Gottesdienste können ganz unterschiedlich sein. Legt man den Schwerpunkt auf die Predigt, welche Rolle spielt der Lobpreis, wird gemeinsam gebetet, wie viel Platz gibt man zusätzlichen Programmpunkten, gibt es einen Kindergottesdienst? Wer kommt überhaupt? Und was will man den Besuchern mit auf den Weg geben? Bei der Willow Creek-Gemeinde finden an einem Wochenende drei Gottesdienste statt – Samstagabend um 17.30 Uhr und zwei am Sonntagmorgen um 9 Uhr und um 11.15 Uhr, parallel dazu gibt es eigene Jugendgottesdienste. Zahlreiche Ehrenamtliche sind daran beteiligt, den Besuchern – ganz gleich welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft – eine bereichernde Zeit zu bereiten. Wir waren dabei!

Du bist willkommen!

Du bist willkommen! „Hallo, schön, dass du hier bist“ hört jeder Besucher, noch bevor er den ersten Schritt in das Gemeindegebäude setzt. Ein großes Willkommensteam begrüßt alle Ankommenden vor der Tür, in der Lobby und am Eingangsbereich des riesigen Gemeindesaals. Es macht den Anschein, als ob hier niemand anonym bleiben kann – aber genau so scheint es, als ob das auch gar niemand möchte. Die sogenannten Greeter sind Freiwillige, die Neuankommende aber auch regelmäßige Besucher an einen geeigneten Platz begleiten. Die 7.200 Plätze sind in bestimmte Bereiche geteilt, sodass man die Chance hat, immer in demselben Abschnitt zu sitzen, bekannte Gesichter zu sehen und Menschen wiederzutreffen.

Willow-Campus
Der Willow-Campus in South Barrington

Teilnehmer unserer deutschen Gruppe empfanden diese Art als ungewohnt und neu, aber trotzdem authentisch: „Das ist eben diese Art. In Deutschland würde man das so nie machen, aber hier sind die Leute einfach sehr extrovertiert und offen“, so Anneke aus Plettenberg. Bei Willow Creek in Chicago konnte man sehr gut beobachten, dass sie dieses Verhalten nicht nur gegenüber Besuchern zeigen, sondern es als ganz normal empfinden, gegenseitige Herzlichkeit auszuleben, unabhängig davon, ob jemand das erste Mal dabei ist oder immer wieder kommt.

So wie bei Diane und Bernadette. Sie kommen seit 38 Jahre zum Willow Creek Gottesdienst, waren also fast von Beginn an dabei. „Meine Freunde haben mir damals von dieser neuen Gemeinde erzählt und von ihrem jungen Pastor vorgeschwärmt. Dann bin ich den ganzen Weg von Downtown dorthin gefahren und war völlig überwältigt. Bill war so gut, ich musste wieder und wieder kommen.“ Heute berühre sie vor allem die Musik: „Matt, der Lobpreisleiter, ist so gut. Es war einfach Führung, dass ich hierher kam und ich werde sicher auch nicht mehr woanders hingehen.“

Konzert oder Lobpreis?

Gitarrenklänge. Eine zart-berührende Stimme fängt an zu singen. Das Licht wird gedimmt. Die Gespräche werden eingestellt. Besucher gehen zu ihren Plätzen. Immer mehr Musiker kommen auf die Bühne und leiten den Lobpreis ein. Mit jeder Strophe spürt man mehr und mehr die Energie, die Leidenschaft und wird angesteckt von einer den Saal erfüllenden Anbetungsstimmung. Fünf Sänger stehen auf der Bühne, so weit vorne, dass sie möglichst nah an den Menschen sind, jeder von ihnen richtet sich nach einem anderen Abschnitt, damit jeder der Besucher trotz der Größe und Weite um ihn herum das Gefühl hat, dass dieser Lobpreis genau für ihn stattfindet und er mehr ist als ein Konsument von schönen Liedern.

Lobpreis-Sängerin
Lobpreis-Sängerin beim Gottesdienst

Eine Sängerin trägt enge schwarze Jeans, Lederjacke und hat violette Haare; ihr Aussehen erinnert an ein Rockstar und würde wohl besser auf das parallel stattfindende Festival Lollapalooza anstatt in eine Kirche passen. Aber ihr Verhalten zeigt etwas ganz anderes: Mit geschlossenen Augen, die Hände preisend nach oben ausgestreckt und mit einem friedlichen, fast nach innen gerichteten Lächeln steht diese junge Frau voller Überzeugung vor tausenden von Gottesdienstbesuchern und preist ihren Herrn mit Liedversen. Auch wenn die Qualität professionell ist, geht es dem Musikteam nicht um Entertainment, man singt den Menschen nicht etwas vor, sondern man singt mit ihnen zusammen. Man lobpreist gemeinsam. Man feiert zusammen.

Kämpferische Ansage

Nach nur (leider) drei Liedern betritt Bill Hybels die Bühne und begrüßt die Gemeindemitglieder. Er beginnt mit einem Gebet, bei dem er seine Zuhörer einlädt, sich auf die Menschen zu konzentrieren, die gerade Unterstützung brauchen, die sich nach Führung sehnen. Das war die ideale Überleitung zu dem Global Leadership Summit und zu einer begeisternden Inszenierung von Nick Benoit. Seine Botschaft: „Wir brauchen die Kämpfer, die Champions, die Leiter, die Verbinder, die Macher.“ Letztendlich dürfen die Zuhörer den Appell mitnehmen: Jeder trägt Verantwortung. Jeder kann einen Unterschied machen. Auch du.

GLS-Vortrag von Dr. Henry Cloud
GLS-Vortrag von Dr. Henry Cloud

Nach einer kurzen, aber einprägenden Zeit für die Kollekte, begann die Predigt. Ein sympathisch wirkender, wie auch Hybels locker gekleideter Mann mit brünettem Haar betritt die Bühne. Der Applaus ist auffällig intensiv, man kennt den Redner offensichtlich. Und in der Tat – Dr. Henry Cloud ist kein Unbekannter, der erfolgreiche Psychotherapeut hat einige Bücher verfasst und wird regelmäßig von großen Konferenzen eingeladen, um dort zu reden. Er ist ein enger Vertrauter von Hybels, und besucht die Willow Creek-Gemeinde immer wieder, um auch hier mit seiner herausragenden Reflexionsgabe starke Predigen zu formulieren.

Doch das heißt nicht, dass die Besucher mit nur schwer verständlichem Psychologie-Fachwissen herausgefordert werden. Ganz im Gegenteil, denn was Cloud auszeichnet, ist seine Fähigkeit, komplexe Sachverhalte möglichst realitätsnah darzustellen. Und lustig noch dazu, so beginnt er mit der Frage: „Wer von euch ist mit einem erwachsenen Menschen verheiratet? Dreht euch zu ihm und sagt: Wieso verhältst du dich nicht wie einer?“ Leider ist das, was wir uns wünschen und das, wie es ist, nicht immer dasselbe. Berechenbarkeit ist manchmal eine Illusion, so Cloud zu Beginn seiner Predigt. Wir haben – völlig zurecht – immer wieder Erwartungen an uns und an andere. Werden diese nicht erfüllt, dann sind wir verärgert. Immer wieder. Selbst wenn wir uns etliche Male aufraffen, um es erneut zu versuchen und viel Mühe in unsere Arbeit und dem Gelingen darin hineinstecken, ernten wir nichts als Wut und Enttäuschung, sobald Ziele nicht erreicht werden. An diesem Punkt befänden wir uns laut Cloud in einem nur schwer zu durchbrechenden Kreislauf: Erwartung – Scheitern – Erwartung – Scheitern.

Dr. Henry Cloud

Dann fängt er an, von seiner Tochter und ihren Mathematik-Problemen zu erzählen. Sie habe schlechte Noten mit nach Hause gebracht, weil sie das Sechser-Ein-Mal-Eins einfach nicht konnte. Die Konsequenz des Vaters war, mehr zu lernen: „Sie wollte natürlich nicht. Sie sagte zu mir: ‚Nein nicht jetzt, ich bin so müde und kann mich nicht konzentrieren.’ Doch ich blieb dabei, ich drängte meine Tochter dazu, sofort das besser zu verstehen, was sie noch nicht gut genug verstanden hatte.“ Das Ergebnis: Es brachte nichts. Die Noten wurden nicht besser, das Verständnis nicht größer.

„Da sagte Gott zu mir: Stopp! Keine Verurteilung! Hör auf, deine Tochter zu bewerten und schau genauer hin.“ Als sich der Familienvater die Nachhilfe-Unterlagen seiner Tochter angesehen hatte, entdeckte er, dass sie keine Aufgaben oder Erklärungen zu dem Sechser-Ein-Mal-Eins beinhalteten. Wie konnte sie denn in etwas besser werden, wenn ihr niemand erklärt, wie es geht?

Dr. Henry Cloud
Dr. Henry Cloud

An dieser Stelle, nach der Erwartung und dem Scheitern, motiviert Cloud dazu, den Kreis zu durchbrechen und Gottes Versprechen anzunehmen: Es gibt keine Verurteilung – für niemanden, für nichts, weder in Mathe noch in der Ehe oder im Berufsleben. „Wenn du nicht verstehst, dass du niemals verurteilt wirst, wirst du an diesem Punkt stecken bleiben und dann hast du Gottes Wort noch nicht verstanden“, formuliert der 61-Jährige sehr deutlich. Zum Schluss betont der Psychotherapeut, dass jeder Mensch Nachhilfe in etwas braucht und sich nichts selbst beibringen kann, was er einfach nicht versteht. Sich Hilfe und Unterstützung zu suchen, zu akzeptieren, dass wir nicht alles alleine schaffen müssen und es andere gibt, die uns dabei begleiten, sei ein unabdingbarer Schritt, um den ungesunden Kreislauf von Selbstgeißelung zu durchbrechen.

Mit den Worten „Sage ‚Ja’ zu Gottes Gnade und sei gesegnet“ verabschiedet sich Cloud und verlässt die Bühne. Was bleibt ist lauter Applaus, ähnlich wie nach einem beliebten TED-Talk oder einer mitreißenden Dankesrede bei den Oscars.

Es lohnt sich

Aus der vorderen Reihe hörte man immer wieder leise Ausrufe: „Wow!“ oder „Genau, so ist es“. Zwei Männer waren offenkundig völlig überbewältigt und sogen jedes Wort der Predigt auf. Edward, der ein großes Kreuz um den Hals trägt und sein Freund Arnold sind extra 65 Meilen gefahren, also über 100 Kilometer, um diese Predigt zu hören: „Meine Frau kennt seine Reden und wollte ihn unbedingt hören. Und eines ist sicher: Es hat sich gelohnt!“

Gottesdienstbesucher Edward
Gottesdienstbesucher Edward

Noch an diesem Tag hatten sich die beiden über Mathematik unterhalten, weil es Edwards Lieblingsfach in der Schule war und sich darüber ausgetauscht, wie man es verständlicher vermitteln konnte: „Und dann kommt er mit diesem Beispiel von seiner Tochter – da war mir klar: Ok, ich sollte heute hierher kommen, das ist kein Zufall.“ Die Predigen bei Willow seien immer so lebensnah, so verständlich und holen einen immer wieder mitten im Alltag ab, schwärmt Arnold: „Es füllt dein Herz und du fühlst dich gut.“

Wurden deutsche Teilnehmer gefragt, wie sie den Gottesdienst empfanden, fiel häufiger das Wort „Show“. Es sei alles so perfekt und aufeinander abgestimmt gewesen, dazu noch hoch professionell. Authentisch wirkte es trotzdem für die Teilnehmer: „Der gesamte Gottesdienst war in sich schlüssig und die Predigt bezog sich direkt auf den Alltag der Menschen, man hat sich also schnell abgeholt gefühlt“, so Johannes aus dem Sauerland. In einem waren sich die meisten Teilnehmer einig: Eine derartige Darbietung sei man in deutschen Kirchengemeinden nicht gewohnt und deswegen könne es schnell überfordernd wirken.

Irgendwie schade. Würde uns Gott nicht am liebsten jeden Tag eine solche Darbietung geben? Uns begeistern, faszinieren, im Übermaß beschenken, mit seiner Gnade überwältigen? Wenn wir dann nicht einfach „Ja“ sagen können und dieses Lebensevent annehmen – was verpassen wir dann möglicherweise?

Der Technik-Raum während des Summits
Der Technik-Raum während des Summits

REISEBLOG

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