Ruanda 1994: Es herrscht blutiges Chaos. Menschen vom Volk der Tutsi sind ihres Lebens nirgends mehr sicher. Auch die junge Studentin Immaculée Ilibagiza muss vor den Mordbanden der Hutu flüchten. Sie findet Unterschlupf bei einem Pfarrer. Gemeinsam mit anderen Frauen versteckt sie sich in seinem winzigen Badezimmer, dessen Eingang von einem Kleiderschrank verdeckt wird. Immer wieder dringen die Killer auf der Suche nach Opfern in das Haus des Geistlichen ein und immer öfter sucht Immaculée in dieser verzweifelten Lage Trost und Halt in ihren Gebeten zu Gott. Als Immaculée nach drei Monaten endlich ihr Versteck verlassen kann, muss sie erfahren, dass unzählige Tutsi dem Mordwahn zum Opfer gefallen sind, darunter auch ein Großteil ihrer eigenen Familie. Dennoch: Sie lebt – und ist überzeugt: Gott hat sie beschützt! Ihr starker Glaube hilft ihr, das Trauma des Erlebten zu überwinden, den Mördern ihrer Eltern und Brüder zu verzeihen und ein neues Leben zu beginnen. Im Gespräch erinnert sie sich:

Sie gehören der Volksgruppe der Tutsi an. Haben Sie schon als Kind etwas von der Propaganda mitbekommen, die gegen die Tutsi gerichtet war?

Immaculée Ilibagiza: Ich wusste davon, aber es wurde nicht offen darüber gesprochen. Wenn man sich als Tutsi dazu äußerte, konnte das bereits den Tod bedeuten, weil es als eine regierungsfeindliche Haltung betrachtet wurde. Man sprach daher nicht offen über die eigenen Gefühle. Bis zur vierten Klasse wusste ich nicht einmal, zu welchem Stamm ich gehörte. Es wurde zwar von Auseinandersetzungen berichtet, bei denen auch Menschen ums Leben gekommen waren, aber wenn man das selbst nicht erlebt hat, kann man es kaum glauben.

Wie alt waren Sie, als der Völkermord begann?

23. Aber bereits mit 18 oder 19 Jahren bekam ich mit, dass sich die Dinge zum Schlechteren entwickelten. Im regierungsnahen Radiosender benahmen sich die Moderatoren, als seien sie betrunken. Wir hörten Sätze wie: »Eines Tages bringen wir sie um.« Oder: »Tutsis sind gar keine Menschen, sie haben Schwänze und Hörner.« Aber niemand steuerte dagegen. Ich weiß noch, dass ich dachte: In Ruanda begegnen sich die Menschen doch eigentlich liebevoll, man ist höflich, hat gute Manieren. Selbst Schimpfworte hört man selten. Aber plötzlich schlagen die Leute über die Stränge. Wie kommt es, dass Menschen eines Tages damit anfangen, andere umzubringen? Wie kann man überhaupt einen Menschen umbringen? Das war alles sehr verwirrend.

Ihr Vater kannte einen Hutu-Pastor, der Sie und sieben weitere Frauen während des Völkermordes in einem kleinen Badezimmer versteckte. Was haben Sie in dieser Zeit empfunden?

Zunächst: Ich bin in einem katholischen Elternhaus aufgewachsen. Meine Eltern nahmen ihren Glauben sehr ernst und haben auch uns Kinder das Beten gelehrt. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Während des gesamten Völkermordes habe ich eigentlich nur gebetet.

Und vorher?

Vorher verlief mein Leben sehr unkompliziert. Damals habe ich mich gefragt, ob Gott überhaupt existiert. Das änderte sich schlagartig, als ich mich in dem Versteck befand. Ich fing an zu beten, vergaß dann aber aufgrund der großen Angst, was ich eigentlich sagen wollte. Ich begann: »Vater unser im Himmel ...«
– plötzlich schoss mir durch den Kopf: »Gleich kommen sie, sie werden uns umbringen, ich sterbe!« Dann spürte ich plötzlich, dass Gott da war. In dem Moment begann ich meine Gebete laut zu formulieren. Das
war das Einzige, was ich tun konnte.

Mit welchen Gedanken haben Sie sich darüber hinaus beschäftigt?

Neben der Angst vor den Hutus empfand ich große Wut. Ich wünschte mir, in einem anderen Land geboren worden zu sein. Ein anderer Teil in mir dachte: Ich werde das alles rächen. Rache – das bedeutete für mich, Bomben auf das ganze Land zu werfen. Der Gedanke, dass ich damit falsch liegen könnte, kam mir gar nicht. Diese Rachegedanken haben sich in mir so festgesetzt, dass sie bei mir körperliche Schmerzen verursachten: Ich hatte Kopf- und Magenschmerzen, und das Blut rauschte in meinen Ohren. Rache, Wut, Gedanken des Hasses wurden für mich zur Besessenheit. Es war wie eine Krankheit, die vollständig von mir Besitz ergriffen hatte.

Durch Ihre katholische Erziehung haben Sie als Kind das Beten mit dem Rosenkranz erlernt. Wie hat Ihnen diese Gebetsform geholfen vergeben zu können?

Beim Rosenkranz betet man innerhalb von 20 Minuten sechsmal das Vaterunser. Dieser wiederkehrende Rhythmus hat mir geholfen. Denn so war ich für 20 Minuten ganz auf das Beten konzentriert. Auch die vorgegebenen Worte des Vaterunsers hatten eine enorme Wirkung. Wir alle wissen, dass es in dem Gebet u.a. heißt »Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.« Diese Worte konnte ich nicht über meine Lippen bringen. Ich wollte sie am liebsten aus dem Gebet entfernen. Natürlich war mir klar, dass das Vaterunser von Jesus selbst stammt. Er wird sich dabei schon etwas gedacht haben. In meinem Versteck rang ich mit der Frage: »Wenn Jesus das von mir verlangt, muss es doch auch einen Weg geben, wie Vergebung möglich ist, sonst würde er das doch nicht verlangen.« Und so konnte ich nicht anders, als Gott auf Knien zu bitten: »Hilf mir. Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Was soll ich jetzt bitteschön tun?«

Und an diesem Punkt begann die Vergebung. Ich hörte in mir eine Art Stimme: »Bete mit ganzem Herzen, sprich jedes Wort ganz bewusst aus. Wenn du das tust, wird die böse Stimme verstummen.« Und so habe ich dann gebetet. Es begann sich langsam etwas in mir zu lösen.

Aber die Gefahr war noch nicht vorüber.

Richtig. In unserem Versteck im Badezimmer verging kein Tag, an dem wir nicht voller Angst auf die Hutu warteten. Jeden Tag kamen sie, hielten sich draußen vor dem Fenster auf und gingen dann wieder. Jeder Tag fühlte sich an wie Tod und Auferstehung zugleich. Und dann kam ein Moment, in dem es mich wie ein Blitzschlag traf. Zum Rosenkranzgebet gehört auch das Nachdenken über Jesu Tod am Kreuz und seine Worte: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« Es war, als würde Jesus sagen: »Deine Peiniger verstehen im Tiefsten nicht, was sie tun.«

Was geschah in diesem Moment mit Ihrer Wut?

Sie war plötzlich fort. Es war, als sei eine neue Zeit angebrochen. Als könnte ich das Badezimmer verlassen. Ich fühlte mich leicht und glücklich. Die Wut und Bitterkeit, in denen ich so lange gefangen war, wichen der Freude. Ich wusste: Selbst, wenn ich sterben sollte, bin ich mir sicher, dass es den Himmel, dass es einen besseren Ort gibt. Und auch wenn meine Familie tot war, waren sie an einem besseren Ort als ich hier auf der Erde. Aber ich begriff auch: Obwohl meine Unterdrücker mir und vielen anderen im Land viel Leid zufügen, begegne ich ihnen mit demselben Hass, den sie auch mir entgegenbringen. Ich wollte die ganze Zeit, dass sie denselben Schmerz fühlen, den auch ich fühlen musste. Ich erkannte mein eigenes Fehlverhalten.

War ab dem Moment dieser ›Schalter‹ für immer umgelegt?

 Nein. Das ist ein tägliches Einüben. Wenn ich merke, dass meine Wut mir den Frieden raubt, bitte ich Gott um Hilfe. Aus Erfahrung weiß ich, dass der Zustand des inneren Friedens möglich ist. Dass ich nicht so reagieren muss, wie mein Impuls es von mir verlangt.

Nach dem Bürgerkrieg haben Sie den Mann getroffen, der Ihre Familie tötete. Weshalb wollten Sie ihm begegnen?

Ich habe ihn im Gefängnis besucht, weil ich Angst hatte, die Wut würde zurückkommen und meine Vergebung wäre nicht echt. Der Gefängnisdirektor war ein Freund meines Vaters. Er brachte den Mann zu mir. Ich brach in Tränen aus, weil ich plötzlich so großes Mitleid für ihn empfand: Dieser Mann – ein Hutu – hatte Kinder, eine Familie, einen guten Job. Ja, er war sogar ein entfernter Freund der Familie gewesen. Bei diesen Morden zeigte sich, welch große Macht das Böse, der Neid, der Hass über Menschen haben kann. Als er hereinkam, stand sein Haar wirr vom Kopf ab. Er war in einer schlechten Verfassung. Ich bin so froh, dass ich meinen Vater nie in diesem Zustand sehen musste. Als der Gefangene vor mir stand, schien Jesus mir zu sagen: »Das genau meinte ich mit: ›Sie wissen nicht, was sie tun.‹ Denn wer wünscht sich, in solch einer Verfassung und an solch einem Ort zu sein?« Das trifft übrigens auch auf uns heute zu: Wir selbst können kaum nachempfinden, was es für einen anderen bedeutet, wenn wir ihn oder sie verletzen oder unfair behandeln. Ich sagte diesem Mann dann, dass ich ihm vergebe. Es war mir sehr wichtig, ihm den Gedanken zu nehmen, ich sei wütend auf ihn.

Hat diese Begegnung Sie in die Lage versetzt, andere in ihrer Vergebungsbereitschaft zu unterstützen?

Es hat sicher dazu beigetragen. In Ruanda hörte ich häufig: »Ich kann den Tätern nicht vergeben – das sind doch Monster!« Andere waren wütend, weinten und erwarteten Hilfe von den Tätern. Sie fragten mich: »Warum bist du nicht so von Rache besessen wie wir? Warum bist du nicht wütend? Wie hast du Frieden gefunden?« Einige vermuteten, dass meine Vergebungsbereitschaft nur ein Überlebensmechanismus sei.

Durch die Gerichtsverfahren wurden Menschen zur Rechenschaft gezogen, anderen wurde der Weg zur Vergebung eröffnet. Welche Auswirkungen hatte das auf das Land?

Ich bin wirklich stolz auf unser Land. Vor einiger Zeit fanden Wahlen statt – und alles blieb friedlich. In Ruanda möchte niemand diese Gräueltaten auch nur ansatzweise noch einmal durchleben. Unsere Schülerzahlen sind um das 20-fache gestiegen. Es herrscht Frieden, Frauen sind in der Regierung vertreten – niemand möchte das mehr aufs Spiel setzen. Wenn ein Land gut geführt wird, hat das Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft.

Übersetzung: Antje Gerner