Es gibt Dinge, die lernt man nicht auf der Schulbank, sondern mitten im Leben. Manchmal auf die sanfte, mitunter aber auch auf die harte Tour. Das vergangene Jahr gehört für Willow Creek definitiv zur zweiten Kategorie.

Als Bewegung, die das Thema >Leiten< groß auf ihre Fahnen geschrieben hat, sahen wir uns plötzlich einer bedrohlichen Lage gegenüber, die sich zu einer ernsthaften Krise auswuchs. Ein Albtraum, aus dem man am liebsten am nächsten Morgen aufgewacht wäre. Doch nicht alles lässt sich in einen bösen Traum verbannen. Manchmal ist die Wirklichkeit selbst schon einer – vor allem, wenn man mit bestimmten Fragestellungen nicht rechnet, die plötzlich wie aus dem Nichts vor einem stehen: Was bleibt, wenn begabte Leitungspersonen straucheln? Was trägt, wenn Leitungsstrukturen versagen? Wie gelingt Vergangenheitsbewältigung und Versöhnung angesichts tiefer Gräben?
 
Es ist nicht nötig, die Ereignisse des vergangenen Jahres um die Willow Creek-Gemeinde, ihren Hauptpastor Bill Hybels und die Ältesten der Gemeinde hier erneut auszubreiten. Darüber ist viel gesagt und geschrieben worden. Die Vorgänge sowie Verlautbarungen wurden veröffentlicht – auch der Abschlussbericht des unabhängigen Untersuchungsgremiums liegt vor und kann in ungekürzter, übersetzter Fassung auf unserer Webseite eingesehen werden.

Als Vorstand von Willow Creek Deutschland stellen wir uns zu dem Untersuchungsergebnis und sind dankbar, dass die Leitungskrise in der Willow Creek-Gemeinde sorgfältig, differenziert und fair dargestellt wurde. Wir hoffen und beten, dass der Bericht dem Willow Creek-Gründer Bill Hybels eine Chance bietet, Fehlverhalten zu reflektieren und Versöhnung mit jenen Frauen und Männern zu suchen, die durch Machtmissbrauch und Grenzüberschreitungen verletzt wurden. Nach wie vor gibt es hier unterschiedliche Sichtweisen und eine Verständigung scheint noch in weiter Ferne. Aber die neu gewählte Gemeindeleitung ist mit allen Seiten im Gespräch – auch mit Bill Hybels.

Der Bericht bestätigt uns in unserem Auftrag, das Thema Leitung mehr denn je als strategisch wichtige Aufgabe in Kirche und Gesellschaft zu fördern. Dabei werden wir uns verstärkt auch den neu aufgebrochenen Fragen stellen, die Willows Krise offenbart hat. Die Ereignisse des zurückliegenden Jahres haben uns wichtige Lektionen zum Leitungsthema gelehrt:

 

Achtung und Freundschaft dürfen Rechenschaft und Feedback nicht ausschließen

Das Thema mit der besten Bewertung beim Leitungskongress 2016 lautete: >Schwierige Gespräche führen<. Den meisten Teilnehmern standen Beispiele aus eigener Erfahrung vor Augen: Gespräche, die eigentlich geführt werden müssten, aber unterblieben, weil sie einer Konfrontation ausweichen wollten – oder weil sie aus Sympathie und Freundschaft zu große Rücksicht nahmen. In der Willow Creek-Gemeinde führte dieser Mechanismus dazu, dass die Gemeinde-Ältesten als Gegenüber zum Pastor in mancher Hinsicht wirkungslos blieben und als Leitungsstruktur, der er Rechenschaft schuldete, ausfielen. Eine Situation, die in jeder Gemeinde Konfliktpotenzial in sich trägt und die Hauptamtliche ebenso betrifft wie Älteste, begabte Mitarbeitende und einflussreiche Spender. Wird Einfluss und Stärke nicht von einer funktionierenden Rechenschaftsstruktur umgeben, können sie sich schnell verselbstständigen – und notwendige, schwierige Gespräche bleiben aus. Uns ist bewusst geworden, welch große Bedeutung der Verantwortungsstruktur zukommt, in die ein Leiter oder eine Leiterin eingebettet ist.

Auch unbequeme Themen müssen offen angesprochen werden

Immer wieder wurden wir im Verlauf des vergangenen Jahres auf Themenfelder aufmerksam, die sich aus den Ereignissen entwickelten; z.B.:

  • Die Spannung zwischen Macht als notwendigem Führungsinstrument und deren Missbrauch
  • Die Licht- und Schattenseiten von Leitung und Charisma
  • Leitungsstrukturen, die Verantwortung autorisiert einfordern und zugleich Gestaltungsspielraum gewähren

 

Aufgrund der Erfahrungen im vergangenen Jahr sehen wir es als unseren besonderen Auftrag, auch die Aspekte von Leitung zur Sprache zu bringen, die gravierende Schäden verursachen, wenn sie außer Acht gelassen oder fehlgeleitet werden. Dazu zählen neben Macht und Sex auch Betrug, Drogen, (häusliche) Gewalt, Vorteilsnahme, Rechthaberei, Extremismus, Lüge, Geltungssucht, Manipulation … Diese Schattenseiten sollen keinen neuen Fokus unserer Arbeit bilden, es soll aber das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass es diese Dinge im Leitungskontext gibt und dass darauf angemessen reagiert werden muss.

Nicht pauschalieren, sondern differenzieren

Wie schon in der Stellungnahme des Vorstands von Willow Creek Deutschland zum Untersuchungsbericht erwähnt, bekräftigen wir: Jeder gewinnt, wenn Leitende besser werden! Oder wie es der Geschäftsführer von Willow Creek Schweiz, Stefan Gerber, ausdrückte: "Leitungsförderung – jetzt erst recht! Die Alternative zu fehlender Leitung ist nicht keine Leitung, sondern reife Leitung." Auch wenn der Hinweis auf das Gute den Missbrauch von Macht und sexueller Grenzüberschreitung nicht entschuldigen kann, anerkennen wir weiterhin die gute und wirkungsvoll ausstrahlende Arbeit, die unter der Leitung von Bill Hybels durch die Willow Creek-Gemeinde sowie durch das weltweite Netzwerk der Willow Creek Association gewachsen ist. Gute Werte und Prinzipien bleiben gut. Auch wenn ihre Anwendung Schattenseiten und Fehlverhalten offenbart hat. Es gilt Fehlverhalten und Schuld zu benennen, zu klären und zu bereinigen – und zugleich das Gute dankbar festzuhalten und weiterzuentwickeln.

 

Karl-Heinz Zimmer, Geschäftsführer von Willow Creek Deutschland