Bekehre nicht – lebe! Das gleichnamige Buch von Bill Hybels und Mark Mittelberg, erschienen in den Neunzigerjahren, hat auch vielen Menschen aus der Evangelisch Freikirchlichen Gemeinde Thun in der Schweiz aus dem Herzen gesprochen. Zugleich markierte es den ersten Berührungspunkt der Gemeinde mit Willow Creek. Ein solch ansteckendes Christsein leben – das wollten sie auch! So wagte die Gemeinde zaghafte, aber hoffnungsvolle Schritte nach vorn. Pfarrer Gerhard Berger erinnert sich an die Zeit des Aufbruchs und der Veränderung.

Komm wie du bist

Zu unseren Gästegottesdiensten, die wir vor etwa 20 Jahren ab und zu anboten, kamen tatsächlich neue Besucher– immer öfter und immer mehr, denn wir hatten gerade die Beziehungsorientierten unter uns ermutigt, ihre Freundschaften zu Menschen, die Jesus nicht kennen, intensiver zu gestalten. Bald schon merkten wir, dass das Angebot sporadischer Gottesdienste für unsere Gäste nicht mehr ausreichte. So entschlossen wir uns, jeden Sonntag mit ihnen zu rechnen: Wir wollten alles in die gemeindliche Waagschale werfen, damit sie Jesus – durch uns – von seiner besten Seite kennenlernen würden. Für sie, unsere Freunde, wollten wir nicht nur am Sonntag, sondern jederzeit da sein. Wir arbeiteten hart daran, dass sich unser zwischenzeitlicher Slogan »Herzlich willkommen – komm, wie du bist!« tief in unsere DNA verankern würde. Denn wir hatten begriffen: Gemeinde hat keinen Selbstzweck. Sie ist für andere da. Nur das verleiht der Gemeinschaft ihren Sinn. Diese Erkenntnis wirkte! Unsere Räumlichkeiten für die Gottesdienstbesucher und für die Kinderarbeit platzten bald aus allen Nähten.

Im Vertrauen auf Gott wollten wir raum schaffen und dabei Großes erwarten: Wir planten und realisierten einen Neubau. Noch im Jahr 1995 hatten wir rund 180 Kinder und Gottesdienstbesucher gezählt, während ein Jahr nach Fertigstellung des neuen Hauses 2008 schon 360 Personen zu uns kamen. Momentan sind es 510. Das neue Gemeindezentrum ist von der Größe her gerade richtig. Aber vielleicht müssen – nein dürfen – wir uns schon bald mit der Frage befassen, was zu tun ist, wenn es räumlich erneut eng wird.

Wachstum kann schmerzhaft sein

Ich habe mir immer gewünscht, Teil einer wachsenden, lebendigen Gemeinschaft zu sein. In Thun erlebe ich, dass eine Gemeinde wirklich einen Unterschied macht. Natürlich gab es bei uns, wie in jeder anderen Gemeinde, schwierige Phasen. So waren nicht immer alle bereit, unseren Weg mitzugehen. Mancher, der sich vorher im Gemeindekern bewegte, musste zur Kenntnis nehmen, dass auch andere auf dem Weg dorthin sind – und das Verantwortlichkeiten geteilt werden mussten. Mit den ›Neuen‹ wurden uns auch neue Fragen gestellt, auf die wir längst Antworten zu haben glaubten. So kamen Menschen zu uns, die eine gescheiterte Ehe hinter sich hatten. Früher schien das klar: Scheidung ist in unserer Gemeinde kein Thema. Jetzt war es eines, und ein sehr konkretes, und es verlangte nach Antworten, die den Betroffenen gerecht wurden und gleichzeitig Jesu Haltung zu den Menschen widerspiegelten. Diese gedankliche Arbeit und die Entwicklung eines barmherzigeren Herzens waren nicht für jeden leicht. 

In all den schönen und schwierigen Phasen des Wachstums waren zahlreiche Impulse von Willow hilfreich. Wir fanden auf den Kongressen, in Begegnungen und Erfahrungsberichten Bestätigung und Herausforderung zugleich und verspürten stets eine tiefe innere Verbundenheit: Hier schlagen Herzen im gleichen Takt. Dafür sind wir bis heute dankbar.

Gemeinde hat keinen Selbstzweck. Ihr Sinn ist es, für andere da zu sein.

Das LIO’S – Gastfreundschaft und Wohlfühl-Atmosphäre

 

Im Jahr 2011 musste der Mieter eines wunderschönen alten Gebäudes, das direkt neben unserem Gemeindezentrum steht und das gastronomische und kulturelle Geschäfte beherbergte, Konkurs anmelden. Es schien, als hätte Gott dieses Gebäude für uns vorbereitet, denn die Besitzerin wollte gern an uns nachvermieten. Hinzu kam, dass einige Mitglieder unserer Gemeinde einen Traum hatten: Lasst uns aus diesen Räumlichkeiten einen wohltuenden Ort schaffen, an dem Begegnungen zwanglos möglich sind. Uns wurde klar: Da steigen wir ein – damit war das LIO’s Projekt geboren. Mit gelebter Gastfreundschaft würde es uns m.glich sein, eine Brücke in die Stadt zu bauen. In einem gemütlichen Café können Menschen durchatmen, zwanglos genießen und sich auch auf tiefer gehende Gespräche in entspanntem Rahmen einlassen. Im LIO’S wollten wir einen Ort schaffen, an dem aus Gästen nicht nur unsere Freunde werden, sondern auch Freunde von Gott. Genau das geschah: Das Café öffnet uns nun Türen, die unserer Gemeinde zuvor verschlossen blieben.

Menschen kennenlernen und ihnen dienen

Das Café ist ein öffentlicher Ort. Nur montags haben wir geschlossen, sonst ist es von morgens früh bis abends spät durchgehend geöffnet. Wir suchen uns unserer Gäste nicht aus. Jedem einzelnen möchten wir freundlich und liebevoll begegnen – auch über das Servieren unserer Spezialitäten hinaus. Unser Café liegt in unmittelbarer Nähe zum Krankenhaus. Vor einigen Tagen nahm ein Mann Platz, der früher wöchentlich bei uns Gast war. Eine Zeitlang hatten wir ihn nicht mehr gesehen. Er erzählte, dass der Anlass, wieder hier zu sein, für ihn nicht erfreulich sei: Eine Operation sei nicht gelungen,jetzt müsse er erneut unters Messer. Das einzige was ihn freue, sei die Aussicht, dass er nun wieder regelmäßig bei uns seinen Kaffee trinken könne – hier fühle er sich einfach wohl. Im LIO’S werden bewusst keine frommen Traktate ausgelegt. Wir haben uns stattdessen entschlossen, dass das einzige, was unsere Gäste lesen sollen, wir selbst sein möchten!

 

Neue Themen setzen

Bewusst verkaufen wir im Café fast ausschließlich hochwertige regionale Produkte und achten darauf, dass sie biologisch und fair erzeugt werden. Auch unsere Deko-Elemente und Geschenkartikel können käuflich erworben werden; sie werden zum größten Teil von Menschen aus der Gemeinde gefertigt. Auch regionale Lieferanten bieten in unserem Laden Produkte an. Wir wissen, woher unser Kaffee kommt und dass der Bauer, der die Bohnen erntet, seinen angemessenen Lohn erhält. Auch unser Bier kommt aus einer kleinen Brauerei in der Umgebung. Unser reden und Tun soll stimmig sein. Am Sonntag im Gottesdienst sprechen wir bisweilen über unsere Verantwortung für die Schöpfung und über die Gerechtigkeit als Anliegen Gottes. Im LIO’S können wir praktisch zeigen, wie das unter anderem gelebt werden kann. Auch unser Engagement für eine Compassion- Gemeindepatenschaft in Kenia, durch die alle Haushalte einer Region nun Zugang zu sauberem Trinkwasser erhalten, ist häufig Anlass für so manches wertvolle Gespräch mit unseren Gästen, wenn sie erfahren, dass 10% unserer Einnahmen in dieses Projekt fließen.

Im Café erleben unsere Gemeindeglieder, wie man ohne großen Aufwand für andere da sein kann. Wir bauen darauf, dass diese Erfahrungen Spuren hinterlassen. Natürlich kann der Betrieb nur aufrechterhalten werden, weil sich 70 Ehrenamtliche daran beteiligen. Dennoch: Wir hatten kaum Mühe, sie an Bord zu holen. Der Grund: Hier ist leidenschaftliche Gastfreundschaft möglich. Hier kann man zwanglos mit Menschen ins Gespräch kommen. Hier kann man sich durch Kleinkunst für die Stadt engagieren. So hat das LIO’S vielen Gemeindemitgliedern die Möglichkeit eröffnet, ihre Gaben auf neue Weise einzusetzen.

Wir haben uns entschlossen, dass das einzige was unsere Gäste lesen sollen, wir selbst sind!

 

Café mit Extras

Der reguläre Cafébetrieb tagsüber ist nur eines der LIO’S-Angebote. An den Abenden kommen unsere Extras hinzu: Am Mittwoch ist das LIO’S in Männerhand. Hier herrscht beim kühlen Feierabendbier Stammtisch- Atmosphäre. Dann werden nicht nur Sportresultate kommentiert, auch das Gespräch über »Gott und die Welt« wird gesucht. Dieses Angebot hat in unserer Gemeinde ein Vakuum gefüllt. Viele Männer bringen ihre Kollegen mit, und immer wieder gehen die Gespräche in die Tiefe. So tief, wie sie bei den Gottesdiensten an Sonntagen vermutlich nie gehen würden. Nicht selten hören wir, wie Männer, die vorher der Familie zuliebe mit in die Gemeinde gekommen sind, sich jetzt voll und ganz identifizieren: Sie sind stolz, einer Gemeinschaft anzugehören, in der es einen Ort gibt an dem sie einfach Mann sein dürfen. 

Am Freitagabend steht die SpielBar für unsere Gesellschaftsspieler auf dem Programm; am Samstag haben die Jugendlichen das Sagen im LIO’s; ab und zu veranstalten sie im Gewölbekeller Konzerte oder Kleinkunst-Events. Am Sonntagmittag ist das LIO’S vor allem für die Gottesdienstbesucher geöffnet, um einen Imbiss einzunehmen oder um die Gemeinschaft zu genießen.

Aus unserem Gemeindealltag ist das LIO’s nicht mehr wegzudenken. Viel Gutes ist hier geschehen, wertvolle Begegnungen haben stattgefunden und gute Beziehungen konnten wachsen. Weil sie sich in einer ›Wohlfühloase‹ treffen konnten, hat sich bei vielen von uns der Grad an tiefen, beständigen Beziehungen deutlich erhöht. So hat das LIO’S-Projekt geholfen, Grenzen im Gemeinde-Milieu aufzuweichen und unseren Raum buchstäblich zu erweitern. Wir haben einen Weg gefunden zu den Menschen, die in einer modernen Erlebniskultur verwurzelt sind, und wir dürfen gemeinsam mit ihnen als Gemeinde unterwegs sein.