Wenn in nationalen Umfragen Pastoren nach der einflussreichsten Gemeinde der USA gefragt werden, entscheiden sie sich häufig für die Willow Creek Community Church in einem Vorort von Chicago. Die denominationell nicht gebundene Megachurch, die 1975 von Pastor Bill Hybels gegründet wurde, zieht jedes Wochenende mehr als 25.000 Besucher in ihre Gottesdienste. Hybels, 64, ist ein sanfter und unaufdringlicher Mann und ein ›Schwergewicht‹ in der Welt des Glaubens. Er hat das Thema der sozialen Gerechtigkeit zu einer der tragenden Säulen seiner Gemeinde gemacht.
Willow Creek bringt Pastoren aus armen Ländern – z. B. Guatemala und Malawi – nach Chicago, wo sie bei Gemeindegliedern wohnen und häufig intensive und lang anhaltende Freundschaften schließen. Da ist es gar nicht ungewöhnlich, dass Chicagoer Geschäftsleute auf einer Dienstreise nach London den Umweg über Malawi machen. In Afrika engagiert sich Willow Creek besonders für den Kampf gegen HIV/AIDS. Ehrenamtliche reisen nach Afrika, um mit Ortsgemeinden in Hilfsprojekten oder auch beim Brückenbau zusammenzuarbeiten. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Stärkung von Frauen und dem Kampf gegen Sexhandel – national und international. Außerdem gibt es in der Gemeinde eine Gruppe, die sich für Rechte von Gefängnisinsassen einsetzt und Gemeinde-mitglieder ermutigt, ehrenamtlich in Gefängnissen zu arbeiten. Wir waren in der Willow Creek-Gemeinde, um speziell über die wichtige Thematik der Stärkung von Frauen zu sprechen, und gerieten mitten hinein in die Vorbereitungen zum Projekt ›Saatgut für Simbabwe‹: Ehrenamtliche opferten ihre Zeit, um 530.000 Päckchen mit hochwertigem Saatgut für (überwiegend weibliche) Farmer in Simbabwe zu packen. Jeder Gottesdienstbesucher bekam an diesem Tag eine in bunten Farben gestrickte Tasche, in die er oder sie die Spende für den Kampf gegen globale Armut legen konnte. Am Montag kam eine FedEx-Fahrerin ins Gemeindebüro und gab dort eine der Taschen ab. »Die habe ich auf dem Parkplatz gefunden«, erklärte sie, »das ist doch bestimmt ein Portemonnaie.« Die Mitarbeiterin erklärte ihr, worum es sich eigentlich handelte, woraufhin die Fahrerin die Tasche mit neuem Respekt betrachtete. Sie sagte: »Ich gehöre zu keiner Gemeinde und denke auch nicht viel über Religion nach. Aber wenn ich eine Gemeinde suchen würde, würde ich mich bestimmt für die hier entscheiden.«
ERFÜLLUNG OHNE PEINLICHKEIT
Vor einiger Zeit hat Willow Creek das ›Care Center‹ eröffnet, ein sozial-diakonisches Zentrum, in dem Menschen aus der Umgebung, bei denen es im Leben nicht so gut läuft, Hilfe und Unterstützung erfahren. Überwiegend Ehrenamtliche geben Obdachlosen Unterkunft, versorgen bedürftige Kinder mit Kleidung, geben selbst angebautes Gemüse ab. Außerdem gibt es zahnärztliche Behandlung, Rechtsberatung und Unterstützung beim Schreiben des Lebenslaufs für die Jobsuche. Und wenn das Auto kaputt, eine Reparatur aber finanziell unerschwinglich ist, dann schauen die Mitarbeitenden sogar unter die Motorhaube und sehen, was sie tun können. Für all das braucht man eine kleine Armee von Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, einschließlich Rechtsanwälten, Mechanikern und Gartenfreunde mit einem ›grünen Daumen‹.
Mega-Kirchen sind anders als ›normale‹ Gemeinden. Ein Teil ihres Erfolgs hängt mit ihrer ausgeprägten Kommunikationsfähigkeit und dem Eingehen auf ihr ›Publikum‹ zusammen. Gelebte Nächstenliebe ist für sie eine fröhliche, befriedigende und lohnende Erfahrung. Das Engagement für den Nächsten (der nicht unbedingt geografisch nah sein muss) ist für sie keine Pflicht, kein ›Abtragen von Schuld‹, sondern die Möglichkeit, wirklich etwas zu bewegen und den eigenen Horizont zu erweitern. Es ist gesellschaftliches Aktiv-werden, eine Möglichkeit, mit Freunden zusammenzuarbeiten und neue Bekanntschaften zu schließen. Und es muss einem überhaupt nicht peinlich sein, dass all das außerdem noch Spaß macht und Erfüllung bringt. Weltliche Organisationen können viel von der Freude lernen, die Hybels und andere durch den Akt des Gebens und das Engagement für soziale und diakonische Projekte vermitteln.
»Evangelikale überlassen ihr Image herausgeputzten TV-Predigern, die sich auf Homosexuelle eingeschossen haben.«
Langfristig gesehen wäre es eine enorme Hilfe, wenn weltliche und christliche Organisationen eine größere Bereitschaft zur Zusammenarbeit an den Tag legen würden, durch die weltweit neue Chancen eröffnet werden könnten. Beide Seiten leisten Großartiges auf dem Gebiet der humanitären Hilfe, und es könnte noch mehr sein – besonders im Bereich Menschenrechte – wenn man (mehr) zusammenarbeiten würde. Die ›Gotteskluft‹ des Misstrauens, teilweise auch Folge einer Gift verspritzenden amerikanischen Politik, erschwert das gemeinsame Vorgehen gegen die gemeinsamen Feinde der Menschlichkeit, was bedeutet, dass für Themen von allgemeinem Interesse, z. B. nationale Armut, einfach nicht genug Kooperation besteht.
EVANGELIKALE NABELSCHAU
Die Verantwortung für diese Gotteskluft liegt durchaus auf beiden Seiten. Die Evangelikalen überlassen Imageaufbau und -pflege herausgeputzten Fernsehpredigern, die sich auf Homosexuelle eingeschossen haben und sich leidenschaftlich für das menschliche Leben engagieren –
allerdings nur bis zur Geburt. Einer Studie zufolge verbinden sogar Teenager und Twens das heutige Christentum überwiegend mit Begriffen wie ›homosexuellenfeindlich‹, ›verurteilend‹, ›zu politisch‹ und ›heuchlerisch‹. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts spielte der Vatikan eine eher tragische Rolle, indem nämlich das Kondomverbot einen unrühmlichen Beitrag zur Ausbreitung von AIDS leistete. Der überzeugte Christ Richard Stearns, der eine Erfolg versprechende Karriere in der freien Wirtschaft aufgab, um das christliche Hilfswerk World Vision zu leiten, beschreibt in seinem bewegenden Buch ›Das Loch in unserem Evangelium‹ das Entsetzen, das ihn beim Anblick von AIDS-Waisen in Uganda überfiel. »Am meisten quälte mich dabei die Frage: Wo ist hier die Gemeinde?«, so schreibt er. »Wo sind die Nachfolger Christi mitten in dieser vielleicht größten humanitären Katastrophe unserer Zeit? Die Gemeinde muss sich doch um diese ›Witwen und Waisen in ihrer Not‹ kümmern (Jakobus 1,27).« Stearns zerreißt es das Herz, wenn er eine Gemeinde sieht, »die genug Geld für große Kirchenbauten hat, aber zu wenig Bereitschaft für den Bau von Schulen, Krankenhäuser und Kliniken.« Nicholas Kristof ist Journalist der New York Times. Der Textauszug stammt aus seinem aktuellen Buch ›Ein Pfad entsteht. Chancen eröffnen, Leben verändern. Inspirierende Geschichten aus der ganzen Welt‹; Verlag C.H. Beck. München 2015. Kristof und seine Ehefrau Sheryl WuDunn – Co-Autorin des Buches – sind Träger des renommierten Pulitzer-Preises. Übersetzung des Auszugs: Antje Gerner Co-Autorin des Buches – sind Träger des renommierten Pulitzer-Preises. Übersetzung des Auszugs: Antje Gerner
»Wenn säkulare Kritiker Evangelikale
verhöhnen, zeigen sie genau die Engstirnigkeit,
die sie bei den religiösen
›Frömmlern‹ belächeln.«
HEUCHLERISCHE LIBERALE
Aber auch die säkulare Linke hat ihren Beitrag zur Gotteskluft geleistet. Einerseits rühmen sich die Liberalen ihrer Toleranz, andererseits machen sie sich lustig über den Glauben von konservativen Evangelikalen und Katholiken und ignorieren das Gute, das diese Menschen durchaus tun. Sie üben heftige Kritik an der Haltung des Vatikans zum Thema Kondome, aber sehen nicht, dass die Kliniken in den ländlichen Gebieten Afrikas, die auch AIDS-Patienten behandeln, häufig katholisch geführt sind – und dass die dortigen Priester und Nonnen manchmal Kondome verteilen, um AIDS zu bekämpfen. Wer in abgelegene, unsichere und krisengeschüttelte Teile der Welt reist, wird fast überall Nonnen und Priester treffen, die dort das Evangelium leben. Als Anfang 2014 ein christlicher Mob in der Zentralafrikanischen Republik wütete und Muslime abschlachtete, waren es häufig katholische Priester, die das eigene Leben riskierten, um den Verfolgten Schutz und Obdach zu gewähren. 1994, beim Völkermord in Ruanda, blieb nur ein einziger Amerikaner in der Hauptstadt zurück: Carl Wilkens, Missionar der 7-Tage-Adventisten, schickte seine Familie nach Hause und blieb, um Überlebende zu versorgen und bei seinen Streifzügen durch die Stadt noch mehr Menschen zu retten. Wilkens rechnete damit, dass man ihn auch ermordete, und dass er, sollte er überleben, seinen Job verlieren würde, weil er sich den eindeutigen Anweisungen zur Evakuierung widersetzt hatte. Und doch blieb er. Solche Menschen verdienen Anerkennung, nicht Verachtung.
Auch in den USA engagieren sich Kirchen und Gemeinden auf eine Art und Weise für die Unterstützung von Armen und Obdachlosen, die die säkulare Linke häufig nicht sieht, geschweige denn anerkennt. Unzählige Lebensmittelausgaben und Suppenküchen im ganzen Land werden von ehrenamtlich arbeitenden Gemeindegliedern geleitet. Dasselbe gilt für die Sammlung von warmer Kleidung, die an Bedürftige verteilt wird. Das Engagement umfasst manchmal sogar ärztliche und zahnärztliche Versorgung, so dass in vielen ländlichen Gebieten der USA die Ortsgemeinden diejenigen sind, die sich um Arme und Bedürftige kümmern.
Immer wieder behaupten Liberale fälschlicherweise, dass christliche Hilfsgruppen nur denen helfen, die ebenfalls Christen sind. Die Opfer, die manche Christen bringen, werden von ihnen nicht wahrgenommen. In den vergangenen fünf Jahren kam zum Beispiel die Hälfte der Lebensmittelhilfe für Haiti von Organisationen mit einem religiösen Bezug wie World Vision, die vor Ort über ein großes Netzwerk verfügen. Wenn säkulare Kritiker evangelikale Christen verhöhnen, dann zeigen sie damit genau die Engstirnigkeit, die sie bei ihren ›Opfern‹, den religiösen ›Frömmlern‹, belächeln. Religiöse Amerikaner spenden mehr für wohltätige Zwecke und engagieren sich intensiver ehrenamtlich, als jede andere Gruppe. Würden die Liberalen sich mit verächtlichen Äußerungen zurückhalten und religiöse Konservative ihre Heuchelei eindämmen, könnten sie die gemeinsamen Feinde der Menschlichkeit wahrscheinlich sehr viel erfolgreicher bekämpfen.