Danielle Strickland stammt aus Toronto, hat sich wäh­rend ihres mehrmonatigen Aufenthaltes in einer Jugendhaftanstalt bekehrt und wurde Mitglied der Heilsarmee. In einigen der ärmsten Städte Kanadas hat sie Gemeinden gegründet und eine Anlaufstelle für den Kampf gegen Menschenhandel geleitet. Jetzt lebt sie in Los Angeles, wo sie sich um Menschen am Rande der Gesellschaft kümmert. Im Interview spricht die Leitungskongress-­Referentin über das notwendige soziale Engagement von Gemeinden – und ihre Unzufriedenheit über die Stellung der Frau in der Gemeinde.

Woher kommt deine Leidenschaft für soziales Engagement?

Danielle Strickland: In Afrika habe ich Menschen verhungern sehen. Aber auch in der westlichen Gesellschaft gibt es große Armut: In Vancouver zum Beispiel leben Menschen zu Wuchermieten in heruntergekommenen Ein-Zimmer-Appartements, in denen die Duschen nicht funktionieren und nicht einmal eine Küchenzeile vorhanden ist. Dort habe ich eine Gemeinde gegründet und versucht, Ungerechtigkeit zu beseitigen. Das war ein echter Knochenjob, und mir wurde schnell klar, dass sich dafür das System verändern muss.

Wie haben die Menschen dort auf dich reagiert?

Ich habe in Bordellen mit Dominas gebetet, während im Hintergrund einschlägige Videos liefen. Auch diese Frauen suchen nach Gott, nach jemandem, dem sie etwas bedeuten und der ihren richtigen Namen kennt. Wir gehen wie selbstverständlich davon aus, dass sie mit dem Glauben nichts zu tun haben wollen. Aber das stimmt nicht. Wir bemühen uns nur nicht ausreichend um sie. Prostitution bedeutet systematische Unterdrückung. Die meisten Frauen sind arm und könnten mit »normalen« Jobs noch nicht einmal die Miete bezahlen. Ohne festen Wohnsitz nimmt man ihnen aber ihre Kinder weg. So sichert die Prostitution ihr Überleben. Aber niemand kümmert sich um sie oder bemüht sich darum, das System zu verändern.

Was hält Christen denn davon ab, sich für soziale Gerechtigkeit zu engagieren?

Wir lieben unsere Bequemlichkeit. Und so hat Gemeinde jene Viertel verlassen, in denen sie am dringendsten gebraucht würde. Es ist immer einfacher, über Spiritualität zu predigen als über Sozialreformen, denn dafür müssten wir ganz anders leben. Aber das Evangelium ist nun einmal auch unbequem. Manche Evangelisten sehen den Einsatz für soziale Gerechtigkeit als feige Art, das Evangelium zu leben. Diejenigen, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, werfen ihnen wiederum Heuchelei vor. Aber wir brauchen beides: Verkündigung des Evangeliums und soziales Engagement.

Wohin führt es, wenn nur eine Seite betont wird?

Für viele ist Evangelisation einfach nur eine geistliche Entscheidung, die jemand trifft, und mit dem Rest des Lebens nichts zu tun hat. Das führt zu einer nur oberflächlichen Bekehrung: Man nimmt an, was man gehört hat, aber auf den Lebensstil wirkt es sich nicht aus. In den letzten zehn Jahren hat allerdings ein Umdenken stattgefunden. Soziale Ungerechtigkeit ist ins Bewusstsein gelangt, man denkt wieder darüber nach, was Christsein überhaupt bedeutet. Da das weltweit zu beobachten ist, muss es auf Gottes Prioritätenliste wohl ganz oben stehen.

Es ist okay für mich die »Quoten­frau« zu sein, wenn es mithilft, andere Frauen aus der Enge zu befreien.

Was können Gemeinden tun, um sich außerhalb der eigenen vier Wände mehr zu engagieren?

Ein Gebetsspaziergang ist ein guter Anfang. Lernen Sie Ihre Nachbarn kennen! Soziale Ungerechtigkeit gibt es überall. Gott wird zeigen, wie damit umzugehen ist. Schauen Sie sich an, wie Jesus gelebt hat. Fragen Sie sich, ob Sie ihm auch beim Thema soziale Gerechtigkeit konsequent nachfolgen.

Natürlich ist Nähe wichtig. Evangelisation und soziales Engagement funktionieren nicht aus der Distanz. Irgendwo muss es zu persönlichen Begegnungen kommen – arme Menschen können nicht einfach umziehen. Also müssen wir zu ihnen gehen.

Um das Evangelium ganzheitlich zu vermitteln?

Genau. William Booth, der Gründer der Heils­armee, hat einmal gesagt, dass sich nicht nur die äußeren Zustände wie Ungerechtigkeit und Ausbeutung verändern müssen, sondern auch der Charakter. Man kann einen Menschen aus einem Slum holen, aber man muss auch den Slum aus dem Menschen holen. Das geht nur durch den Heiligen Geist.

Wie kamst du als weibliche Leitungsperson in den verschiedenen Projekten zurecht?

Bei unserer ersten Stelle mussten wir mit verschiedenen Gemeinden zusammenarbeiten. Theologisch waren wir uns nicht immer einig, aber eines wussten wir: Gott will Menschen retten. Also schauten wir nicht auf uns, sondern auf die Aufgabe. Ein Nichtchrist oder ein Mensch, der in Unterdrückung lebt, interessiert sich nicht für unsere theologischen Spitzfindigkeiten; diese Menschen brauchen Hoffnung, Leben und Wahrheit.

Diese Sichtweise teilen nicht alle Gemeinden.

Leider. In der Gemeinde wird aber jede Hand gebraucht. Ich bin überzeugt: Die verschiedenen Gaben und Fähigkeiten, die jeder und jede hat, werden von Gott nicht nach Geschlecht verteilt. Er verteilt sie großzügig. Man muss sich mal vorstellen: Mindestens 50 % der Gemeindemitglieder sind Frauen. Welche Armee lässt schon die Hälfte ihrer Truppen in der Kaserne? Manche Frauen hat das frustriert, manche geschwächt. Auch ich fühle mich manchmal wie die »Quotenfrau«, aber das ist okay für mich, wenn es mithilft, zumindest einige Frauen aus dieser Enge zu befreien.

Was muss denn geschehen, damit es in diesem Bereich zu einer Veränderung kommt?

Ich wünschte mir eine komplette »Mobilmachung«, die Begabung und konsequentes Engagement in den Mittelpunkt stellt. Dafür müssen wir einfach nur unsere Liebe zu Jesus wieder­entdecken und anfangen, seiner Stimme zu gehorchen. Wenn wir tatsächlich in den Kampf ziehen müssten, würden wir nicht mehr über die Frauenfrage diskutieren. Wir würden nicht mehr schauen, wer neben uns steht, sondern würden vorwärtsstürmen – ungeachtet der Hautfarbe oder des Geschlechts des Menschen an unserer Seite. Solche Diskussionen sind »Probleme« für Friedenszeiten. Wenn du in den Kampf ziehst, spielen sie keine Rolle mehr.