LK22-Referent Bodo Janssen ist durch Extreme gegangen. Als Jugendlicher überlebte er eine Entführung. Er war Anfang 30, als sein Vater bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Der Unternehmersohn übernahm die Firma – aber die Angestellten kamen mit seinem Führungsstil nicht klar. Janssen nahm sich eine Auszeit im Kloster – und entwickelte danach eine völlig neue Unternehmenskultur für die Upstalsboom-Kette, die 70 Hotels und Ferienwohnanlagen an Nord- und Ostsee betreibt.

Es war das Jahr 2010 und ich war in einer Krise. Nach dem frühen Tod meines Vaters hatte ich das Familienunternehmen in zweiter Generation übernommen. Bei dem Versuch, es aus einer wirtschaftlichen Krise zu führen, wandte ich die neuesten Erkenntnisse, Strategien und Instrumente im Business-Bereich an – und landete auf dem Bauch. Den Mitarbeitern war das alles zu technisch, zu wenig menschlich. Ich musste menschlicher werden. Auch mir selbst gegenüber. Das war die eindeutige Erkenntnis einer Mitarbeiterbefragung. Die Angestellten ließen mich wissen, dass sie sich einen anderen Chef wünschten. Ich musste also eine schwierige Situation bewältigen – die auch durch mein Ego entstanden war.

Ich begab mich ins Stadtkloster der Benediktiner in Würzburg. Dort begegnete ich einem Pater, von dem ich schon viel gelesen und gehört hatte; einem Pater, der als Cellerar (wirtschaftlicher Leiter) nicht nur für die Kloster-Gemeinschaft da war, sondern für viele Menschen, die auf der Suche nach Antworten für ein gelingendes Leben oder Wegen aus der Krise waren. Auch für mich wurde Pater Anselm Grün zu einem wichtigen Inspirator. Mit seiner leicht verständlichen und vor allem zeitgemäßen Übersetzung biblischer Geschichten und Gleichnisse, seinen Fragen und Übungen gab er mir den Schlüssel zu einer Tür, die mich auf den Weg zu meinem Selbst führte.

Der Weg, der sich mir damals erschloss, ist heute als ›Upstalsboom-Weg‹ in Wirtschaft und Wissenschaft bekannt. Ich habe ein Buch über diese Krise geschrieben ›Die stille Revolution‹. Und die Rückmeldungen über meinen Weg und die damit verbundene Entwicklung des Unternehmens zeigten, dass offensichtlich in vielen Menschen eine große Sehnsucht besteht: Sie wünschen sich die Freiheit, das zu leben, was ihnen als Mensch wirklich wichtig ist; sie sind mit ihren Gedanken aber auch in den Verwicklungen ihres Lebens, ihrer Arbeit oder Führung gefangen. Immer wieder hörte ich: »Ist das, was Sie geschafft haben, überall umsetzbar? Ich möchte das auch versuchen. Aber wie gehe ich vor, wenn alle um mich herum – und besonders mein Chef – das nicht verstehen und mich daran hindern?«

Die Sache mit dem Wie ist tatsächlich nicht einfach, wie die ›Upstalsboomer‹ selbst erfahren haben. Immer mehr Mitarbeiter folgten mir aber ins Kloster und auf dem eingeschlagenen Weg. Hier erhielten sie wertvolle Hinweise, die sie innerhalb der Gemeinschaft ›Hotel‹ praktisch anwenden konnten. Zusammen führten wir uns vor Augen, dass das, was wir im Kloster gehört und dann in gemeinsam entworfenen Curricula vertieft hatten, gut zum Unternehmen und den Menschen darin passen könnte.

Ohne Führung gibt es keine gelingende Gemeinschaft.

Spürbare Veränderungen

Und es passte. Nach und nach wurden die Auswirkungen spürbar. Die Mitarbeiter waren seltener krank und auch nicht mehr so schnell geneigt, sich einen anderen Arbeitgeber zu suchen. Die Anzahl der Bewerbungen stieg in früher unvorstellbare Dimensionen, zudem entwickelte sich die Mitarbeiterzufriedenheit rasant nach oben. Die offensichtlich bessere Stimmung steckte auch die Gäste an, denn deren Zufriedenheit wuchs ebenfalls. Zu guter Letzt blieben die wirtschaftlichen Faktoren davon nicht unberührt. Die Umsätze verdoppelten sich innerhalb von nur drei Jahren, auch die Bekanntheit vervielfachte sich in kurzer Zeit.

Angesichts unserer Vorgehensweise ernteten wir ungläubiges Staunen. Denn die Entwicklung geschah jenseits bekannter Wirtschaftstheorien und betriebswirtschaftlicher Erkenntnisse. Der Pfad, den wir beschritten haben, ist ein durchaus spiritueller und vor allem auf die Entwicklung des Menschen ausgerichteter Weg. Götz Werner, Gründer der dm-Drogeriekette, sagte einmal: »Kümmere dich um die Menschen, dann kümmern sich die Ergebnisse um sich selbst.« Mit diesem Satz beschreibt er, wohl aus eigener Erfahrung, was auch wir immer häufiger erleben.

Spiritualität hat für mich mit Blick auf die Menschen zwei Bedeutungen. Erstens die Art und Weise, wie ich das, was mir als Mensch wirklich wichtig ist, im Alltag leben kann. Zweitens den menschlichen Geist wieder stärker wertzuschätzen und ihn dadurch in Bewegung zu bringen. Durch die Wertschätzung des menschlichen Geistes entsteht Begeisterung und letztlich Beteiligung. In vielen Unternehmen erleben wir aber genau das Gegenteil. Dort existieren häufig Formen der Entgeisterung. Wo das der Fall ist, bedarf es eines grundlegenden Umdenkens bei Unternehmern, Vorständen und Mitarbeitenden.

Neue Führungskonzepte

Eine große Mehrheit von Mitarbeitenden glaubt, dass die Wirtschaft einen Neuanfang braucht, was die Aufmerksamkeit für Menschen und Ziele angeht. Es betrifft aber auch Produkte und Gewinne. Manche Firmen haben ihren Erfolg ganz sicher auf den Grundhaltungen eines ehrbaren Kaufmanns und auf starken Visionen aufgebaut – viele aber auch auf Kosten anderer Menschen und der Umwelt. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass die einstigen Regeln und Definitionen von Arbeit, Zielsetzungen und Unternehmensführung in absehbarer Zeit nicht mehr gelten werden. Sie scheinen in einer stetig steigenden Zahl von Betrieben außer Kraft gesetzt zu sein. Führungskräfte sind ratlos. Sie verstehen oftmals nicht, welche Wünsche, Bedürfnisse und Ansprüche plötzlich auftauchen und wie sie damit umgehen sollen.

Führung ist eine anspruchsvolle Dienstleistung. Denn Führungskräfte haben es mit Menschen zu tun, die nicht nur sehr unterschiedlich sind, sondern diese Einzigartigkeit auch in ihre Arbeit einfließen lassen wollen. Deswegen wird es für Führungskräfte immer schwieriger, diese Personen mit Normen zu steuern, die ihnen von außen auferlegt werden. Viele Menschen wollen einfach nicht mehr genormt und damit normal sein. Sie wollen mehr von dem einbringen, was ihnen bislang verwehrt war: ihrer Persönlichkeit! Viele Führungskräfte empfinden das als verrückt – eben von der Norm ver-rückt. Die Frage ist: Wie führe ich ›ver-rückte‹, eigentlich natürliche Menschen? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, ist es wichtig, zunächst einen Zugang zu sich selbst zu finden. Über den Weg zu sich selbst ist es möglich, aus der Norm auszubrechen – und den inneren Gewinn auf das operative Geschehen eines Unternehmens zu übertragen.

Wir erleben täglich, dass alles um uns herum unberechenbarer wird. Begriffe wie Tradition, Kontinuität oder Nachhaltigkeit geraten in der täglichen Unruhe häufig außer Reichweite. Die Sicherheit und Stärke, vor allem aber auch die Ruhe und die Kraft, die wir uns wünschen, werden wir weder in der Zukunft, noch in der ständig komplexer und verrückter werdenden Welt finden. Deshalb ist es wichtig, im Unternehmen Selbstbewusstsein zu fördern, Haltung zu entwickeln, Verbundenheit zu stärken und Verantwortung zu übernehmen, um bei der Arbeit mehr Freude und Freiheit zu erfahren. Es geht um ein gelingendes Miteinander, nicht um ein Gegeneinander. Es geht um Sinnorientierung beim Einzelnen und innerhalb einer Gemeinschaft, aber auch darum, andere führen zu können, damit sie ihre Persönlichkeit in die Organisation einbringen können. Denn ohne Führung gibt es keine gelingende Gemeinschaft.

Die Grundlage

Wesentlich in einem Unternehmen ist, dass Mitarbeiter und Führungskräfte nicht versuchen, eine Rolle zu spielen, sondern ganz einfach nur sind. Welche Fragen sollte sich eine Führungsperson stellen, wenn er oder sie das Wesentliche in der eigenen Firma erkennen möchte? Sie lauten:

1. Was möchte ich den Menschen mit meinem Unternehmen geben?
2. Vermittle ich Hoffnung?
3. Fühlen sich die Menschen in meinem Unternehmen verstanden?

Ist das Wesentliche offengelegt, kann all das passieren, was wichtig ist: Keiner der Mitarbeitenden fühlt sich an die Firma angebunden, besonders, wenn es nicht gut für ihn ist. Es entwickeln sich kreative Ideen, die nicht allein von der Führungskraft kommen; alles wird gemeinsam geschultert. Die Führungskraft selbst hat nicht nur den wirtschaftlichen Faktor im Blick, sondern macht das, was Pater Anselm ›das Aufrichten von Menschen‹ nennt. Wahrheit kehrt ein: Die Stärken und Schattenseiten eines Unternehmens werden klar ausgemacht.

Viele Unternehmen – auch Klöster – sind von Schattenseiten betroffen, wollen etwas Besonderes sein: Klöster etwa besonders asketisch oder besonders gläubig. Eine Oberin, so Pater Anselm, hatte ihr Kloster zum Haus der Liebe erklärt. Einer der Mitarbeiter meinte daraufhin: »Seitdem wir ein Haus der Liebe sind, wird es hier immer kälter.« Unternehmen und Einrichtungen mit einem hohen Anspruch neigen dazu, Überbilder zu konstruieren. Wer sich nur von seiner besten Seite zeigen will, verkrampft auf Dauer. Das ist viel zu anstrengend. Menschen haben ihre Schwächen, und diese dürfen bei einer Veränderung nicht außer Acht gelassen werden. Pater Anselm sagte über mich als Unternehmer: »Bei unserer ersten Begegnung warst du sehr kopflastig. Du hast unter einem großen Leistungsdruck gestanden, warst sehr ehrgeizig, wolltest unbedingt dein Leitbild durchsetzen. Inzwischen hast du Lust zum Gestalten, stehst mit deinen Leuten in Beziehung.«

Diese Umkehr war möglich durch drei weitere Fragen, die mir geholfen haben, zur eigenen Wahrheit zu gelangen:

1. Kann ich Stille aushalten? Nur in der Stille kommt die eigene Wahrheit zum Vorschein. Jesus sagt, dass nur die Wahrheit frei macht.
2. Ist mir klar, was ich will?

3. Darf ich mich auch in meiner Wahrheit zeigen, oder darf ich nur die guten Seiten von mir präsentieren? Muss ich Rollen spielen und mich ansonsten verstecken?

Wer sich diesen Fragen stellt, wird nicht mehr nach einem Sündenbock suchen, dem er den ganzen Dreck aufladen kann und der letztlich von einem selbst ablenkt. Diese Fragen helfen einem, wenn man mal wieder dabei ist, sich selbst beweisen zu wollen. Niemand ist frei vom Ego. Es ist auch notwendig, um Kraft zu haben, einen Antrieb zu spüren. Aber ich kann mein Ego wahrnehmen und es auch lassen. Es muss durchlässig sein, man darf nicht in seine Falle geraten. Ist das Ego durchlässig, ist es auch möglich, diejenigen, die – bildlich gesprochen – auf der Zuschauerbank sitzen, zum Mitspielen auf dem Feld einzuladen.

Im Jahr 2013 hat das Unternehmen in einem Workshop gemeinschaftlich ein neues Leitbild entwickelt. Der daraus resultierende Wertebaum enthält zwölf Werte. Für ein einheitliches Verständnis wurde zu jedem Wert ein Slogan entwickelt, der die Bedeutung erläutert. Dieser Wertebaum ist seitdem das Herz der Unternehmenskultur von Upstalsboom.