Der Vortrag in Karlsruhe war inspirierend! Beim Leitungskongress 2010 sprach Jessica Jackley, Gründerin der Organisation KIVA, über die Mikrokredite, die sie für Menschen und ihre kleinen Unternehmensprojekte in der Dritten Welt anbietet. Wir waren von der Idee fasziniert und entwickelten die Vision, Ähnliches für Eltern aus dem Kinder- und Jugendhilfebereich anzubieten.

Der „Elisabethstift“ ist eins der ältesten Kinderheime Berlins, gegründet 1826 von einer Pfarrfrau, Mitglied im Diakonischen Werk. Bei uns leben rund 150 Kinder im Alter von 
0 bis 18 Jahren in ganz unterschiedlichen Wohnformen, unterschiedlich lange und aus unterschiedlichsten Gründen. In den letzten Jahren ist neben der Betreuung und Förderung der Kinder auch die Elternarbeit immer stärker in den Fokus gerückt. Wenn Kinder nach einem Heimaufenthalt wieder zurückkehren zu ihren Eltern, ist es für eine langfristig positive Entwicklung wesentlich, dass sie nicht in „alte Systeme“ zurückkehren, sondern dass auch die Familien einen neuen Blick dafür bekommen haben, wie sie ihr Miteinander gestalten. So werben wir in Beratungsgesprächen und Elternkursen sehr dafür, eine Sicht für die Bedürfnisse der Kinder zu entwickeln. Aber wir stellen auch fest, dass Eltern feste Tagesstrukturen und eine sinnstiftende Beschäftigung oder Arbeit brauchen, um ihren Kindern den nötigen Halt geben zu können.

Das erweist sich deswegen oft als schwierig, weil die Eltern häufig auf dem normalen Arbeitsmarkt nicht leicht zu vermitteln sind. Sie sind es einfach nicht gewohnt, morgens aufzustehen, zur Arbeit zu gehen und verbindlich dabeizubleiben. Sie brauchen besondere Begleitung und Unterstützung. In Einzelfällen haben wir im Elisabethstift Minijobs als Reinigungskraft oder im Haushandwerk angeboten, damit Eltern hier in einem geschützten Raum Erfahrungen für den Arbeitsmarkt sammeln können. Aber auf Dauer war unser Angebot an solchen Plätzen einfach zu gering.

Leitungskongress als Inspirationsquelle

Diese Gedanken bewegten mich als Leiter des Elisabethstifts, als ich 2010 zum Kongress nach Karlsruhe fuhr. Der Vortrag von Jessica Jackley über KIVA sprach mich direkt und unvermittelt an: Hier bekamen Menschen durch eine kleine Anschubfinanzierung die Möglichkeit, einer Arbeit nachzugehen und sich selbst zu versorgen – eigentlich genau das, was ich mir für die Eltern unserer Kinder auch wünschte!Was mich besonders berührt hat: Die Hilfebedürftigen werden hier nicht passiv „beschenkt“, sondern eingeladen, selbst aktiv zu sein. Sie haben und behalten eigenständig die Verantwortung, ob sie die gebotene Chance ergreifen und nutzen. Außerdem faszinierte mich der Gedanke, dass ein persönlicher Bezug zwischen Kreditgeber und Kreditempfänger hergestellt werden konnte. Auch im Elisabethenstift lautet eine Grundüberzeugung, dass wir eine Beziehung zu den Menschen, denen wir begegnen, herstellen wollen, um einander zu verstehen und dann auch zielgerichtet helfen zu können.

Es war mir schnell klar, dass das Prinzip der Mikrokreditvergabe so in Deutschland nicht funktionieren würde. Aber ich hatte das Bild vor Augen, Arbeitsmöglichkeiten anzubieten, bei denen viel Handarbeit nötig ist, die kaum Vorbildungen erfordern und die flexibel, bei Bedarf auch nur stundenweise, umgesetzt werden können.

Der Anbau von Biogemüse eignet sich hervorragend dafür – und so entwickelte sich immer mehr die Vision, einen Bauernhof in der Nähe unseres Elisabethstifts zu erwerben, in dem wir in Kooperation mit der Agentur für Arbeit solche Jobs anbieten können. Es ging uns dabei nicht nur um Anbau, Pflege und Ernte, sondern auch um den Transport und Verkauf z.B. auf Wochenmärkten oder in einem Hofladen. Das Thema der „gesunden Ernährung“ und eines „umwelt­bewussten Einkaufs“ spielt in der Arbeit mit den Familien sowieso eine große Rolle und wir versprachen uns bei diesem Angebot zahlreiche Synergieeffekte.

Leider blieben unsere Bemühungen, im Umland fündig zu werden, über zwei Jahre erfolglos – aber Gottes Planung hatte schon längst etwas anderes vorbereitet: Die bekannte Jugendfarm Lübars, schon seit „Mauerzeiten“ ein beliebtes Ausflugsziel für Familien in ganz Berlin, wurde öffentlich zur Übernahme ausgeschrieben. Wir haben uns beworben und „wunderbarerweise“ den Zuschlag vor drei anderen Trägern erhalten!

Die Jugendfarm bietet viele Möglichkeiten, um unsere Vision optimal umzusetzen: Sie ist bekannt und genießt einen guten Ruf. Es gibt ein Ausflugslokal, eine große Tenne als Veranstaltungsraum, Ställe und Tiere, Platz für Gewächshäuser, freizeitpädagogische Angebote (Holzwerkstatt, Spinnerei, ein Backofen zum Brotbacken) und es gibt schon jahrelang besondere Events: einen Ostermarkt, gut besuchte Ritter- und Ernte-Dank-Feste, Räume für einen Hofladen etc.

In dieser Farm steckt ein riesiges Potential – und wir sind begeistert davon, welche Möglichkeiten wir den Familien hier bieten können. Offene Fragen und Bedenken im Vorfeld ließen sich unkompliziert klären, und so haben wir im Januar 2014 die Trägerschaft übernommen. Auch wenn wir nach wie vor Hürden bewältigen müssen, auf Spenden angewiesen und Entscheidungen umkämpft sind: Wir mussten uns entscheiden, ob wir „groß“ denken und planen oder lieber auf „Nummer sicher“ gehen. Und wir haben uns für das Wagnis entschieden. Für das Gottvertrauen.

Grundhaltung: Wertschätzung

Beim Leitungskongress in Leipzig wurde ich erneut ermutigt. Am Beispiel des „Care Centers“ von Willow Creek wurde noch einmal sehr deutlich, wie wichtig es ist, dass Kirche und soziale Verantwortung zusammengehören. Es geht darum, Menschen ganzheitlich und würdevoll zu helfen, sodass sie die Hilfe auch gut annehmen können.

Im Elisabethstift ist uns die wertschätzende Haltung jedem Menschen gegenüber immer wichtiger geworden. Wenn ich Eltern und Kindern auf Augenhöhe begegne und mich wirklich für das interessiere, was ihnen wichtig ist, was sie brauchen, um sich entwickeln zu können, dann beschränken sich meine Hilfs- und Förderangebote nicht mehr nur auf Kinderbetreuung und Elternberatung. Sie werden umfassender, ganzheitlich und greifen immer mehr ineinander.
Durch den Vortrag des Management-Vordenkers Jim Collins hat Gott mich auch konkret angesprochen: Es gab einige Anfragen an den Elisabethstift, weitere große Projekte zu beginnen. Durch die Denkanstöße beim Kongress habe ich mich jetzt dazu entschieden, das abzulehnen. Ich will mich nicht verzetteln, Ressourcen sparen und – das Wichtigste – das Angefangene auch gut zu Ende bringen.

Die Leitungskongresse von Willow Creek sind für mich jedes Mal eine Quelle der Inspiration. Nicht nur im Gemeindealltag, besonders auch in meiner Leitungsverantwortung habe ich über die Jahre viele Impulse konkret umsetzen können, obwohl nur ein kleiner Teil meiner 200 Mitarbeitenden überzeugte Christen sind. So hat uns ein Vortrag von Lou Hueneke (der die Willow Creek-Arbeit in Deutschland mit aufgebaut hat, Anmerkung der Redaktion) über Grundwerte und Visionen im Leitungsteam inspiriert, als wir unser Leitbild entwickelt haben. Diese Vision hat auch heute, nach über zehn Jahren, noch Gültigkeit. Auch ein Vortrag von Bill Hybels über den „360°-Leiter“, der auch „nach oben“ leitet, hat unser Leitungsverständnis grundlegend verändert. Die Frage von Hybels 2012, wie lange ein Mitarbeiter tragbar ist, der seine Arbeit nicht „gut“ macht, hat zu klaren Regelungen im Elisabethstift geführt. Ich könnte sehr viele Beispiele nennen – und ermutige die Leser, die wertvollen Impulse der Kongresse nicht nur auf Gemeindearbeit zu beziehen, sondern auch auf den beruflichen Alltag.