Unser Herz  schlägt für die, die keine Stimme haben

Im Juni 2013 wurde Bill Hybels’ Vision eines neuen, größeren Willow Creek Care Centers mit Leben gefüllt: Das mehr als 5.000 m² große Gebäude öffnete erstmalig seine Pforten und vereint seitdem alle sozial-diakonischen Angebote der Gemeinde unter einem Dach. Rund 2.000 Haupt- und Ehrenamtliche bieten auf vielfältige Weise Menschen in Notlagen Unterstützung an, begegnen ihnen in Würde und lassen neue Hoffnung in ihnen aufleben.

Amazing Space

»Als Willow Creek 1975 in einem stundenweise gemieteten Kino ins Leben gerufen wurde«, erinnert sich Gründer Bill Hybels, »lag der Schwerpunkt der Gemeindearbeit auf dem geistlichen Aspekt. Erst nach und nach erkannten wir, dass wir ganzheitlicher arbeiten müssen, um den sich verändernden Bedürfnissen und Nöten von Menschen wirksam begegnen zu können.« 1981 übergab das Gemeindemitglied George Lindholm einer Familie, die den Gottesdienst besuchte und kaum Geld für Lebensmittel hatte, jeden Sonntag ein ›Care-Paket‹. Daraus wurde etwas später eine Lebensmittel-Ausgabestelle, die von Gemeindemitgliedern bestückt wurde. Als Willow Creek dieses erste – deutlich kleinere und nicht auf dem Gemeindegelände gelegene – Care Center eröffnete, wurde schnell klar, dass weit mehr Menschen Hilfe benötigten als bisher bekannt: Bill Hybels stellte eines Abends fest, dass nicht nur sämtliche Stühle im Center besetzt waren – es standen weitere 100 Menschen Schlange, weil zu Hause die Lebensmittel knapp wurden oder weil sie für ihre gravierenden Probleme eine Anlaufstelle suchten.

Die Zahl der Gäste – wie sie von den Mitarbeitenden genannt werden – wächst noch immer. Fast alle, die sich im Center Hilfe holen, stammen aus dem unmittelbaren Umfeld der Willow-Gemeinde in South Barrington. Im Care Center werden derzeit 17.000 Familien pro Jahr betreut, mehr als doppelt so viele wie im alten Care Center. Sie erhalten Lebensmittel, Kleidung, Rechtsberatung, medizinische Hilfe und – bei Nachweis entsprechender Bedürftigkeit – sogar einen PKW: gespendet von Gemeindegliedern.

Wenn sie ihre Familien nicht einmal mit dem Lebensnotwendigen versorgen können, verletzt das die Würde der Eltern erheblich. »Wir haben jeden Tag mit solchen Menschen zu tun«, sagt Bill Hybels. »Jemandem, der sich bereits hilflos fühlt, wenn er zu uns kommt, möchten wir vermitteln, dass er oder sie geliebt und respektiert wird. Selbst die Räumlichkeiten, in denen sie Hilfe erfahren, soll ihnen diese Wertschätzung vermitteln.«

Brücken bauen

Die Idee zum neuen Care Center als zentralem Ort sozialdiakonischen Engagements war 2010 bei den Feiern zum 35-jährigen Gemeindejubiläum entstanden. Heather Larson, die Gesamtleiterin des Arbeitsbereichs ›Compassion & Justice‹, zu dem das Care Center gehört, und ihr Team erkannten, dass dieses Projekt eine Brücke von der Gemeinde hin zu Nachbarn in Not schlagen könnte: Die Menschen sollten erfahren, dass sie bei Willow jederzeit willkommen sind. »Wir fingen nicht bei Null an«, so Larson. »Unser Angebot läuft teilweise schon seit Jahrzehnten. Wir sind gut mit anderen lokalen Organisationen vernetzt, sodass wir nichts aufbauen, was an anderer Stelle bereits sinnvoll angeboten wird.«

2012 ›rettete‹ die Lebensmittelausgabe des Care Centers eine Million Kilo Lebensmittel vor der Vernichtung aus Geschäften, bei denen das Haltbarkeitsdatum kurz vor dem Ablauf stand. Ehrenamtlich arbeitende ›Lebensmittel-Scouts‹ klappern Supermärkte oder Partner im Großhandel ab und sammeln teilweise überaus großzügige Spenden ein. Der Garten auf dem Willow-Creek-Gelände sorgt zusätzlich für frisches Obst und Gemüse. Im neuen Care Center können sich die Gäste wie in einem Supermarkt selbst bedienen, sie fühlen sich dadurch weniger als Almosen-Empfänger und bekommen auch dadurch ein Stück ihrer Würde zurück.

Doch die Hilfe geht über die Verteilung von Lebensmitteln hinaus. »Wir dienen dem ganzen Menschen – körperlich, mental und geistlich«, sagt Josie Guth, die Leiterin des Centers. »Es geht um das Erkennen der Ursachen, die zu den persönlichen Nöten führten, danach um praktische Veränderungen und neue Perspektiven.«

›Sprungbrett‹ für Menschen in schweren Lebensphasen

Bill Hybels weist nachdrücklich darauf hin, dass das Care Center kein Versuch ist, die Besucherzahlen der Gottesdienste zu steigern. Die einzige Voraussetzung, um Hilfe zu bekommen ist, dass man sie tatsächlich benötigt. Er erklärt: »Viele von uns, die auf der Sonnenseite des Lebens sind, können sich nicht ansatzweise vorstellen, wie entwürdigend es ist, wenn man zu seinem Kind sagen muss: ›Ich weiß, dass du dieses Hemd schon die ganze Woche in der Schule anhattest. Aber wir können uns leider kein neues leisten.‹ Wir wissen nicht, wie sich das anfühlt, wenn man – oft ohne eigene Schuld – seinen Job verloren hat oder sich keinen Arzt leisten kann.«

Das Care Center soll zu einem ›Sprungbrett‹ für Menschen werden, die gerade eine schwere Zeit durchmachen. Das geschieht mit einem großen Maß an Verantwortung für jedes Angebot: Alle Gäste müssen sich ausweisen; manche Unterstützungsformen fußen auch auf einem Bewertungsverfahren, um Missbrauch entgegenzuwirken. Doch selbst wenn hier und da ein Angebot einmal ausgenutzt werden sollte, ist Hybels sicher: »Ich möchte lieber zu viel Mitgefühl zeigen und Hilfe leisten als zu wenig. Sollte ich mal zu viel getan haben – diese ›Schuld‹ nehme ich gerne auf mich.«

Leben verändern, Abhängigkeiten mindern

Im Care Center führen speziell geschulte Mitarbeitende auch Gespräche mit den Gästen, um individuelle Lösungen für verfahrene Situationen zu finden. Schaffen es die Menschen nicht aus eigener Kraft, ihre Situation zu verändern, wird der Kontakt intensiviert: Mit klaren Worten, doch weiterhin in liebevoller Zuwendung. Denn nur wenn in einer scheinbar hoffnungslosen Lage nachhaltige Hilfe möglich ist, wird das Risiko einer dauerhaften Abhängigkeit vom Care Center minimiert.

Mit den schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Einzugsgebiet von Chicago wächst die Zahl der Gäste. Allein die Wirtschaftskrise im Jahr 2005 führte zu einem Besucher­anstieg von 307 (!) Prozent. Doch sowohl die Lebensmittelspenden als auch die Anzahl Ehrenamtlicher haben mit dieser Entwicklung Schritt gehalten und stiegen um ein Vielfaches.

Würde, Hoffnung und Veränderung. Drei zentrale Werte, die die Arbeit im Care Center prägen. Bei allen Begegnungen und Gebeten für die Gäste findet eine Veränderung auf beiden Seiten statt. Die Geschichten, die gehört und die Erfahrungen, die geteilt werden, lassen auch die Mitarbeitenden nicht unberührt. »Als Christen möchten wir Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen und ihnen erzählen, was wir glauben. So verstehen unsere Gäste am besten, wie eine Beziehung zu Jesus Christus aussehen kann«, erzählt Susan DeLay, Leiterin der Willow-Medienarbeit. »Die Menschen, die ins Care Center kommen, sollen das Gefühl haben, am richtigen Ort zu sein. Denn die Gemeinde ist mehr als ein Gebäude: Ihre Menschen sind die Hände und Füße Jesu.«

C.A.R.S. – neue Chancen ergreifen

»C.A.R.S. war eigentlich nie geplant«, sagt Dan Hybels. »Es hat sich einfach ergeben«. Er und Doug McAllister, Inhaber eines Autohauses in Barrington, wurden auf dem Gemeindegelände von einer allein­erziehenden Mutter gefragt, ob sie sich mit Autos auskennen. Bei ihrem Wagen standen größere Reparaturen an, und sie wollte wissen, ob sie wirklich notwendig waren. Die Männer boten ihr an, den Wagen zu reparieren – kostenlos. Die beiden kannten viele Männer, die gerne an Autos herumschrauben. Auf diese Weise entstand C.A.R.S. In diesem Zweig des Care Centers werden kostenlos PKWs repariert sowie gespendete Gebrauchtwagen generalüberholt und an Menschen in Notlagen ausgegeben: über 100 jedes Jahr.

Dan Hybels, Leiter von C.A.R.S., sieht das Angebot auch als Türöffner: »Da jeder Einzelne einen Prozess durchlaufen muss, ob er oder sie für den Erhalt so eines Wagens berechtigt ist, erkennen wir schnell, ob es weitere Bereiche gibt, für die Hilfe nötig ist. Wir können die Menschen dann über Unterstützungsmöglichkeiten aufklären, denn viele von ihnen kennen sich damit überhaupt nicht aus.« Geschichten wie die folgende sind keine Seltenheit: Ein Mann kam mit seiner vierjährigen Tochter, um Lebensmittel zu erhalten und fragte, ob irgendjemand vielleicht seinen Wagen reparieren könnte. Seine Bremsen waren kaputt, und er benutzte für Bremsmanöver schon länger die Handbremse. »Wir konnten ihm schnell helfen«, schmunzelt ein Mitarbeiter.

Würde hat auch mit Kleidung zu tun

Das Verteilen von Kinderkleidung ist neu im Care Center. Im vergangenen Jahr haben Ehrenamtliche gespendete Kleidung sortiert, gewaschen und ansprechend präsentiert. Jorie Johnson ist hier die Teamleiterin. Ihr Einsatz hat ihr Leben verändert: »Mein Herz schlägt für die, die nicht so viel Glück im Leben und die auch keine Stimme haben.« Wieder fällt das Stichwort Würde; es zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Arbeit des Centers. »Uns war klar«, so Johnson, »dass es auch in diesem Arbeitsbereich um die menschliche Würde gehen würde – für Einzelne und für Familien. Würde hat auch viel mit Kleidung zu tun!« Bei ihrer Recherche hatten sie im Vorfeld herausgefunden, dass viele Kinder nicht genug oder keine der Jahreszeit angemessene Kleidung hatten. Die Sachen, die angeboten werden, wurden zwar schon getragen, sind aber noch in gutem Zustand. Und für jeden ist etwas dabei, vom Baby bis zum Teenager. Hier können die Kinder selbst in Ruhe aussuchen und anprobieren, was sie tragen möchten. Auch das steigert ihre Würde und ihr Selbstwertgefühl.

Medizinische Hilfe in eigener Klinik

Nach Arbeitslosigkeit, fehlenden Lebensmitteln und mangelnden Transportmöglichkeiten ist die Gesundheit ein weiteres drängendes Probleme der Gäste. Dave Cimo, Leiter der medizinischen Abteilung, erzählt, dass die meisten Gäste keine Krankenversicherung haben und darum den Besuch beim Arzt meiden. Eine Vor-Ort-Recherche brachte schnell zutage, dass es im Umfeld kaum kostenlose Behandlungen durch Zahnärzte und Augenärzte gab. So suchte Cimo mit seinem Team nach entsprechenden Fachärzten innerhalb der Gemeinde. Mit Erfolg: Heute arbeiten in der Klinik des Care Center rund 20 Zahnärzte, 15 Hygienefachkräfte, 15 Zahn­arzt­helfer­innen und zwei Optiker – Gemeindeglieder, die als Ehren­amtliche ihre Zeit und ihr Know-How zur Verfügung stellen.

Patienten, die mindestens 18 Jahre alt sein müssen, keine Krankenversicherung haben und deutlich unter der Armutsgrenze leben, können die Klinik für ein Jahr in Anspruch nehmen und zahlen 20 Dollar pro Behandlungstermin. Die Mittel für die Klinik und ihre Ausrüstung wurden überwiegend aus Spenden und öffentlichen Zuschüssen aufgebracht.

Ein bahnbrechendes Modell

Trotz der schwierigen Wirtschaftslage haben viele Gemeindeglieder mitgeholfen, indem sie Zeit, Fähigkeiten und Geld in das Gesamtprojekt einbrachten. So blieben die Kosten für das neue Care Center unterhalb des veranschlagten Budgets. Die Gemeinde war so begeistert, dass die benötigten Mittel bereits vor dem ersten Spatenstich vollständig zur Verfügung standen. »Das Care Center ist ein Geschenk an die Menschen in unserer Umgebung«, sagt Pastor Bill Hybels. »Es ist uns eine Ehre, im Rahmen unserer Möglichkeiten so vielen wie irgend möglich zu helfen.«