»Wir haben Wunder erlebt!« Das sagt Christhard Elle, Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche in Bremerhaven, immer wieder. Dass seine totgesagte Gemeinde wieder aufblüht und wächst, das ist ein solches Wunder. Was in Bremerhaven passiert ist, hat er idea-Redakteur Klaus Rösler erzählt.

Die Gemeinde hat eine bewegte Geschichte. 1850 gegründet, damit eine der ältesten Gemeinden dieser Freikirche in Deutschland, kümmert sie sich anfangs vor allem um Auswanderer in die USA, die auf die Abfahrt ihres Schiffes warten. Die Menschen können in der Methodistengemeinde in Bremerhaven das Handwerkszeug erlernen, das nötig ist, um in der Ferne als Christ zu leben. Doch dann bleiben die Auswanderer aus. Hat die Gemeinde jetzt noch ihre Existenzberechtigung? Mitglieder ziehen fort oder sterben. Die, die bleiben, drehen sich vor allem um sich selbst. Die Gemeinde wird immer kleiner. Die methodistische Friedenskirche verfällt. Die Gemeinde fasst 2006 den Beschluss, die Kirche zu verkaufen – aber niemand interessiert sich für das Gebäude in der Innenstadt. Schließlich wird die Kirchenleitung eingeschaltet. Auch sie hat den Eindruck, dass es für die übriggebliebenen zwölf Methodisten im Seniorenalter in Bremerhaven keine Zukunft mehr gibt ...

Wenn Gott spricht

Christhard Elle hört von der ernsten Situation. Die Arbeit des leitenden Pastors der Gemeinden Hannover und Wunstorf und Referenten für Gemeindeaufbau im Evangelisationswerk der Evangelisch-methodistischen Kirche läuft gut. Wunstorf ist ein Vorzeigeprojekt. In einer Veranstaltungs­kneipe treffen sich regelmäßig über 70 Besucher zum Gottesdienst. Nach und nach entwickelt sich daraus eine (Kneipen-)Gemeinde.

Elle stutzt, als er bei einer Konferenz den zuständigen Superintendenten der Frei­kirche, Uwe Onnen (Hamburg), sagen hört: »Wir werden Bremerhaven wohl schließen müssen.« Dieser Satz trifft ihn. Er rührt Schichten in Elle an, von denen er nicht mal weiß, dass es sie bei ihm gibt: »Das war wie ein Flash vom Himmel.« Er ahnt: Hier hat Gott zu mir gesprochen. 

Er fährt nach Bremerhaven, schaut sich in der Stadt um. Die EmK-Gemeinde besucht er nicht. Doch eine Frage lässt ihm keine Ruhe mehr: Soll ich nach Bremerhaven wechseln? Kann das für ihn der Wille Gottes sein? Er empfindet einen großen inneren Frieden bei dem Gedanken. Er bespricht es mit seiner Frau Karin. Auch sie findet ihr »Ja« zu diesem Abenteuer. Dann sucht er seine Vorgesetzten auf. Die reagieren zuerst verstört. Aber schließlich sendet Bischöfin Rosemarie Wenner (Frankfurt am Main) ihn mit einer halben Stelle nach Bremerhaven. Er bekommt eine Frist von vier Jahren. Sollte sich bis dahin immer noch nichts in Bremerhaven geändert haben, wird die Gemeinde geschlossen.

Als Zeichen, dass es Elle mit der Berufung sehr ernst ist, verkauft die Familie ihr Haus in Hannover und zieht im Herbst 2010 um. Als erstes versucht der neue Pastor, eine neue Bleibe für seine Gemeinde zu finden. Denn mit zwölf älteren Leuten sonntags in einer viel zu großen und dringend renovierungsbedürftigen Kirche Gottesdienst zu feiern, das deprimiert. Doch er findet nichts. 

Zugleich fragt er sich und die Gemeinde: Wofür braucht es eigentlich Methodisten in der 130.000-Einwohner-Stadt? Was kann man hier mit einer Rentnertruppe machen? Dann haben auch noch fast alle Probleme: Ehen sind kaputt, viele sind körperlich oder seelisch krank, ohne Arbeit. Den Bürgern in der Nachbarschaft der Kirchengemeinde geht es ebenso. Viele sind einsam, alleinerziehend, entmutigt. Elle hat eine Idee: Was wäre, wenn gerade diese Menschen durch Gott verändert würden und Heilung erlebten? Wenn Menschen die Methodistengemeinde als »heilende Gemeinschaft für eine gebeutelte Stadt« erleben? Die eigene Schwäche soll zur Stärke und zum Profil der Gemeinde werden. Doch wie kommt man dahin?

Die Lokalpresse berichtet ausführlich über die Aktivitäten der Gemeinde. So melden sich immer wieder Menschen, die mithelfen wollen. Chöre singen. Musiker spielen, Baufachleute unterstützen die Renovierung.

Gottesdienste im Freien

Elle fällt gemeinsam mit seinen Senioren einen verwegenen Beschluss: Wenn die Leute nicht in die Kirche kommen, dann geht die Gemeinde raus zu ihnen. Einmal im Monat soll deshalb der Gottesdienst unter freiem Himmel irgendwo in der Stadt stattfinden.

Am 4. Advent 2010 ist es erstmals soweit. Auf dem 11 Meter hohen Drachenberg soll ein Weihnachtsgottesdienst stattfinden. Die Behörden geben grünes Licht. Dieser Gottesdienst wird zu einem tiefgreifenden Einschnitt für Elle und die Gemeinde. »Der liebe Gott hat es so stark schneien lassen, dass ganz Bremerhaven auf dem Drachenberg war, um Schlitten zu fahren«, erinnert er sich. Die Gemeinde stellt auf dem Berg ein mobiles Kreuz auf, die Krippe daneben, zündet ein Feuer an und lädt die Wintersportler ein, mit ihnen gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Über 80 Interessierte lassen sich einladen. Sie setzen sich auf ihre Schlitten und hören zu. »Das war für mich eine Berufungsbestätigung«, sagt Elle.

Seitdem ist die Gemeinde einmal im Monat irgendwo in der Stadt anzutreffen: in der Fußgängerzone, auf dem Friedhof, am Weser­deich, im Auswandererhafen. Das Wetter spielt keine Rolle. Immer hat die Gemeinde ihr mobiles Kreuz dabei.

Und auch ein Pkw-Anhänger mit einer knallroten Plane weist Interessenten den Weg. »EmK-Bremerhaven« ist darauf zu lesen, dazu die Gottesdienstzeiten. Und ein Schlagwort: »Die MitGlaubKirche«. Was ist das? Elle erklärt: »Glaube und Kirche so zu leben, dass auch Menschen des 21. Jahrhunderts die Liebe Gottes erfahren und zwar in Worten und Formen, die ihnen vertraut sind. Und jeder darf gleich mitmachen, egal, was und wie viel er mitbringt. Darum MitGlaubKirche!«

Die Lokalpresse berichtet ausführlich über die Aktivitäten der Gemeinde. So melden sich immer wieder Menschen, die mithelfen wollen. Chöre singen. Musiker spielen, Baufachleute unterstützen die Renovierung. Und immer wieder wird eingeladen: Obwohl die Gemeinde anfangs nur zwölf Gottesdienstbesucher hat, lässt der Pastor zwischen 1.000 und 5.000 Gemeindebriefe drucken, die in der Stadt verteilt werden.

Bei einem der Freiluftgottesdienste fragt eine neue Besucherin das Begrüßungsteam direkt: »Wo kann ich denn hier meine Lasten ablegen?« Es hat sich herumgesprochen, dass man das in dem Gottesdienst nach der Predigt symbolisch tun kann, indem man Steine unter dem Kreuz ablegt. Mit ihr gehen auch viele andere: »Der Strom wollte gar nicht abreißen.« Und bei der anschließenden Abendmahlsfeier wird dem Pastor zum ersten Mal bange, ob das Brot wirklich ausreicht. Denn jeder ist eingeladen. »Wenn Jesus Christus bei der Einsetzungsfeier für das Abendmahl sogar mit seinem späteren Verräter Judas gefeiert hat, gibt es für Methodisten keine Gründe, irgendjemand das Abendmahl zu verweigern, der Jesus Christus begegnen möchte«, erläutert Elle.

Das Motto der Gemeinde – »eine heilende Gemeinschaft für eine gebeutelte Stadt« – ist Wirklichkeit geworden.

Zeichen des Neuanfangs

Auch in die normalen Sonntagsgottesdienste kommen immer wieder neue Besucher. Inzwischen hat sich die Mitgliederzahl mit knapp 60 mehr als vervierfacht. Es kommen mehr als 70 Besucher. Elle freut sich längst, dass der Verkauf der Friedens­kirche gescheitert ist. Denn jetzt braucht man den Platz. Inzwischen ist das Gotteshaus renoviert worden – auch dank Baufachleuten, die sich aufgrund der Freiluftgottesdienste für die Gemeinde interessierten. Völlig überraschend hat die Gemein­de von einer Dame, die zu einer Nachbar­gemeinde gehörte, ein Erbe erhalten. Für die 25.000 Euro werden die Fenster renoviert. Neue Stühle wurden bei »ebay« ersteigert, erzählt Elle, »kaum genutzte Stapelstühle aus dem Hilton-Hotel in Bremen, für 14,50 Euro das Stück!«

Obwohl die Gemeindemitglieder selber kaum Geld haben, beteiligen sie sich beachtlich an der Renovierung. Schließlich hat die Kirchenleitung den Beschluss aufgehoben, die Friedenskirche zu verkaufen.

Das Gemeindeleben ist aufgeblüht. Dienstags startet um 9 Uhr eine Bibelstunde – mit einem Frühstücksbuffet. Einmal im Monat findet in der Kirche ein Abendmahlsgottesdienst statt: mittendrin ein einfaches Abend­essen. »Viele Leute sind es nicht mehr gewohnt, miteinander zu essen. Wir bieten ihnen diese Möglichkeit«, so Pastor Elle. Es gibt einen Männer­hauskreis, der sich auf einem Schiff versammelt, auf dem ein Teilnehmer lebt. Manchmal fahren die Männer sogar raus auf die Nordsee. Zusätzlich werden ein Frauenhauskreis, ein Frauenkreis für Ältere sowie ein Treff für Leute ab 50 angeboten. Einmal im Monat treffen sich die Methodisten mit Christen aus der Stadt zum Stadtgebet. Auf dem Plan steht auch ein monatliches Heilungsgebet. Es hat sich herumgesprochen, dass man dort für sich beten lassen kann. Ohne großes Aufheben wird einfach um Gottes Eingreifen in das Leben der Hilfesuchenden gebetet. Manchmal wird Elle bange vor den Erwartungen der Hilfesuchenden. Da schauen Menschen im Rollstuhl vorbei oder eine Frau, die an Krebs erkrankt ist.

Das angedachte Motto der Gemeinde – »eine heilende Gemeinschaft für eine gebeutelte Stadt« – ist Wirklichkeit geworden.

Spannend ist, dass die Gemeinde tatsächlich die Besucher erreicht, die Probleme mit sich und dem Leben haben, die dringend Hilfe und Unterstützung brauchen. Sie kommen – und erhalten hier zugleich eine neue »Familie«. Denn so fühlt sich diese Gemeinde an.

Für Pastor Elle ist es ein Augenzwinkern Gottes, dass er, der auszog, eine noch »hippere« Gemeinde als die Kneipen­gemeinde in Wunstorf zu gründen, nun einer so »klassischen« Gemeindearbeit vorsteht. Aber es ist für ihn ein befriedigendes Gefühl zu wissen, dass er an der Stelle ist, an der Gott ihn haben will.

 

Über die Einflüsse und Wirkung von Willow sagt Pastor Christhard Elle:

»Vieles von dem, was mich in meiner Gemeindearbeit heute prägt, ist zurückzuführen auf den ersten Willow-Kongress 1996 in Hamburg. Das Thema, Kirche für diejenigen zu sein, die noch nicht dazugehören, begleitet mich seitdem. Mehr noch: Es hat sich zu einem persönlichen, klaren Auftrag entwickelt. Als ein Willow-­Beeinflusster der ersten Stunde nutze ich auch heute noch die Willow-Veranstaltungen als wichtige Inspirations- und Weiterbildungsmöglichkeit.«

Willow hat unsere Arbeit in mehrfacher Hinsicht besonders beeinflusst:

1  Unsere Gemeinde in Bremerhaven lebt wieder, weil sie konsequent ihrem Auftrag folgt – eine heilende Gemeinschaft für eine gebeutelte Stadt zu sein. Alle unsere Ressourcen dienen diesem Auftrag.

2  Dieser Auftrag ist nicht nur der Gemeinde­leitung bekannt. Jeder in der Gemeinde kennt den Auftrag, kann ihn begründen und lebt ihn im Alltag.

3  Möglichst viele Menschen sollen das Evangelium hören. Weil die Menschen aber eine große Schwellenangst haben, veranstalten wir 10 Gottesdienste pro Jahr im Freien. Hier finden wir die Suchenden tatsächlich. Für uns ist dies eine Übertragung der Willow-Gottesdienste, die in ihrer Form und Sprache auf Menschen ausgerichtet sind, die keinen kirchlichen Hintergrund haben.

4  Bei allen Formfragen denken wir stets darüber nach, ob sie den Menschen, die geistlich auf der Suche sind, wirklich helfen oder ob nur wir Gemeindeglieder daran hängen.

5  Auch die Erkenntnisse aus der REVEAL-Studie von Willow sind in unsere Konzeption eingeflossen. Nur Teilnehmer einer Veranstaltung zu sein, bringt niemanden auf seinem geistlichen Weg weiter.  Eine Gemeinde muss vielmehr Möglichkeiten schaffen, dass Menschen in unterschiedlichem geistlichem Reifegrad Fortschritte im Glauben machen können.

6  Wir suchen keine Mitarbeiter, die Lücken im Dienstplan füllen. Vielmehr fragen wir jeden in der Gemeinde: Was hat Gott mit dir speziell vor? Das hat auch dazu geführt, dass wir um solch persönliche Berufungen einen neuen Dienst entwickelt haben – weil er zum Gesamtkonzept der Gemeinde passte.