Die Glocke im Turm schlägt wieder. Vorerst provisorisch. Am Himmelfahrtstag 2021. Die Klänge: Nur einfache Töne und doch von Bedeutung: Ein halbes Jahrhundert war es still um die 750 Jahre alte romanische Kirche: 1970 aufgegeben, verfiel sie. Eine Ruine.
Wendezeit
2011 kaufen Dorit und Eckehard Hofmüller das alte Pfarrhaus von der Landeskirche, sanieren es und siedeln 2013 nach Rieda um. In den Monaten danach fragt eine andere Familie aus dem Dorf Hofmüllers, ob sie neben dem Pfarrhaus nicht auch die Kirche wieder aufbauen wollten. Eckehard Hofmüller lacht: Der Efeu wucherte am Kirchgemäuer wie die Hecke vor Dornröschens Schloss. Dann bringt auch die freie Evangeliumsgemeinde Halle, zu der Hofmüllers gehören, einen Wiederaufbau ins Spiel. Schließlich taucht ein Architekt auf, ein Nachfahre der alten Rittergutsherren: Ihm liegt die Rettung der Kirche seiner Vorfahren am Herzen und er sucht engagierte Leute vor Ort …
Kirche mit Vision
Eckehard Hofmüller ist unsicher: Wie viel Sinn hat eine Kirche ohne Gemeinde? Im Dorf waren zuletzt noch sechs Leute Kirchenmitglied: »Die Ruine hat den geistlichen Zustand ausgedrückt«, sagt er.
Und doch: Die Kirche ist den Menschen bekannt, ein ›Kristallisationspunkt‹ im Dorf, findet Hofmüller. Und aus der anfänglichen Skepsis wächst allmählich die Vision, »dass in diese alten Mauern wieder geistliches Leben einkehrt«.
Warum das Wunder ein Wunder ist
Im Frühjahr 2015 geht es los. Nach Gesprächen mit der Landeskirche wird die Evangeliumsgemeinde Halle Schirmherrin. Die Landes-Denkmalbehörde begleitet das Bauprojekt. Wundersamerweise glückt die Finanzierung ohne große Sorgen. »Es war eng, aber immer passend«, sagt Eckehard Hofmüller. »Als das neue Dach dran war, hatten wir das Geld dafür nicht – aber durch eine Spende traf die nötige Summe exakt zum richtigen Zeitpunkt ein.« Lukas Gotter sieht in unerwarteten EU-Fördermitteln (»die hätte ich mir niemals erträumt«) »eine Versorgung durch Gott.«
»Die Ruine hat den geistlichen Zustand ausgedrückt.«
Außerdem erleben die Hofmüllers, Lukas Gotter und ihre Gemeinde, dass weitere Leute in den Ort ziehen oder dass sich plötzlich freiwillige Aufbauhelfer aus dem Dorf melden, die eigentlich mit Kirche nichts am Hut haben, so wie ein Maurer oder ein Elektriker aus dem Nachbardorf, der sich seitdem an jedem Bau-Samstag um die Installation kümmert. So sind »viele Leute seit Jahren treu dabei. Sie kamen immer zum richtigen Zeitpunkt.«
So wie – kein Scherz! – ein Bollywood-Regisseur aus Indien: Auf seiner Europareise war er über eine ›Work & Travel‹-Webseite auf das Projekt aufmerksam geworden. Er arbeitete gern mit Holz und baute an der Empore mit. »Der war vom Himmel geschickt«, glaubt Dorit Hofmüller. Denn just zu der Zeit war dem örtlichen Zimmermann der Mitarbeiter ausgefallen … »Wir haben das alles so nicht geplant, aber es ist geschehen – und das empfinde ich als Wunder«, sagt Eckehard Hofmüller über den Bau.
Himmelfahrt – oder: Neues Leben im Dorf
Die Kirche in Rieda steht wieder, ist ein Schmuckkästchen im Ort. Am 13. Mai 2021, dem Himmelfahrtstag, ist sie neu eingeweiht worden. Seitdem finden regelmäßig Gottesdienste statt, ein Hauskreis ist entstanden. Die Menschen aus dem Dorf nähern sich vorsichtig. »Bauen ist ja ganz schön, aber den Fuß über die Schwelle einer Kirche setzen …«, erklärt Dorit Hofmüller.
Aber sie kommen. Lukas Gotter erzählt vom Gottesdienst am letzten Septembersonntag: »Da saßen nicht nur Leute, die ich kannte, sondern Menschen aus dem Dorf, die ich vorher noch nie gesehen hatte.« Einer von ihnen sagte hinterher: »Wenn ich das verpasst hätte, hätte ich mich geärgert, es war toll!«
Die neue Kirche ist schon jetzt ein Ort auch für das Dorf. In der Bauzeit hat sich ein öffentliches Adventssingen eingebürgert. Der örtliche Heimatverein findet hier einen Raum. Künftig könnten in der Riedaer Kirche auch Konzerte, Buchvorstellungen oder historische Ausstellungen stattfinden. Eine Teeküche soll bald eingerichtet sein. Dann ist auch ein Cafébetrieb denkbar, denn die Kirche liegt verkehrsgünstig an der ›Straße der Romanik‹ und der bei Radfahrern beliebten ›Salzstraße‹.