Fotos von den schönsten Models, digital bearbeitet, bis zur Perfektion. Das mögen Ziele von einigen Fotografen sein. Nicht aber von Jan C. Schlegel. Er reist um die Welt, um einzigartige Porträtaufnahmen zu machen: von ganz normalen Menschen, deren individuelle Persönlichkeit er hervorheben möchte. Er porträtiert die Personen so, wie er ihnen begegnet. Zu jedem seiner ausdrucksstarken Bilder kann er eine Geschichte erzählen. Wie der Fotograf bei seiner ganz eigenen Art der Fotokunst angekommen ist und welche philosophischen Gedanken ihn dabei bewegen, davon erzählt er hier.

Kürzlich fielen mir einige meiner ersten Bilder in die Hände. Ich erinnerte mich daran, wie begeistert ich damals gewesen war, als ich die ersten Abzüge in meiner Dunkelkammer entwickelte. Aber wenn ich sie mir jetzt anschaue, entsprechen sie nicht mehr meinen heutigen Ansprüchen. Der französische Fotograf Henri Cartier-Bresson sagte einmal: »Deine ersten 10.000 Fotos sind deine schlechtesten.« Er hat recht. Wenn ich meine Fotos von damals mit denen von heute vergleiche, merke ich, wie wichtig dennoch jedes einzelne Bild war, um besser zu werden. Ich liebe die technische Seite der Fotografie und habe dabei im Lauf der Zeit eine Menge an Erfahrung gesammelt. Bis heute experimentiere ich viel und lerne immer noch dazu.

Die Kunst des Fotografierens

Neben dem technischen Aspekt ist die philosophische Seite aber mindestens genauso wichtig. Als Fotograf muss ich nicht nur Fotos entwickeln, sondern vor allem die Kunstform selbst. Das ist das Entscheidende. Als Fotograf neigt man dazu, der technischen Seite mehr Beachtung zu schenken, weil das der Teil ist, den man leichter lernen und kontrollieren kann. Aber die philosophische Seite des Fotografierens ist viel schwieriger zu erlernen und noch viel schwieriger überhaupt zu entdecken.

 

Ich bin überzeugt, dass wir mindestens ebenso viel Zeit in unsere künstlerischen Fähigkeiten, unsere Kreativität investieren müssen. Wenn wir das tun, wird ein Bild nur so vor Energie strotzen, weil wir uns selbst vollständig in den Entstehungsprozess mit hineingegeben haben. Dann wird es gerade kein technisch perfektes, aber flaches, inhaltsleeres Foto sein – eines von zig Millionen, bei dem eines dem anderen gleicht. Durch meine intensive Beschäftigung mit der philosophischen Seite des Fotografierens habe ich begriffen, dass das ›Schießen‹ ausdrucksstarker Fotos nicht mein eigentliches Ziel ist – es ist nur ein Werkzeug. Statt einfach nur nette Fotos zu produzieren, möchte ich Gefühle und Emotionen erzeugen. Ich möchte beim Betrachter etwas bewirken, ja Menschen sogar dadurch helfen, in der heutigen Zeit zurechtzukommen. Denn wir stehen vor großen Herausforderungen, was die Globalisierung, unsere Umwelt und das Finden der eigenen Identität betrifft.

Jan C. Schlegel bereiste über 70 Länder, darunter viele entlegene Orte, die von der westlichen Welt abgeschnitten sind. Dort porträtierte er Menschen in der Einzigartigkeit ihres kulturellen Umfelds.

An der philosophischen Seite der Fotografie arbeiten nur die wenigsten Künstler. Die gängige Meinung lautet, dass es bei einem guten Fotografen vor allem auf sein Talent ankommt. Diese Meinung teile ich nicht. Der Faktor Talent wird überbewertet – vor allem, wenn man es als etwas Statisches betrachtet, das man entweder hat oder eben nicht. Vielmehr glaube ich, dass man seine Fähigkeiten durch regelmäßiges Üben ausbauen kann. Das hat sehr viel mit Charakter und harter Arbeit zu tun, mit einem Investieren dessen, was man hat – auch wenn es scheinbar wenig ist.

 

So entwickelt man sich weiter. Die treffendste Beschreibung dafür finden wir im Gleichnis der anvertrauten Talente (Matthäus 25, 14 – 30). Übertragen auf die Fotografie heißt das: Bringe deine Fähigkeiten ins Spiel, mache Fotos – viele Fotos – und analysiere sie! So wird deine künstlerische Kompetenz durch jedes einzelne Foto ein klein wenig besser. In all meinen Begegnungen mit großartigen Fotografen habe ich keinen einzigen getroffen, der gesagt hätte: »Es ist einfach so passiert, dass ich ein bedeutender Fotograf geworden bin – durch mein Talent mache ich zwangsläufig gute Fotos.« Nein, sie alle haben eine große Leidenschaft für die Fotografie und sind deshalb bereit, hart zu arbeiten, ihre Komfortzone zu verlassen und sich nicht mit ihrem gegenwärtigen Kompetenzlevel zufrieden zu geben.

Die Schwarz-Weiß-Fotografien nimmt er mit einer 4x5 Zoll-Laufbodenkamera auf traditionellem Film auf. Jeden Abzug koloriert der Fotograf händisch mit einer eigenen chemischen Mixtur. Er verzichtet dabei auf jede digitale Nachbearbeitung.

Das perfekte Foto

Ich schätze technisch perfekte Fotos. Aber bei der Entwicklung meiner Abzüge habe ich festgestellt, dass diese gar nicht perfekt sein müssen. Alle meine Bilder werden nicht nur analog aufgenommen, sondern auch analog in der Dunkelkammer entwickelt – mit all ihrer Schönheit und all ihren Einschränkungen. Digitale Bilder sind natürlich perfekter: Die Haut weist keine Makel auf, weil die Fotos in der Regel bearbeitet und in ihrer Struktur verändert wurden. Auch wenn meine analogen Fotos unbearbeitet sind, muss ich immer wieder darauf achten, dass sie trotzdem nicht zu perfekt wirken. Warum? Weil Perfektion immer einen Endpunkt darstellt. Eine Weiterentwicklung ist dann ausgeschlossen. Was übrig bleibt, ist etwas Lebloses.

 

Vor einiger Zeit nahm ich in Afrika ein Foto auf, das ich ›Biwa und das Krokodil‹ nannte. Darauf sieht man einen Stammeskrieger, der über seiner Schulter ein Krokodil trägt (siehe Foto oben). Das Bild war keine Fotomontage, die Aufnahme war skurril und beängstigend zugleich. Die ›Bernheimer Fine Art Gallery‹ zeigte das Foto auf der ›Paris Photo Convention‹. Es zog die Aufmerksamkeit vieler Fotografen auf sich und gab Anlass zur Diskussion. Mir wurde unterstellt, das Bild per Photoshop manipuliert oder auf andere Weise bearbeitet zu haben. Die Fotografen versuchten sogar, mir mein angebliches Vergehen nachzuweisen. Warum? Weil das Foto einfach zu perfekt war. Die Farbe, die Schärfe, der Kontrast, alles passte zusammen. Die Menschen misstrauten dem Bild und werteten es dadurch ab. Natürlich hatte ich es nicht bearbeitet. Später habe ich es nochmals ausgedruckt, allerdings eine Spur unperfekter als zuvor. Dadurch wurde es »wirkungsvoll«, wie der großartige Fotograf Irving Penn sagen würde. Von Irving Penn habe ich gelernt, dass gerade das Unperfekte das Natürliche ist.

 

Nach dieser Natürlichkeit – und der Authentizität, die damit verbunden ist – streben viele in der Branche. Aber sie versuchen diese durch mühevolles Bearbeiten ihrer Fotos herzustellen, obwohl der Weg zur Natürlichkeit so einfach ist. In der Natur ist nichts ›perfekt‹. Haut hat Falten; Gesichter sind nicht makellos; jedes Blatt sieht anders aus und erhält gerade durch seine Risse und Löcher seine Einzigartigkeit. Genau das gilt auch für das Porträtieren von Menschen. Erst das Unperfekte macht etwas perfekt.