Gut gelaunt erscheint Dave Dummitt zum ­Interview per Zoom-Call. Im vergangenen Frühsommer hat er sein Amt als Leitender Pastor der Willow-Creek-­Gemeinde angetreten, um sie als Nachfolger der langjährigen Führungsfigur Bill Hybels in die ­kommende Zeit zu leiten. Die erste Frage stellt er gleich selbst:

Dave Dummitt: Wie spricht man eigentlich ­deinen ­V­ornamen aus? ­Gotthard? (spricht ihn ­nahezu ­perfekt aus).

Respekt! Hast du ein Faible für Sprachen?

Dave Dummitt: Es liegt wohl daran, dass ich während der Highschool das Fach Deutsch belegt und mich ein wenig mit eurer Kultur beschäftigt habe. Als unsere Tochter Austauschschülerin in Spanien war, haben meine Frau Rachel und ich sie besucht und einige Länder in Europa bereist. Wir lieben die kulturelle Vielfalt eures Kontinents. Rachel hat übrigens norwegische Wurzeln.

Du bist seit genau einem Jahr Leitender Pastor der Willow Creek-Gemeinde und damit, nach zwei Interims-­Pastoren, Nachfolger von Bill Hybels. Was hat dich im ersten Amtsjahr am meisten überrascht?

Ganz eindeutig: die große Anzahl an Menschen, die bereit sind, nach einer sehr herausfordernden Zeit wieder die Ärmel hochzukrempeln und sich in den Auftrag der Gemeinde einzubringen. Ich hatte erwartet, dass ich auf deutlich mehr Menschen treffe, die noch immer verletzt und frustriert sind.

»Die Menschen spüren, dass es eine heilende Wirkung hat, wenn sie aktiv involviert sind.«

Worauf führst du diese Aufbruchstimmung zurück?

Ich glaube, die Menschen spüren, dass es eine heilende Wirkung hat, wenn sie aktiv involviert sind. Man kann das mit einer Behandlung beim Physiotherapeuten vergleichen. Nachdem eine Wunde verheilt ist, hilft der Therapeut den Patienten durch bestimmte Bewegungen wieder zurück in den Alltag. Zu langes Abwarten ist kontraproduktiv für den Heilungsprozess. Natürlich gibt es auch noch diejenigen, die aufgrund von Verlust und Verletzungen trauern. Diese Menschen unterstützen wir weiterhin.

Leitender Pastor von Willow Creek zu werden – und das nach einer äußerst turbulenten Phase – ist eine große Herausforderung. Warum hast du die Aufgabe angenommen?

Diese Frage wurde mir im letzten Jahr wohl am häufigsten gestellt. Letztlich hat es mit meiner großen Leidenschaft zu tun, so viele Menschen wie möglich mit der Liebe Gottes bekannt zu machen.

Als die Anfrage von Willow kam, hast du aber nicht gleich zugesagt.

Das stimmt. Ich habe sofort abgelehnt und darüber auch keine schlaflosen Nächte verbracht. Sechs Monate später wurde ich erneut gefragt – und wieder habe ich Nein gesagt.

Weshalb?

Na ja, Willow steckte in gehörigen Turbulenzen. Und in meiner Gemeinde, der 2|42 Community Church, erlebten wir enormes Wachstum. Das Klima unter den Mitarbeitenden war großartig, das Gemeindeleben gesund – wer möchte schon ein solches Arbeitsumfeld aufgeben; ­zumal, wenn man die Gemeinde selbst ­gegründet hat?

Vielleicht weil die Willow Creek-­Gemeinde nach wie vor große Strahlkraft besitzt?

Für mich war es überhaupt keine Versuchung, mit Willow eine vielleicht noch größere und bekanntere Gemeinde leiten zu können. Die Zahl der Gottesdienst­besucher bei 2|42 lag zu der Zeit bei 10.000 – Willows bei 19.000. Meine Einschätzung seinerzeit war, dass ich aufgrund der unterschiedlichen Umstände mit 2|42 langfristig mehr Menschen erreichen würde als mit Willow.

Gab es noch andere Gründe für deine Absagen?

Offen gestanden glaubte ich, dass mir die pastoralen Gaben fehlen, die nötig sind, um eine Gemeinde durch eine derart schwierige Zeit zu führen. Und ich befürchtete, dass die Ältesten von Willow, aufgrund ihrer Erfahrungen in der Vergangenheit, dem neuen Leitenden Pastor ständig dazwischenfunken würden, das Arbeitsverhältnis also sicher nicht einfach werden würde.

Wodurch kam dann dein Umdenken?

Nachdem ich ein Jahr später erneut angefragt wurde, sagte meine Frau: »Willst du nicht endlich mal mit denen reden? Kann es nicht sein, dass sich 2|42 auch ohne dich prächtig weiterentwickelt und dass durch den Wechsel zu Willow letztlich zwei gesunde Gemeinden entstehen, wenn Gott seinen Segen dazu gibt?«

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Rückblickend muss ich sagen, dass sich die Stimme des Heiligen Geistes täuschend ähnlich wie die Stimme meiner Frau anhört (lacht). Es folgten viele intensive Gespräche mit den Willow-Ältesten, in denen unsere Bedenken allesamt ausgeräumt wurden. Es eröffneten sich sogar neue Perspektiven.

Zum Beispiel?

Meine vorherige Gemeinde hatte z.B. keine Verbindungen zu Gemeinden auf der ganzen Welt, wie Willow das durch die Zusammenarbeit mit dem Global Leadership Network (GLN), der ehemaligen Willow Creek Association, hat. Die Vorstellung, in einen engen Austausch mit Gemeinden und Leitenden buchstäblich auf der ganzen Welt treten zu können – wie z.B. mit euch in Deutschland – hat Rachel und mich begeistert. Dieses Voneinander-Lernen und Fürein­ander-Dasein ist in der heutigen Zeit wichtiger denn je. Die enge Verbindung zum GLN ist für uns persönlich, aber auch für die Willow-Gemeinde wichtig und prägend.

In deinem ersten Jahr bei Willow wurde deutlich, dass sich dein Leitungsstil sehr von dem eines Bill Hybels unterscheidet. Daran musste sich die Gemeinde sicher erst gewöhnen.

Natürlich. Aber was wäre die Alternative gewesen? Hätte ich so tough und zielstrebig sein sollen wie Bill Hybels? So diszipliniert wie Craig Groeschel von Life.Church? Oder so intelligent wie Andy Stanley von Northpoint – oder gleich alle drei Eigenschaften in mir vereinen? Damit wäre die Frustration doch vor­programmiert gewesen! Ich muss so sein, wie Gott mich geschaffen hat – und das darf ich hier.

Viele fragten mich: War es nicht einschüchternd, in die Schuhe von Bill zu schlüpfen? Natürlich war es das! Es war zum Fürchten! Aber diese Gefühle kamen nur dann auf, wenn ich mir vorstellte, in seinen Schuhen gehen zu müssen. Aber das muss ich nicht! Ich habe ein eigenes Paar Schuhe, mit dem ich viel sicherer ans Ziel gelange.

Wie würdest du deinen Führungsstil beschreiben?

Lass es mich so erklären: Jede Leitungsperson, einschließlich Pastorinnen und Pastoren, wollen in gewisser Weise Helden sein. Und das im besten Sinne: Wir möchten etwas bewegen, etwas verändern, einen Unterschied machen. Das liegt im Wesen einer Leitungsperson. Aber es gibt noch eine Steigerung von dieser Art des ›Heldentums‹.

Nämlich?

Wenn jemand in der Lage ist, andere zu Helden zu machen. Stell dir vor, wir würden fünf, zehn oder 15 Menschen fördern, sodass auch sie zu „Helden“ in diesem Sinn würden! Dann wäre die Wirkung um ein Vielfaches größer, als wenn nur wir selbst etwas bewegt hätten. Genau das versuche ich: Menschen zu bevollmächtigen, all das zu tun, wozu Gott sie geschaffen hat – und nicht daran zu denken, wem man am Ende dafür auf die Schulter klopft. So habe ich es bei 2|42 gehalten und so werde ich es auch hier bei Willow halten.

Ich glaube ohnehin nicht, dass man eine große Gemeinde wie Willow nur mit einem bestimmten Führungsstil erfolgreich leiten kann. Schau dir Bill Hybels und Rick Warren von Saddleback an: Ihr Führungsstil und ihre Persönlichkeit unterscheiden sich deutlich. Dennoch haben beide eine Gemeinde mit weltweiter Strahlkraft aufgebaut. Für mich ist das keine Frage des ›richtigen‹ Führungsstils, sondern ob jemand sein Leben Gott ganz zur Verfügung stellt, sich täglich seiner Führung unterstellt. Wenn das der Fall ist, kann er mit jedem von uns eine Menge bewegen.

»Die Wirkung des Gottesdienstes hat sich nicht verändert – aber die Menschen die wir dazu einladen.«

Siehst du die Gefahr, dass in der ­Willow-Gemeinde jetzt nur mit angezogener Handbremse geleitet wird, um zu vermeiden, dass sich ja niemand unter Druck gesetzt fühlt?

Genau diesen Punkt habe ich mit unseren Ältesten und Angestellten im vergangenen Jahr ausführlich diskutiert. Wir waren uns einig: Es geht nicht darum, zwischen einem starken und einem moderaten Leitungsstil zu wählen – das Ziel muss eine gesunde Leitungsform sein. Dort, wo das Thema Leitung einen Götzenstatus erreicht hatte – also im Zentrum stand und zu viel Gewicht erhielt – war das sündhaft und destruktiv. Die Konsequenz lautete: das Konzept zu bereinigen – was geschehen ist – und Jesus wieder als Taktgeber zu folgen, der eine dienende Leitung vorgelebt hat. Bills Worte, mit dem eigenen Leben eine ›Grander Vision‹, ein größeres Ziel zu verfolgen, ist nach wie vor richtig. Dazu wollen wir auch heute noch Menschen herausfordern – dabei aber nicht Jesus als Vorbild aus dem Blick verlieren.

Bekannt war Willow stets auch für den Wert der Exzellenz: Sie ehrt Gott und inspiriert Menschen, hieß es. Auch hier empfanden Mitarbeitende zu hohen Druck. Wie wird dieser Wert künftig gelebt?

Als ich hier ankam, registrierte ich bei einigen Angestellten eine Gegenreaktion: Wir sollten Exzellenz nicht mehr so wichtig nehmen wie wir das früher getan haben, hieß es. Das habe einige zu stark unter Druck gesetzt, meinten sie.

Wie hast du darauf reagiert?

Ich entgegnete: Wie lautet denn die neue Zielvorgabe – wollen wir uns künftig mit Mittelmäßigkeit zufriedengeben? Zielen wir auf 70% dessen, was wir leisten können? Exzellenz ist für uns natürlich nach wie vor wichtig. Aber auch hier gilt, aus diesem Wert keinen Götzen zu machen. Der Teufel ist sehr erfolgreich darin, gute Dinge so zu verdrehen, dass daraus Götzen werden: dass diese Dinge statt Jesus in den Mittelpunkt gerückt werden, und wir sie statt Jesus verehren. Das können unsere Ehen, unsere Kinder, unser Geld sein – oder auch Leitung und Exzellenz.

Bekannt wurde die Willow-Gemeinde durch ihre ansprechenden Gottesdienste: Tausende von kirchenfernen Menschen – den sogenannten Unchurched Harry und Mary – erhielten dadurch einen Zugang zum Glauben und zur Gemeinde. Wird diese Art von Gottesdiensten auch künftig ein Schwerpunkt sein?

Durchaus. Aber es wird nicht der einzige sein, um Menschen mit Gottes Liebe bekannt zu machen. Schon jetzt gibt es ja neben den Gottesdiensten viele weitere Zugänge zur Gemeinde.

Hat der sogenannte ›Gästegottesdienst‹ denn im Laufe der Jahre an Wirkung eingebüßt?

Nein, seine Wirkung hat sich nicht verändert. Aber die Menschen, die wir dazu einladen, haben sich verändert – und zwar grundlegend. Noch vor wenigen Jahren waren Familien bereit, am Sonntagmorgen ihre Kinder ins Auto zu laden, weil ihnen im Gottesdienst ein attraktives Programm geboten wurde. Das lockt heute viele nicht mehr aus dem Haus.

Was denn?

Sie wollen erst mal in einer kleinen Gruppe in ihrer Nachbarschaft heimisch werden, bevor sie einen Gottesdienst besuchen – und sei der auch noch so kreativ. Deshalb entwickeln wir Nachbarschaftsgruppen in denen Menschen sich wohlfühlen, öffnen können. Auch Alpha-Kurse spielen hier eine große Rolle.

Ein weiterer Zugang zur Gemeinde, der bei uns wunderbar funktioniert, sind Projektgruppen: Ob Renovierungsarbeiten für Menschen, die sich keine Handwerker leisten können, die Mitarbeit in unserem Care Center oder die Unterstützung von Familien in Not – dazu lassen sich viele einladen, die noch nicht bereit sind, einen Gottesdienst zu besuchen. So erleben sie Gemeinde auf völlig neue Weise. Und die Menschen, denen wir dienen, erleben ebenfalls Gottes Liebe auf ganz praktische Art.

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Eine klassische Win-Win-Situation.

Genau! Und wenn die Frage lautet, ob Willow auch in zehn Jahren noch eine Gemeinde für die ›Unchurched Harrys und Marys‹ ist, kann ich dir klipp und klar sagen: Ja! Wir werden geradezu besessen davon sein, die Harrys und Marys zu erreichen. Aber welche Wege wir dafür gehen, hängt davon ab, was Harry und Mary dient.

Der missionarische Herzschlag ist unverändert. Was ist denn anders geworden, seitdem du die Leitung übernommen hast?

Drei Dinge. Das Offensichtlichste: die Veränderung in der Leitung. Bill Hybels hatte eine enorme Präsenz, im positiven Sinne. Die kann man nicht einfach ersetzen. Aber es geht ja noch weiter: Als ich einstieg, waren von den 20 Top-Leitungspersonen, die zu Bills Zeiten Verantwortung getragen hatten, 19 nicht mehr da. Ich musste also ein völlig neues Führungsteam zusammenstellen.

Das führt zum zweiten Punkt: Bei der Zusammenstellung des Teams hatte Gott seine Hand im Spiel – anders kann ich das gar nicht beschreiben. Völlig überraschend kontaktierten uns zahlreiche Top-Führungskräfte aus den großen Gemeinden des Landes – aus Northpoint, Saddleback, Central Christian … – und sagten völlig unabhängig voneinander: Wir waren nicht auf der Suche nach einem neuen Job, aber Gott hat uns Willow aufs Herz gelegt. Wenn wir euch helfen können, sind wir gerne bereit, unsere Sachen zu packen, um Willow unter die Arme zu greifen: der Gemeinde, die uns in der Vergangenheit so viel gegeben hat. Und jetzt sind sie an Bord. Das hat mich tief bewegt.

Und die dritte Veränderung?

Die hat mit der Neustrukturierung unserer sieben Regionalgemeinden zu tun, die eine halbe Autostunde rund um den Hauptcampus in South Barrington an­gesiedelt sind. In den vergangenen Jahren haben sich diese Gemeinden völlig autonom entwickelt, ihre eigene Vision verfolgt und nur noch die Predigten aus South Barrington eingespielt. Das war aber nie das Ziel. Es ging um eine gemeinsame DNA, um strategische Zusammenarbeit, um das Teilen von Ressourcen. Ich habe darum ausführlich mit den Campus-Pastoren über die Kurskorrektur gesprochen und ihnen Zeit zum Nachdenken gegeben: ob sie den neuen – bzw. ursprünglichen – Weg mitgehen wollen oder ihren Platz woanders sehen.

Und wie läuft die neue Zusammen­arbeit?

Jetzt leben wir das neue Modell: Alle aktuellen Campus-Pastoren sind nun an der Gesamtleitung der Willow-Gemeinde mit ihren regionalen Standorten beteiligt. Zudem gibt es für jeden Schwerpunkt – sei es Kleingruppen, Seelsorge, Arbeit mit Kindern, Evangelisation … – eine Person, die den jeweiligen Bereich für alle Gemeinden verantwortet. Sie hat in jeder Gemeinde einen Ansprechpartner. Bei Teamtreffen der verschiedenen Bereiche kommen die Mitarbeitenden aus allen Gemeinden zusammen und lernen voneinander. Unsere Arbeit läuft viel effizienter und produktiver als früher.

Der Puls von Willow ist also deutlich zu spüren?

Richtig. Wir haben gerade 1,4 Millionen Dollar an Sonderspenden gesammelt, die im Rahmen unseres jährlichen ›Celebration of Hope‹-Projekts zusammengekommen sind – für Partnerorganisationen in Ländern wie Afrika, Südamerika und ­Indien, mit denen Willow seit Jahren eng zusammenarbeitet. 180 Menschen sind erst kürzlich getauft worden … Ich spüre, wie die Menschen ein Herz haben für das, was Gott auch künftig durch diese Gemeinde tun möchte.

Gotthard Westhoff führte das Interview