern kann. Zum Beispiel eine negative Haltung abstellen, an größerer Selbstdisziplin arbeiten oder die persönliche Integrität entwickeln. Im Bereich der eigenen Schwächen – die man nicht ändern kann – ist die Entwicklungsmöglichkeit nur gering und gemächlich. Im Bereich der eigenen Begabung hingegen ist die Entwicklungsmöglichkeit riesig und rasch. Daher: Volle Konzentration auf die Begabung! Und dazu ganz bewusst bestimmte Aktivitäten in den Kalender eintragen, die diese Stärken weiter fördern.

John, wie ist diese starke Überzeugung in dir entstanden, das Leben aktiv zu gestalten, statt es passiv auf dich zukommen zu lassen?

Zu Beginn meiner Dienstzeit schenkte mir jemand ein Buch mit dem Titel: ›Die größte Geschichte, die je erzählt wurde.‹ Ich war natürlich sehr neugierig, um welche Geschichte es sich wohl handeln würde. Als ich das Buch aufschlug, waren alle Seiten leer. Auf der ersten Seite hatte die Person den Satz geschrieben: »John, dein Leben liegt noch vor dir – fülle diese Seiten mit guten Taten, freundlichen Worten und Dingen, die von Herzen kommen!«

Was war deine Reaktion?

In diesem Moment wurde mir klar: Ich kann der Autor meiner eigenen Lebensgeschichte werden. Die meisten Leute schreiben nicht ihre Geschichte – sie lassen sie quasi von anderen schreiben und lesen sie anschließend nur. Warum? Weil sie lieber passiv bleiben und sich nicht bewusst die Dinge vornehmen, die Gott ihnen aufs Herz gelegt hat und ihren Begabungen entsprechen. Damals ist der Wunsch in mir gereift, ein Leben zu führen, das dazu beiträgt, Menschen von guten Absichten – die letztlich wertlos sind – zu guten Taten zu bewegen, die am Ende auch etwas bewirken.