Warum werden wertvolle Ideen und Vorhaben oft nicht in die Praxis umgesetzt? Gary Haugen, Gründer der International Justice Mission (IJM), entfaltete dazu in einem Vortrag beim Global Leadership Summit in Chicago eine wichtige wie herausfordernde These: Wenn nach einem motivierenden Kongress wieder der Alltag einkehrt, dann ist vor allem der Umgang mit der Angst entscheidend dafür, ob das Gehörte Wirklichkeit wird. Oder nicht.
Es gibt eine Sache, die alles, was du jemals gelernt oder dir erarbeitet hast, außer Kraft setzen kann. Auch Jesus hatte am letzten Abend, den er mit seinen Jüngern verbrachte, damit zu kämpfen: Es ist das Gefühl der Angst. Deshalb sagte er an diesem Abend zu seinen Jüngern: »Habt keine Angst!« Er sah die Gefahr, dass nichts von dem geschieht, worauf er seine Jünger vorbereitet hatte. Weil die Angst den Transfer von der Theorie in die Praxis verhindert. Weil das, was wir gelernt und verstanden haben, nicht praktisch umgesetzt wird. So werden die besten Leitungsprinzipien nutzlos.
Warum ist Angst so eine große Herausforderung? Weil Angst alle Träume still zerstört. Dabei speist sich gerade wirksame Leitung aus großen Träumen. Martin Luther Kings Rede »Ich habe einen Traum «hat Kultstatus erreicht – obwohl sie damals die letzte von vielen Reden war, ganz am Ende eines langen und anstrengenden Tages. King war bereits um 4:30 Uhr aufgestanden, um noch daran zu feilen. Als er das Rednerpult betrat, kam in seinem Manuskript das Wort »Traum« überhaupt nicht vor. Nach den ersten Sätzen rief jemand: »Erzähl ihnen von dem Traum!« Und so legte er den vorbereiteten Text beiseite und tat genau das: Er erzählte von seinem Traum – und veränderte damit den Lauf der Geschichte. Menschen zu führen, beginnt mit einem Traum.
Du kannst einen perfekt ausgearbeiteten Plan vorlegen, wie du deinen Traum umsetzen willst. Aber wenn die Angst ins Spiel kommt, ist alles in Gefahr. Angst nimmt die Liebe, die den Traum antreibt, und ersetzt sie durch Sorge. Angst ist eine große Bedrohung für etwas, das uns am Herzen liegt.
Der Traum der IJM ist, Menschen vor Gewalt zu schützen. Wir erleben jeden Tag, dass Menschen aus Abhängigkeiten gerettet werden, aber die Angst ist ein ständiger Begleiter und versucht, unseren Traum zu zerstören. Die Gewalt schlägt zurück. Angst untergräbt die Liebe und setzt die Sorge an ihre Stelle.
Angst hat katastrophale Auswirkungen auf die Liebe, die Grundlage unseres Traums ist. Ich habe schon oft erlebt, dass die alltägliche Angst von Leitenden dazu führt, dass ein Traum aufgegeben wird, ohne dass überhaupt jemand darum gekämpft hätte.
1. Du musst dich regelmäßig mit deinen Ängsten auseinandersetzen.
Mach dir bewusst, wovor genau du Angst hast. Tust du es nicht, treibt dich nicht dein bewusster, hoffnungsvoller Traum an, sondern deine unbewusste Angst. Bei IJM bezahlen wir den Mitarbeitenden jeden Tag eine halbe Stunde der persönlichen Stille, in der sie mit Gott ins Gespräch und ihrem Inneren auf die Spur kommen. Wir nennen das die »Halb-Neun-Ruhe«. Welche Sorgen, welche Unsicherheiten kommen hoch, wenn du zur Ruhe kommst? Diese Ruhe kann man einüben. Wenn man Gott genau zuhört, bekommt man eine Kraft, die durch jeden Arbeitstag durchträgt. Gott überlegt nicht panisch, wie das alles wohl zu schaffen ist. Er bietet vielmehr einen Weg der Hoffnung, des Friedens und der Liebe an. Wenn du regelmäßig deiner Angst auf den Grund gehst, bekommst du jeden Tag die nötige Kraft für deine Aufgaben.
2. Von der Defensive in die Offensive.
Die Basis eines großen Traums war noch nie die Angst vor dem, was alles schiefgehen könnte, sondern vielmehr die Hoffnung auf das, was alles klappen kann. Beeindrucken dich menschliche Fehler und Versagen oder doch eher das, was Gott alles richtig macht? Du kannst keinen großen Traum verfolgen, wenn du dich in einen sicheren Bunker zurückziehst. Gott lädt seine Leute dazu ein, die von Angst bestimmte (und damit freudlose) Defensive zu verlassen und mit ihm in die Offensive zu gehen. Gott baut sein Reich auf dieser Erde, und Jesus hat gesagt, dass die Pforten der Hölle es nicht überwinden werden. Pforten sind nicht flexibel. Sie nehmen kein neues Land ein. Die Hölle ist verzweifelt defensiv und kann gegen Gottes Offensive nichts ausrichten.
»Menschen zu führen, beginnt mit einem Traum.«
Als Gründer von IJM weiß ich, dass es in der Welt viel Verlust und Böses gibt. Aber in der Nacht vor seinem Tod hat Jesus gesagt: »Fasst Mut; in der Welt habt ihr Angst, aber ich habe die Welt überwunden.« Das bedeutet, dass wir in den Offensivmodus wechseln und die Dunkelheit angreifen – damit Verletzung und Verzweiflung weichen und Platz machen für Heilung und Erlösung. Ein Beispiel: moderne Sklaverei. Millionen der Ärmsten werden illegal versklavt, fast 46 Millionen Menschen, mehr als jemals zuvor. 15 Jahre lang war Kambodscha hier »Vorreiter«. Hunderte von Kindern wurden offen zum Verkauf angeboten. Das ist unfassbar, und es stellt sich die Frage: Wie sollen Christen darauf reagieren? Die Christenin Kambodscha haben mit Behörden vor Ort zusammengearbeitet und begonnen, Kinder zu retten. Kirchen auf der ganzen Welt haben dazu beigetragen, diese Kinder angemessen zu versorgen und zu betreuen. Noch vor zehn Jahren war Kambodscha ein abschreckendes Beispiel, aber inzwischen haben Experten das Ende des Kinderhandels in diesem Land bestätigt. Das meine ich mit Offensive.
3. Leitende, die große Träume erfolgreich in die Wirklichkeit umsetzen, tun noch etwas Entscheidendes: Sie schmieden eine »Mut-gemeinschaft«.
Einzelkämpfer werden immer an großen Träumen scheitern. Jesus besaß Allmacht, er hätte als Erster das Recht gehabt, Einzelkämpfer zu bleiben. Aber er hat sich dazu entschlossen, eine Gemeinschaft aufzubauen, die er in der letzten Nacht seines Lebens dazu aufrief, mutig zu sein. Mit welcher Strategie hat er diesen Mut bei seinen Jüngern verankert? Er schuf ein Team, dessen Mitglieder einander in Demut dienen. Er sagt: »Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.« Ihr Mut gründet sich auf einer Diensthaltung, mit der sie sich umeinander kümmern.
Strategie und Planung sind wichtig. Wenn aber Leitende Angst haben, nützt das alles nichts. Eine liebende Gemeinschaft ist der beste Schutz. Als mich die Nachricht erreichte, dass drei unserer Mitarbeitenden in Kenia ermordet worden waren, war mir klar, dass die Angst als Gegner an unsere Tür klopfte. Auf dem Flug nach Afrika wusste ich, dass unser Sieg über diese Angst davon abhängen würde, wie sehr wir einander lieben. Eine Polizeitruppe hatte uns den Krieg erklärt und Jagd auf uns gemacht. Wie würden wir reagieren? Würden wir der Angst nachgeben und den Traum einfach begraben? Ich begegnete einem Team, das sich gegenseitig in seiner Trauer stützte, sich seiner Angst stellte und entschlossen war, Gott weiter zu vertrauen. Ein Team, das die Kosten genau überschlug und sich schließlich dafür entschied, sich noch intensiver für unsere Sache einzusetzen. Angst ist ansteckend – aber Mut auch. Fünf Verdächtigewurden verhaftet, und der Kampf gegen Polizeigewalt wurde aufgenommen – weil eine Gemeinschaft ihrem Mut den Vorrang gab und nicht der Angst.
Der Trauergottesdienst für die drei Opfer wurde landesweit im Fernsehen übertragen. Ich fühlte die Last der Unsicherheit, aber plötzlich spürte ich eine sanfte Hand auf meiner Schulter. David stand vor mir, den wir vor zehn Jahren in Nairobi aus polizeilichem Machtmissbrauch gerettet hatten. Er war jetzt derjenige, der mich mit Mut und Freude bei diesem Trauergottesdienst unterstützte. Er erzählte, dass er sein Jurastudium abgeschlossen hatte und weiterkämpfen würde und sagte: »Bruder, wir werden nie aufgeben. Hab keine Angst, wir werden gewinnen!« Er leitet jetzt eine Mut-gemeinschaft. An dem Tag, an dem er seine Zulassung zum Gericht erhielt, schrieb er mir: »Bruder, lass uns immer daran denken, dass wir auf dem Schlachtfeld nur Diener sind. Christus selbst ist der eigentliche Soldat.«
Furchtlos leiten
Als Leitungsperson trägst du einen Traum in deinem Herzen. Einen Traum davon, was alles besser laufen könnte. In dir liegt die große Sehnsucht nach einer Liebe, die die Macht zur Veränderung hat. Eine Macht, die nicht unterdrückt werden kann und die von dem Gott stammt, der dich geschaffen hat. Was könnte Gott alles tun, wenn du ihm vertraust und des halb ohne Angst leitest? Was wäre alles möglich, wenn du auf die Herrlichkeit des wiederkommenden Herrn schaust, anstatt auf die Angst? Leite ohne Angst! Halte fest an der Wahrheit: Gott selbst ist der eigentliche Soldat. Wenn wir das tun, können wir ohne Angst leiten – zu Gottes Ehre und für die Veränderung seiner Welt.