Der Theologe Dr. Christian Hennecke gehört in der katholischen Kirche zu den führenden Köpfen, die sich intensiv mit der Zukunft und Weiterentwicklung der eigenen Kirche beschäftigen. Dabei ist Hennecke – der eine moraltheologische Doktorarbeit über Dietrich Bonhoeffer schrieb – auch wichtig, neue Wege und Formen konfessionsübergreifend zu gestalten. Dass er keine Berührungsängste mit anderen Kirchen und Konfessionen hat, zeigt sein Engagement für den ökumenischen Gemeindekongress »Kirche2« 2013 in Hannover, den das Bistum Hildesheim und die Evangelisch-­lutherische Landeskirche Hannovers gemeinsam veranstalteten. Hier schildert der katholische Theologe Eindrücke seiner Begegnung mit Willow Creek.

Sanft werde ich gewarnt: »Es könnte eine Sekte sein, seien Sie vorsichtig!« Wir machen uns trotzdem auf den Weg nach Oberhausen, zu einem Leitungskongress von Willow Creek. Ich hatte im Internet von diesem Kongress gelesen – und mich hatte beeindruckt, dass diese freie evangelische, aber nicht evangelikale Gemeinde aus den USA ganz programmatisch missionarisch ist. Deswegen war auch meine Antwort biblisch selbstbewusst. »Prüfet alles, und bewahrt das Gute.«

Um keine Missverständnisse offen zu lassen: Katholische Kirchen und evangelische Freikirchen sind vollkommen unterschiedlich. Die Theologie des Amtes ist nicht vereinbar. Für einen katholischen Christen fehlt in den Freikirchen das Nachdenken über Sakramente, vor allem über die Eucharistie und das geistliche Amt. Und manches wirkt merkwürdig traditionsvergessen. Liturgie gibt es nicht wirklich. Und dennoch: Wer verwurzelt ist in seiner eigenen Kirche, der kann auch inmitten unvereinbarer Differenzen den Reichtum des Anderen sehen. Mit dieser Perspektive lässt sich vieles lernen.

Einige Wochen später. Die »König-Pilsener-Arena« in Oberhausen ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Etwa 8.000 Menschen. Gesang mit einer professionellen Band, Gebet, Vorträge. Es geht um ein wichtiges Thema des Gemeindeaufbaus: die Leitung. Immer wieder staune ich über die einfachen Worte, die die Vortragenden finden. Ich bin beeindruckt von der biblischen Verwurzelung, von der spürbaren Leidenschaft für die Verkündigung, aber auch von der Verknüpfung moderner Erkenntnisse aus dem Management mit christlichen Grund­erkenntnissen. Bill Hybels, der Begründer und charismatisch begabte Pastor der Willow Creek Community Church, ist so ganz und gar nicht exzentrisch, so ganz und gar nicht überkandidelt, sondern nüchtern, spirituell und pragmatisch. Nichts in dem, was ich höre, könnte ich nicht unterschreiben. Im Gegenteil: Selten habe ich eine so wunderbare Mischung von amerikanischem Pragmatismus und tiefer biblischer Spiritualität erlebt.

Und das gilt nicht nur für die Vorträge. Auch die Atmos­phäre im Saal war von einer tiefen Spiritualität gekennzeichnet. In dieser spirituellen Atmosphäre begegnen sich Mitglieder der verschiedensten Freikirchen, Lutheraner, Refor­mierte – und etwa ein Prozent Katholiken in großer Geschwisterlichkeit.

Kein Weiterkommen ohne Vision

Nach drei Tagen mit Gebet, Gesang und Vorträgen fahren wir begeistert heim. Immer wieder staune ich. Eigentlich war in den Vorträgen nichts radikal Neues, aber die Art und Weise der Vorträge, die Klarheit der Ideen und der pragmatische und nicht dauerreflexiv-­problematisierende Ansatz machen Lust auf mehr. Als Katholik entdecke ich während dieser Tage viele verschüttete Elemente der eigenen Tradition. Gleichzeitig wird mir deutlich, dass der gemeindegründerische Aufbruch, den ich hier miterleben darf, ganz gewiss für unseren angepeilten Aufbruch in einer missionarischen Kirche von großer Bedeutung ist. Ja, ich – wir – können viel von Willow Creek lernen.  

Immer wieder taucht ein Stichwort in den Vorträgen und Überlegungen auf, das mir bisher in unserer Kirche eher selten so konkret begegnet ist. Dieses Stichwort lautet »Vision«. Für die Willow Creek Community Church gibt es kein Weiterkommen, keine klare Leitung ohne die entsprechend konkrete biblische Vision. Das Handeln und alle Aktivitäten sind darauf hingeordnet. Zum einen wird immer wieder deutlich, dass diese Vision das Leben einer ganzen Gemeinde bestimmt: die Kirchenvision der Apostelgeschichte (Apg. 2,37-42) ist zentral. Noch bestimmender allerdings ist die Leidenschaft für jeden Menschen – der Wunsch, dass möglichst viele vom Geist Christi angesteckt werden. Man könnte nun natürlich – wie bei fast allen Akzenten, die Willow setzt – fragen: Und was ist das Neue? Ich habe den Eindruck: Das Neue ist, dass eine ganze Gemeinde tatsächlich an diese Vision glaubt und ihr Handeln immer wieder daran ausrichtet. Diese Vision wird von der Leitung immer wieder eingebracht und präzisiert; sie wird von der Gemeinde mitgetragen und sie löst ein Handeln aus, das sich entsprechend orientiert. Im Zentrum steht die Frage, wie Menschen für die Botschaft des Evangeliums geöffnet werden.

Als Katholik entdecke ich viele verschüttete Elemente der eigenen Tradition.

Die strategische Rolle von Leitung

Die Geschichte von Willow Creek ist in der Tat eine Erfolgsgeschichte, aber sie ist keine triumphalistische Geschichte. Immer wieder erzählen die Leitenden ganz freimütig von den Problemen und Krisen der Gemeinde – und immer wieder wird deutlich, aus welcher spirituellen Tiefe alle Beteiligten schöpfen. Gestaunt habe ich, wie die herausfordernden Vorträge auch das eigene Versagen und die eigene Sündigkeit mit einschlossen.

Es gibt eine Fülle von praktischen Hinweisen und Modellen, die aus dieser Gemeinde auch für unsere katholische Umbruchsituation hin zu einer geistlich gegründeten, gemeinschaftsstiftenden und katechumenalen Kirche hilfreich sind. Doch neben der konkreten Umsetzung von Visionen einer Kirche, die auch »Neue« aufzunehmen versteht, gibt es einen Aspekt, der mich am meisten beeindruckt hat – auch deshalb, weil er bis in die jüngste Zeit in unserer eigenen Tradition und Praxis kaum berücksichtigt wurde: der Themenbereich Leitung.

Dem Leiter einer Gemeinde kommt in der theologischen wie praktischen Reflexion der »Willow Creeker« eine herausragende Bedeutung zu. Mag das auch allzu selbstverständlich klingen: Die Spiritualität und Praxis der Leitung, die in unserer Kirche ja zunächst eng mit dem Sakrament der Weihe verknüpft ist, wurde in meiner Ausbildung kaum, ja eigentlich gar nicht, thematisiert. Bei Willow Creek bekommt sie strategische Bedeutung. Auf den Kongressen, die ich besucht habe, wurde in immer neuen Anläufen dieses Thema umkreist und geschult. Die Bedeutung einer Leiterschaft mit Vision, die Schwierigkeiten der Umsetzung, die Notwendigkeit eines Teams und einer Visionsgemeinschaft, die Praxis der Veränderung, die Spiritualität und moralische Integrität des Leitenden – alle diese Themen waren zentral. Als Leiter eines Fachreferats, aber vielmehr noch als Pfarrer mehrerer Gemeinden habe ich geradezu alles aufgesogen, was mir hier angeboten wurde. Verknüpft mit modernen Erkenntnissen der Organisationsentwicklung und gegründet in biblischtypologischen Beobachtungen, wurde ich hier reich beschenkt. Ich habe mich gefragt, warum bisher nur sehr wenige dieser Erkenntnisse an die jungen Pfarrer weitergegeben wurden.

Wahr ist, dass auch im katholischen Bereich seit einiger Zeit im Rahmen von Organisations- und Gemeindeentwicklung Akzente in der Personalentwicklung von Leitern gesetzt werden. Angesichts der strategischen Bedeutung dieses Themas geschieht dies allerdings noch viel zu wenig.

Alle diese Aspekte einer visionären Gemeindeleitung und -gestaltung sind für unsere katholische Situation höchst anregend und weiterführend. Das Charisma, das es hier zu entdecken gibt, kann nicht einfach mit dem Begriff der »Sekte« denunziert werden. Es bedarf vielmehr eines demütigen Selbstbewusstseins, das mit den Brüdern und Schwestern im Glauben gemeinsam den Weg in die Zukunft sucht und dabei von dem Reichtum des Anderen – und häufig Fremden – lernt.

Natürlich bleiben die gravierenden Unterschiede. Doch diese kirchentrennenden Unterschiede sollen nicht verdecken, wie viel authentisches Suchen nach einem Leben aus dem Evangelium mir im Rahmen von Willow Creek begegnet ist. Und vor allem eine Leidenschaft für die Suche nach denen, die die Liebe Gottes noch nicht entdeckt haben. Eine solche Leidenschaft dürfte ruhig ein wenig abfärben.