Wir haben ein Problem mit unserer Zeit. Sitzungen, E-Mails und Handys haben sich zu Zeitfressern entwickelt. Innovation und Kreativität verkümmern unter dem Götzen der Geschäftigkeit. Die Kommunikation in der Familie stimmt nicht mehr, weil viele Eltern auch abends noch durch die unsichtbaren Stricke des Erwartungsdrucks und der Überlastung an ihre Arbeit gefesselt sind. Kinder vereinsamen und suchen ihrerseits Geborgenheit vor einem Bildschirm.

Damit zeichne ich das beunruhigende Bild einer von Unersättlichkeit geprägten Kultur, die aus einem normalen Arbeitstag einen hektischen Sprint macht, bei dem keinerlei Zeit mehr bleibt, über Dinge intensiv nachzudenken. Und wenn Menschen keine Zeit mehr zum Nachdenken haben, hat das fatale Folgen für eine Organisation, eine Familie, das eigene Leben.

Geistige Freiräume schaffen

Nötig ist ein geistiger Freiraum, den ich White Space nennen möchte. White Spaces sind strategische Pausen, die uns Zeit geben, über unsere Arbeit und uns selbst nachzudenken. Dabei verfolgt man keinen festgelegten Plan. Gedanken und Zeit sind ergebnisoffen und flexibel.

Bei White Space geht es nicht um Meditation. Denn Meditation will Gedanken auf einen bestimmten Punkt konzentrieren. Es geht auch nicht um den freien Fluss von Gedanken, bei dem der Verstand gegen unseren Willen abschweift. Ebenso wenig geht es um Achtsamkeit, bei der wir unseren Verstand völlig auf einen Sinn oder eine Aktivität konzentrieren. White Space ist eine Freiheitserfahrung für den Verstand, mit der Sie ihm erlauben, Neues zu erschließen, abzuwägen und Ihrem Instinkt zu folgen. Menschen (und Teams), die dies eingeübt haben und praktizieren, generieren mehr und qualitativ hochwertige Ideen, sind gelassener und haben eine deutlich höhere Präsenz.

Juliet – wozu soll White Space, also diese gedanklichen Pausen, genutzt werden?

Juliet Funt: Zum Beispiel für die berühmten 20 Prozent Zeit zur Beschäftigung mit Nebenprojekten, wie Google sie seinen Angestellten einräumt. Oder für das Hinterfragen von Thesen, das Auswerten von Daten oder körperliche Erholung.

Weshalb praktizieren die meisten Menschen diese gedanklichen Pausen nicht, sodass Sie diese sogar bei Unternehmen wie Nike, American Express oder Philips mit deren Mitarbeitern einüben müssen?

Weil es uns so schwer fällt, still zu sein. Davor haben wir Angst. Stattdessen zapfen wir lieber die vermeintliche Kraftquelle von noch größerer Anstrengung an. Wir arbeiten härter, sind pausenlos online, weil wir glauben, auch auf diese Weise die Schätze der Bedachtsamkeit heben zu können. Ein großer Irrtum.

Wie sieht White Space denn konkret aus?

Das Konzept ist bewusst breit angelegt, um dem Verstand viel freien Lauf zu lassen. Es könnte z.B. beinhalten:

  • Eine fünfminütige Reflexionszeit nach einem Meeting, um über das nachzudenken, was gerade besprochen wurde.
  • Auf dem Nachhauseweg das Radio ausschalten, um sich mit einer bedeutsamen Frage zu beschäftigen.
  • Eine Minute innehalten, wenn uns etwas verärgert hat, um die eigene Reaktion zu verstehen und wieder in den Griff zu bekommen.
  • 90 Sekunden Stille vor einem Telefonat, um über die Bedürfnisse und Herausforderungen des Gesprächspartners nachzudenken.
  • Ein 15-minütiger Spaziergang bei ausgeschaltetem Handy.

Was hindert uns daran, diese gedanklichen Freiräume in unsere Arbeit oder unser Zuhause gezielt zu integrieren?

Neben unserer Furcht vor der Stille, vier primäre Gründe. Das Vertrackte: jeder dieser vier Punkte besitzt auch einen positiven Wert - der sich aber ins Gegenteil verkehren kann und uns dann in eine Überlastungssituation führt. Es sind:

  1. Drive (oder unser Antrieb). Wir wollen voran kommen, neue Projekte in Angriff nehmen. Wenn wir unserem Drive aber freien Lauf lassen, führt er zu einem Getrieben sein und schließlich zum Burnout.
  2. Exzellenz. Dinge gut zu machen, ist eine positive Eigenschaft. Wenn wir dieser freien Lauf lassen, mündet sie aber in Perfektionismus. Man kann enorm viel Zeit damit verschwenden, gute Dinge aus einem Zwang heraus zu perfektionieren, die aber der Organisation oder einem selbst keinerlei Vorteile bringen. Die Folge: unnötige Überlastung. Und unnötige Kosten.
  3. Information. Jeder von uns hat heute Zugang zu einer unendlichen Datenmenge. Gute Informationen sind wichtig, um eine Organisation oder ein Projekt zu leiten. Einigen Menschen fehlt aber das Gespür, was die wesentlichen Fakten sind; sie gehen unter in einer Informationsflut. Das führt zur Entscheidungsunfähigkeit und Lähmung eines Teams oder einer ganzen Organisation.
  4. Aktivität. Sie ist nötig, um gesteckte Ziele zu erreichen. Aber auch sie kann aus dem Ruder laufen, indem man dem Wahn verfällt, pausenlos aktiv zu sein, um z.B. Produktivität zu beweisen. Menschen, die sich durch ihr Tun definieren, sind hier besonders gefährdet. Innezuhalten, das eigene Tun zu reflektieren, fühlt sich für diese Menschen sonderbar an.

Was ist zu tun, damit die vier positiven Punkte sich nicht ins Negative verkehren?

Das Gegenmittel ist jeweils eine Frage:

  • Unser Drive muss hinterfragt werden mit: "Was kann ich loslassen?"
  • Exzellenz wird hinterfragt durch: "Wann ist gut genug gut genug?"
  • Beim Punkt Information lautet die Frage: "Was muss ich wirklich wissen?"
  • Beim Punkt Aktivität gilt es zu fragen: "Was verdient meine Aufmerksamkeit?"

Diese Fragen muss man sich regelmäßig neu stellen - persönlich, als Team oder gesamte Organisation. Hilfreich ist, wenn die Teammitglieder um die Schwachpunkte der anderen wissen und man sich die Erlaubnis gibt, einander darauf aufmerksam zu machen, wenn er oder sie abdriftet. Denn jeder im Team hat seine "Lieblingsschwächen".