Vor zwei Jahren hat Bill Hybels im Rahmen des Leadership Summit überraschend offen darüber gesprochen, wie die Willow-Gemeindeleitung die Nachfolgeregelung ihres Hauptpastors handhaben wird. Hier spricht der 63-Jährige über den aktuellen Stand sowie Fragen, die für jede Gemeinde bei einem Pastorenwechsel wichtig sind.

Bill, jede Gemeinde oder Organisation muss sich früher oder später Gedanken über die Nachfolgeregelung für ihren Pastor oder ihre Führungsperson machen. Auch die Willow-Gemeinde steckt gerade in diesem Prozess.

B  Ja – wir befinden uns in einer spannenden Phase. Ich muss das so deutlich sagen: In einer kleinen Gemeinde oder Organisation kann der Pastor oder Chef ohne größere Probleme ausgetauscht werden. Man gefährdet damit nicht gleich die Zukunft der Gemeinde oder Organisation. Aber wenn man eine bestimmte Größe erreicht hat, gibt es immer weniger Personen, die in der Lage sind, sie ordentlich zu führen. Deshalb ist es wichtig, sich sehr früh über die Nachfolgeregelung Gedanken zu machen.

 

Wer stößt diesen Prozess an?

B  Leider läuft es oft so, dass ein mutiges Vorstandsmitglied aus der Deckung kommt und sagt: »Fred, du wirst bald achtzig – wir sollten über deine Nachfolge sprechen.« Oder ein Pastor spürt, dass er müde wird und den Ältesten sagt: »Ich halte das nicht mehr durch und höre in ein paar Monaten auf.« Zweierlei sollte bedacht werden. Erstens die Amtszeit: Wie lange hat jemand die Gemeinde oder Organisation bereits geleitet? Wenn das 20, 25 Jahre sind, sollte man – auch, wenn alles gut läuft und die Person noch verhältnismäßig jung ist – beginnen, über die Nachfolge zu sprechen. Das schuldet man der Organisation. Zweitens: das Alter und der Gesundheitszustand. Auch wenn viele mit Anfang sechzig noch eine ganze Menge Energie haben: Eine Gemeinde verlangt ihren Führungspersonen viel mehr ab als früher. Das darf man nicht unterschätzen.

 

In der Willow-Gemeinde habt ihr bereits vor einigen Jahren begonnen, über dieses Thema zu sprechen. Wie beginnt man den Prozess?

B  Mit der Planungsphase. In der sollte man so unemotional wie möglich bei einer Tasse Kaffee miteinander sprechen. Diese Phase kann sechs Monate oder auch zwei Jahre dauern – da gibt’s keinen Stichtag. Man spricht einfach über die Zukunft der Gemeinde oder Organisation. Das Vorstandsmitglied fragt dabei den Pastor nicht: »Fühlst du dich amtsmüde?«, sondern stattdessen: »Du hast die Gemeinde schon recht lange geleitet. Lass uns heute einfach nur über ihre Zukunft sprechen: Wie finden wir gemeinsam heraus, wer in der Zukunft die nächste Etappe anführen soll?« Dieses Gespräch sollte frei von versteckten Agenden sein. Es ist nur der Anfang eines Prozesses. Nach jedem Gespräch wird entschieden, wann das nächste stattfinden soll. So halten wir es auch bei den Treffen, in denen es um meine Nachfolge geht. Wenn mich in den Gesprächen etwas aufgewühlt hat und ich das Gefühl habe, das mit meiner Familie oder einem kompetenten Berater besprechen zu müssen, sage ich offen: »Können wir ein paar Monate warten, bis ich mehr Klarheit habe?«

 

Das heißt, der Vorstand gibt den Takt an? 

B  Wer die Führung bei der Nachfolgeregelung übernimmt, ist eine wichtige Frage, die man klären muss. Ist es der bisherige Pastor oder der Vorstandsvorsitzende? Es geht ja um mehr als nur die Festlegung eines Abschiedsdatums. Man muss sich einigen, wie viel Einfluss der Vorstand hat, wer entscheidet, welche Person anschließend an Bord kommt, und welche Rolle der leitende Pastor nach seinem Ruhestand einnimmt. Kein Wunder, dass sich diese Planungsphase über mehrere Jahre erstrecken kann. Zur Klärung gehört auch, wo die Suche nach einem Nachfolger beginnt – in den eigenen Reihen oder extern. Und in welcher Zeitspanne das geschehen soll. Wenn dann die geeignete Person gefunden wurde, erfolgt die Staffelübergabe. Und dann wird der »alte Mann« auf die Eisscholle gesetzt und aufs offene Meer hinaus­befördert. Das ist nun mal der Lauf der Dinge.

 

Das ist die sachliche Seite. Oft sind mit einem möglichen Abschied auch viele Emotionen verbunden.

B  Jeder kennt vermutlich einen Pastor oder eine Führungs­persönlichkeit, die den richtigen Zeitpunkt des Absprungs verpasst hat. Warum bleibt eine gute Führungsperson oft zu lange im Amt? Die Standardantwort: Macht und Ego! Meiner Meinung nach ist das selten der Fall. Es hat oft mit seiner oder ihrer Identität zu tun. Wer 30, 40 Jahre eine Organisation oder Gemeinde geleitet hat und sich dem Ende der Amtszeit nähert, kennt nichts anderes als die Leitung dieser Organisation. So jemand stellt sich dann die Frage: »Wer bin ich überhaupt, wenn ich nicht mehr Führungs­person dieser Organisation bin? Alle meine Freunde sind hier. Ich habe mein Selbstwertgefühl aus den Leistungen der Organisation bezogen. In dem Moment, in dem ich mein Büro verlasse, falle ich in einen Identitätsabgrund.« Wenn man sein Leben lang nichts anderes gemacht hat, als Pastor zu sein und die Lebensuhr langsam abläuft, da kann ich schon verstehen, dass so jemand sagt: »Ich habe keine Ahnung, wer ich bin, wenn ich nicht mehr leiten darf.« Deshalb halten viele zu lange am Amt fest.

 

Wie geht es dir mit dieser Frage?

B  Das war richtig schwer. Ich musste tiefer in mein Innerstes schauen als je zuvor. Bevor man sich mit dem Thema Nachfolgeregelung beschäftigt, denkt man: »Wenn ich hier fertig bin, reise ich vielleicht um die Welt.« Oder man kommt auf andere ausgefallene Ideen. Wenn der Termin aber tatsächlich näher rückt, fragt man sich: »Will ich wirklich den Rest meines Lebens reisen? Ein, zwei Wochen sind ja ganz nett. Aber meistens hab ich doch schon nach zwei Wochen Heimweh.« Je näher der Tag des Rücktritts kommt, desto mehr muss man sich fragen: »Was würde mich wirklich befriedigen, wenn Gott mir noch 15, 20 Jahre schenkt?« Zwei Jahre habe ich über diese Frage gebrütet und mir ist klar geworden, dass ich weder herumreisender Kongress-Redner ohne Bodenhaftung, noch Profi-Segler sein will. Rumgammeln will ich auch nicht. Ich will vielmehr einer Gemeinde dabei helfen, das Vor­bild aus Apostelgeschichte 2 zu erreichen. Das wird auf keinen Fall in oder um Chicago sein. Das ist klar. Ich muss auch nicht mehr leitender Pastor sein, sondern einfach Teil eines Teams. 

 

In einigen Gemeindesituationen spielen auch finanzielle Gründe eine Rolle, dass ein Pastor nicht zurücktreten will. Wie offen sollten der Pastor und der Vorstand darüber sprechen?

B  Das gehört vermutlich zu den schwierigsten Gesprächen, wenn es um Nachfolgeregelungen geht. In der Geschäftswelt bekommt man einen goldenen Fallschirm. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Vorstand sagt: »Du hast hier viele Jahre Großartiges geleistet. Wir geben dir zum Abschied diese stattliche Summe.« Bei Pas­toren sieht das anders aus. Da gibt es eine ganze Reihe, die in ihren ersten Jahren schlecht bezahlt wurden und wenig für ihren Ruhestand tun konnten – und auch die Gemeinde sich nicht daran beteiligt hat. Dennoch sind diese Hauptamtlichen mit aufopferungs­vollem Beispiel vorangegangen. Wenn dann der Ruhestand vor der Tür steht, weiß niemand, wie angemessener Respekt aussieht. Die Bibel klammert dieses Thema nicht aus. In 1. Timotheus 5 steht, dass Gottes Diener doppelte Ehre verdienen. Was das konkret für den Pastor, Vorstand und die Gemeinde bedeutet – das sind interessante Gespräche. Aber sie müssen offen geführt werden.

 

Sollte der ehemalige Pastor die Gemeinde verlassen oder kann er Teil der Gemeinschaft bleiben? 

B  Da gibt es ganz viele Konstellationen. Einige sind der Meinung, dass der Pastor oder die bisherige Führungsperson am Tag der Amtsübergabe die Gemeinde für immer verlassen sollte, um dem Nachfolger den nötigen Freiraum zu geben. Andere sind überzeugt, das ein Jahr Auszeit reicht. Dann kann er oder sie zurückkommen. Viele entscheiden sich für eine Art Emeritus-Status. Das heißt, mit der ehemaligen Leitungsfigur wird für die Zeit nach dem Rücktritt eine klar definierte Rolle in der Gemeinde oder Organisation abgesprochen. Die aber außerhalb von jedweden Leitungsgremien ist. Wir haben beschlossen, dass ich zwölf Monate lang den Sonntagsgottesdiensten fernbleibe. Danach kann ich als ehrenamtlicher Mitarbeiter zurückkommen – vorausgesetzt, ich kehre in die Gegend zurück.

 

Worauf achtete Willow bei der Auswahl des Nachfolgers? Du sprichst oft von vier zentralen Kategorien: Charakter, Kompetenz, Chemie und die Übereinstimmung der „Kultur“.

 Wir suchen nach der vierten Person der Dreieinigkeit.

 

Und – schon fündig geworden?

 Wir haben zunächst die Aufgabenbeschreibung präzise formu­liert. Er soll begeisternd predigen können, eine erstklassige Führungspersönlichkeit sein, sensibel und zugleich direkt das Thema Finanzen vor der Gemeinde ansprechen können, und mit einem komplexen Mitarbeiterstab klarkommen. Wenn man sich die Liste anschaut, fragt man sich: wie viele Menschen können das erfüllen? Uns wurde klar, dass der Nachfolger ganz anders sein wird als sein Vorgänger. Das ist auch in Ordnung. Die entscheidende Frage ist: Besitzt die Person die für uns richtigen Werte?
In unserem internen Auswahlverfahren – wir schauen zuerst in den eigenen Reihen nach einem Kandidaten – stellen wir uns auch die Frage, ob es klüger ist, die Aufgabenbeschreibung der Person anzupassen als andersherum. Wir haben viele starke Führungskräfte in unseren Reihen, so dass für uns ein guter Prediger sinnvoller ist, als eine weitere Top-Führungsperson. In einer anderen Gemeinde kann das genaue Gegenteil der Fall sein. 

 

Was ist für dich die wichtigste Eigenschaft, die ein Pastor haben sollte?

 Zwei Dinge fallen mir ein. Das erste: Er sollte in seinem geistlichen Leben authentisch sein. Wenn die Gemeinde ihren Pastor anschaut und sich fragt: »Lässt er oder sie sich überhaupt von Gott leiten?« – dann ist das ein Riesenproblem. Egal, ob man eine Führungspersönlichkeit sein will oder nicht – man muss als Nachfolger von Jesus ihm auch im Alltag nachfolgen. Man muss darin wachsen wollen, spirituell lebendig sein. Genauso wichtig ist die Frage, die ich gerade mit meinem möglichen Nachfolger bespreche: »Kann diese Person unsere Gemeinde wirklich lieben?« Auch das muss im Vorfeld völlig klar sein. Es ist doch so: Was Gott auf dieser Welt am wichtigsten ist, sind die Menschen. Deshalb sollte man den zukünftigen Gemeindeleiter fragen: »Ist dir klar, dass diese Menschen Gottes größter Schatz sind? Werden sie dir genauso wichtig sein? Wirst du deine Predigten nach dem Wohlbefinden dieser Menschen ausrichten, die dir anvertraut sind? Wirst du mit ihnen beten und reden? Wirst du auf ihre E-Mails antworten?« In diesem Punkt ist unsere Messlatte sehr hoch. Wenn diese Liebe nicht vorhanden ist, macht es keinen Sinn.

 

Uns wurde klar, dass der Nachfolger ganz anders sein wird als sein Vorgänger. Das ist auch in Ordnung. Die entscheidende Frage ist: Besitzt die Person die für uns richtigen Werte?

 Vor ein paar Jahren hat ein Redner beim Leadership Summit über das Risiko gesprochen, »Stars« zu verpflichten. Er sagte: 70 Prozent dieser externen Top-Führungspersonen haben im neuen Unternehmen keinen Erfolg. Wie denkst du darüber? 

B  Als erstes würde ich immer nach einem internen Kandidaten schauen. Dabei ist es mir egal, wie gut man einen externen Kandidaten zu kennen meint. Ihr wahres Gesicht zeigt er oder sie erst, wenn die Person ein, zwei Jahre mitgearbeitet hat. Erst dann fallen einem all diese entscheidenden Kleinigkeiten auf. Einige der Kandi­daten, die wir uns bei Willow vorstellen können, kenne ich persönlich. Wir haben viele Jahre eng zusammengearbeitet. Ich weiß, wer sie sind. Mir ist es viel lieber, jemanden der Gemeinde zu präsentieren, den ich aus eigener Erfahrung kenne, als jemanden, der aus der Entfernung gut zu passen scheint, dann aber doch negative Überraschungen in sich birgt.
Sicher: Manchmal stellt die Position so hohe Anforderungen, dass sich kein interner Kandidat finden lässt. Dann muss man natürlich jemanden von außerhalb holen. Ashish Nanda, der von dir erwähnte Sprecher, hat aber folgenden guten Rat: »Schauen Sie genau auf die Umstände, die die Person in ihrem bisherigen Umfeld so erfolgreich gemacht hat.«
Man sollte sich dann ehrlich fragen: »Sind diese Umstände, diese Rahmenbedingungen, bei uns vergleichbar? Passt unser Team genauso gut zu ihm, sodass er oder sie hier genauso gute Arbeit leisten kann?« Wir haben uns bei Willow übrigens für eine risikoreiche Variante entschieden. Wir werden sehr transparent sein, was die Nachfolge angeht. Das habe ich auch den Ältesten gesagt. Es soll nichts im geheimen Kämmerlein ablaufen.

 

Wissen die internen Kandidaten, dass sie zur engeren Wahl gehören und im Hinblick auf deine Nachfolge beurteilt werden?

 Wir haben in unserem erweiterten Leitungsteam gesagt: »Wenn ihr mit uns darüber sprechen wollt, ob ihr als Nachfolger in Frage kommt, sprecht mich an.« Einige haben das Angebot wahrgenommen und von denen stehen auch einige zur Disposition. Ich wollte das Signal geben, dass wir offen damit umgehen – und auch niemanden übersehen.

 

Wie lange dauert der gesamte Prozess – vom ersten Gespräch bis zu dem Zeitpunkt, wo ihr sagt: Jetzt haben wir die Lösung.

 Ich würde mindestens fünf Jahre veranschlagen, eher sogar sieben. Frühzeitig anzufangen ist also wichtig. Wenn jemand 72 Jahre alt ist und die Gesundheit versagt, kann das nur schief gehen – und eine ganze Gemeinde oder Organisation in Gefahr bringen. Ich bin dankbar, dass wir auf Kurs sind. Dennoch: So ein Prozess kann immer auch durch Unvorhergesehenes auseinanderfallen. Es ist also noch zu früh, um schon zu feiern.