Im September ist Ulrich Eggers (66) als Geschäftsführer der SCM-Verlagsgruppe in den Ruhestand getreten. Willow-Vorsitzender bleibt er. In einer ›Biografie im Dialog‹ blickt Eggers im Gespräch mit dem Theologen Thomas Härry zurück auf wesentliche Meilensteine seines Lebens: die Gründung vieler Zeitschriften, das Initiieren denominationsübergreifender Projekte, das Vernetzen kirchlicher Beweger und Bewegungen, aber auch auf sein Engagement als 1. Vorsitzender von Willow Creek Deutschland. In einem Auszug spricht er hier über seine Erlebnisse rund um die Willow-­Kongress­bewegung. Die Biografie Der ›Ideen-Entzünder‹ erscheint im Februar 2022.

Thomas Härry: Eine wichtige Erfahrung waren die Reisen zur Willow Creek Community Church nach Chicago. Wie bist du mit dieser Gemeinde erstmals in Berührung gekommen?

Ulrich Eggers: Von Willow Creek und Bill Hybels zum ersten Mal erfahren habe ich durch Ulrich Parzany und sein missionarisches Magazin ›Schritte‹. ­Darin berichtete jemand über Willow Creek als positives Beispiel evangelistischer Gemeindearbeit.

Dann kam Hybels erstmals zu einem Gemeindekongress 1993 nach Nürnberg, bei dem ich allerdings nicht dabei war. Ich hörte mir hinterher die Kassetten davon an und war sehr berührt, wie die Gemeinde aus einer Jugendgruppe heraus aufgebaut worden war. Mich beeindruckte diese konsequente Ausrichtung auf Kirchenferne und die damit verbundene Übersetzungsarbeit: Wenn ich Menschen draußen erreichen will, muss ich mich von meinen Traditionswurzeln befreien und ihre Sprache sprechen, für sie verständlich sein. Dann kam es zu einem glücklichen Umstand, dass mich Wilfried Bohlen, der Leiter des Bereichs ›Heimatmission‹ in der baptistischen Zentrale in Bad Homburg, einlud, in den Vorstand für einen nächsten deutschen Kongress mit Hybels zu kommen.

Dadurch lerntest du dann Willow Creek vor Ort in Chicago kennen?

Als Vorbereitung für den Kongress sind wir als kleines Team in die USA geflogen. So etwas hatte ich bisher noch nirgendwo kennengelernt: Ich war restlos fasziniert von der absichtsvollen Durchdachtheit der missionarischen Strategie. Dieses Motto: »Alles, was wir in der Gemeinde tun, ist unserem missionarischen Paradigma unterworfen. Verlorene Menschen bedeuten Gott etwas. Kirche ist die Hoffnung für die Welt. Wir sind die Organisation, die für Menschen die Hoffnung von Jesus ausstrahlen kann.«

Dies vor Ort verkörpert zu sehen, wo ja all das blühte und lebte mit Kunst, Musik, Theater und starken diakonischen Elementen; zu sehen, wie Gemeinde praktisch funktionieren kann mit den beiden Händen Christi, die mir von der Lausanner-Bewegung her ja wichtig waren, hat mich restlos begeistert. Ich kam nach Hause und habe mich mit großer Überzeugung eingesetzt, die Philosophie und Praxis dieser Gemeinde in Deutschland bekanntzumachen. Darum ging es ja vor allem bei den ersten Kongressen.

Weshalb war es so wichtig, Willow in den deutschsprachigen Bereich zu holen? Die USA mit ihren Megakirchen und unsere deutschsprachigen Länder sind zwei sehr unterschiedliche Welten.

Am Anfang war Willow Creek vor allem eines: »Wir zeigen euch unser Modell und vermitteln, warum wir Gemeinde so bauen, wie wir es tun.« Mich begeisterte: Da wurde eine Gemeinde ausschließlich an einer missionarischen Strategie ausgerichtet. Es wurde gemacht, was dieser Strategie diente, und es wurde nicht gemacht oder wieder gelassen, was ihr nicht diente. Das gegen unsere Kirchenwirklichkeit zu halten, war sensationell! Und zwar egal, ob in Frei- oder Landeskirchen: Da gab es überall enormes Lernpotenzial. Du merktest, wie wenig oft noch übrig war von dem, was die Vision für Kirche ist – ihr Auftrag.

»Wenn Dein Herz nicht bewegt ist, bewegst Du nichts.«

Eine Kritik lautete, dass Kirchen nun beginnen mit Marketingmethoden zu arbeiten. »Das ist nicht biblisch!«, waren viele überzeugt.

Ich halte den Vorwurf für unberechtigt­ – und verstehe ihn zugleich. Natürlich steht sofort der Verdacht im Raum, hier würde auf Machbarkeit gesetzt. Nur: Schon die Bibel lehrt uns doch logische Zusammenhänge von Saat und Ernte! Ist das Glaube an Machbarkeit? Nein! Es ist die simple Erinnerung daran, dass man nicht ernten kann, wenn man das Säen vergisst!

Natürlich ist Gemeinde kein Wirtschaftsunternehmen und kann letztlich auch nicht so geführt werden. Gemeinde heißt: Alle Generationen sind da, Starke und Schwache, es gibt Hilfe und Predigt nach innen – und nach außen. Hier stößt ein rein funktionaler Wirtschaftsblick immer an Grenzen.

Vielerorts wollte man Kirche so gestalten wie bei Willow. Ich erinnere mich, dass Willow schon früh mit Theaterszenen im Gottesdienst arbeitete. Nach und nach hörten sie damit auf und setzten stärker auf Video. Das hat manche Willowfans irritiert, weil sie gerade erst begonnen hatten, mit Theaterszenen im Gottesdienst die Predigt zu unterstützen. Nun änderte Willow seinen Stil, weil ihnen anderes wirkungsvoller schien.

Willow ist einen Weg gegangen, den jede Gemeinde gehen muss, wenn sie bei ihrem Auftrag bleiben will, nämlich den Weg der ständigen Veränderung. Willow besteht ja nicht aus Methoden, sondern aus einer fokussierten biblischen Genetik: Auftrag, Gemeindeverständnis, Werte, Schritte, Methoden. Die Dinge sind von innen nach außen durchdacht – das Innen ändert sich nicht, das Außen ständig!

Ich bin über viele Jahre jeden Sommer eine Woche zum Global Leadership Summit gefahren – oft mit Pastorengruppen. Und jedes Mal war wieder etwas ganz anders. Aber immer zutiefst durchdacht! Purer Pragmatismus, wenn es um Methoden geht: Man misst sich und gibt sich Rechenschaft. Wenn eine Sache nicht mehr funktioniert, schafft man sie gnadenlos ab und erfindet etwas Neues. Natürlich irritiert das, wenn man gerade meint, man habe das Erfolgsmodell kapiert. Diese Freiheit, sich selbst ständig zu korrigieren, empfinde ich als Qualitätszeichen jeder Organisation und besonders von Willow.

Die Mehrheit der Leitenden und ­Gemeinden will wohl lieber etwas ­kopieren, statt die biblische ­Philo­sophie dahinter zu verstehen und im eigenen Kontext auf eigene Weise danach zu handeln.

Nachhaltige Entwicklung und Wachstum können aber nur so gelingen: Ich prüfe eine Idee im Blick auf ihren Grundimpetus. Warum ist sie gut? Ich gehe zurück an die Wurzel einer Form. Wenn die Wurzel gut ist, gewinnt das Projekt Formfreiheit, denn es geht ja um die Wurzel und nicht um die Form!

Und da gibt es das Missverständnis: Willow als magische Abkürzung. Wir würden so gern eine Formel finden, um all dieses mühsame Säen und Ernten, diesen langen, zähen Prozess von Beziehungsaufbau und Begleiten abzukürzen. Aber Liebe ist nun mal einfach Arbeit und Entscheidung – es gibt keine Abkürzung. Deswegen geht es an der Stelle um das eigene Herz – und um das der Gemeinde: Wollen wir überhaupt missionarisch sein?

Deswegen startet jeder Willow-Ansatz mit Gebet. Für wen? Für mich selbst: »Herr, berühr mein Herz, verändere mich, gib mir offene Augen für einen Menschen, gib mir neue Liebe!« Wenn das eine Gemeinde will – dann kann sich von innen her all die Kreativität und Leidenschaft entwickeln, die so etwas wie Willow möglich macht. Aber wenn dein Herz nicht bewegt ist, bewegst du auch nichts  …

Willow ist einen langen, ›erfolgreichen‹ Weg gegangen. Nun ist durch das Ausscheiden von Hybels und die damit verbundenen Vorwürfe von Machtmissbrauch und sexuellen Übergriffen eine Zäsur eingetreten. Und so muss diese Gemeinde aus dem Zerbruch heraus wieder neu beginnen. Vielleicht kann sie gerade darin wieder ein Vorbild sein, denn es gibt viele Leitende und viele Gemeinden mit Zerbruchsgeschichten. Wie siehst du das?

Eine Krise ist in der unmittelbaren Begegnung nichts Schönes, aber das ist nun mal das Wesen der Krise. Zwei Dinge kann man daraus lernen: einmal persönlich, einmal institutionell. Erfolgsphasen unterliegen automatisch einer Gefahr, nämlich diesem Gefühl: »Jetzt wissen wir, wie es geht!« Das geht mir in meiner Nachfolge mit Jesus auch so. Es gibt Momente in der eigenen Entwicklung, in denen man denkt: »Jetzt bin ich so weit, dass ich ein Stück Boden unter den Füßen habe! Ich habe etwas erlebt oder begriffen!« Mit diesem Gefühl im Rücken segelt man dann eine Strecke. Und auf einmal kommt der Absturz, weil man merkt: »Nix habe ich unter den Füßen, ich krebse genau an denselben Stellen oder ähnlichen Stellen wieder neu rum, muss wieder lernen.«

Die Gefahr des Höhenflugs besteht in einem Ausblenden der eigenen, noch immer vorhandenen Versuchlichkeit, der Schwäche und der Grundproblematik: Ich nehme mich mit … Trotzdem kannst du etwas lernen. Deswegen spreche ich an dieser Stelle von Wendeltreppen-Spiritualität: Du arbeitest dich durch schwere Erfahrungen langsam empor und wirst reifer - aber du kommst nie raus aus dieser Spannung! Das ist auch bei Gemeinden und Organisationen so. Es ist gefährlich, wenn du Erfolg hast. Es lässt dich schweben, sodass du dich blenden lässt und nicht mehr glaubst, dass nach dem Gipfel vermutlich ein Tal kommt oder gar ein Abgrund. Und du bist auch gar nicht darauf vorbereitet, weil diese Art der Flughöhe mit Herausforderungen verbunden ist, die du nicht kennst, denn du warst noch nie da, wo du jetzt stehst.

»Ich bin nach wie vor inspiriert und dankbar für all das Gute, was Hybels gelebt, entdeckt und gesagt hat.«

Eugene Peterson, der kürzlich verstorbene US-Pastor, kritisierte Megakirchen scharf. Sein Vorwurf: Da werden Konsumenten herangezogen. Man serviert ihnen ein auf ihr Lebensgefühl zugeschnittenes religiöses Menü. Man bedient ihre egoistischen Bedürfnisse. Dies, sagt Peterson, habe wenig mit der wirklichen Gemeinde von Jesus Christus zu tun. Was sagst du dazu?

Das mag es in den USA geben – bei Willow ist das nicht der Fall. Natürlich: Alles, was groß wird, unterliegt besonderer Kritik. Kann es da mit rechten Dingen zugehen? Entscheidend ist für mich die Frage: Was wird gepredigt und mit welchem Ziel? Ist es etwas Kostspieliges oder Billiges? Und da bin ich sehr gelassen: Nirgendwo habe ich so radikal kostspielige Predigten gehört wie bei Willow Creek. Die wollen keine Zuschauer, sondern Leute, die sich einbringen. Ihr Claim ist ja, Areligiöse zu hingegebenen Nachfolgern von Jesus machen zu wollen. Und das heißt für sie: voller Einsatz des Lebens, der Leidenschaften, des Geldes für dieses missionarische Ziel. Das ist reichlich ambitioniert und anstrengend.

Hybels war einer, der bis an die Grenze der Unverschämtheit Leute herausgebeten hat nach dem Motto: »Wenn du hier nur sitzt, um eine schöne Predigt zu hören, und dich nicht einbringen willst, dann geh! Es gibt genug andere Gemeinden, wo du das kannst!« Das fand ich oft zu hart – Gemeinde ist kein reiner Arbeitsplatz, sondern ein Zuhause für alle. Sie trägt Alte, lehrt Junge, fördert das Zusammenspiel der Generationen, achtet auf die Schwachen. Aber all das hat Willow nach meinem Empfinden sehr gut gemacht.

In deiner Leitungsrolle bei Willow Creek Deutschland hast du Bill Hybels persönlich kennengelernt. Wie hast du ihn in diesen Begegnungen erlebt?

Es war ein gegenseitiger Respekt da, man kannte sich, konnte sich aufeinander verlassen. Wir haben oft bei den Essen, die wir vor den Kongressen hatten, nebeneinandergesessen. Er war ein interessanter Gesprächspartner. Wann immer es um visionäre Themen rund um Gemeinde und christliche Szene ging, waren wir gut miteinander unterwegs. Er mochte keine Vielredner, kein Wort zu viel auf der Bühne. Auch da ging es immer um die Botschaft, keine Ego-Show. Er konnte da extrem streng und kritisch sein, hatte wirklich jedes Detail im Blick.

Zugleich stimmt es nicht, dass Willow nur durch und mit ihm zu dem geworden ist, was es wurde. Ja, er war der Visionär, der absolute Leiter, ein enorm starker Kommunikator. Aber er hatte auch ein starkes Team um sich herum, hat die besten Leute für die Willow-Vision gebunden. Und das waren wiederum keine Weichei­er, sondern echte Teilhaber an dieser großen Bewegung.

Ulrich Eggers – hier zusammen mit Bill Hybels bei einer Pressekonferenz anlässlich des Willow-Kongresses 1998 in Oberhausen – war einer der Pioniere, der sich ab Mitte der 1990er Jahre vor die damals heiß diskutierte Initiative von Willow Creek in Deutschland gestellt hat.

Und auf der zwischenmenschlichen Ebene?

Er konnte sich auf der Bühne verströmen, konnte und wollte aber persönlich nicht so nahbar sein, wie es das Bühnenbild vermittelte. Er brauchte Rückzugsräume. Wenn einer so viel Vision und Hoffnung abstrahlt, dann kann er nicht die gefüllten Herzen von Hunderten von Besuchern hinterher ganz nah an sich heranlassen. Das verzehrt sonst. Er hat nach jeder Predigt Leuten ermöglicht, mit ihm zu sprechen. Zugleich kostete ihn das enorme Kraft und Geduld.

Es gab einen spannenden Gegensatz: Er war supergeduldig und verständnisvoll gegenüber Ehrenamtlichen. Hat darauf geachtet, dass sie gefördert, gut behandelt und eingesetzt wurden. Gleichzeitig war er eckig und fordernd gegenüber Hauptamtlichen, die für ihre Sache bezahlt wurden. Es war sicher nicht einfach, unter ihm zu arbeiten. Davon haben wir auch in Deutschland während der über zwanzig­jährigen Kongressarbeit etwas gemerkt: seine Ungeduld, seine steilen Forderungen. Unsere manchmal natürlich auch am Anfang unbeholfenen deutschen Bemühungen, irgendwas einzuwerfen oder ergänzen zu wollen. Da konnte er auch schroff sein, ablehnend, abwehrend.

Vor etwas mehr als zwei Jahren hat sich der Wind gedreht. In der Presse gab es immer lautere Vorwürfe gegen Hybels: Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe. Wie sah deine erste Reaktion darauf aus?

Natürlich habe ich versucht, diese Vorwürfe in das einzubauen, was ich über diese Person wusste. Wir hatten im Lauf der Jahre ja auch die Ältesten der Gemeinde kennengelernt, starke Leute mit Ausstrahlung. Zugleich wurde im Nachhinein klar, dass sie wohl im Wesentlichen ein Unterstützerkreis für die Vision der Gemeinde und für das gute Tempo des Fortschritts waren. Sie hatten ein riesiges Grundvertrauen in Hybels, der ja mit Fehlern und Irrtümern durchaus auch offen umging. Ihr strategischer Ansatz war: »Wir räumen diesem gesegneten Mann Gottes aus dem Weg, was es aus dem Weg zu räumen gilt. Wir schützen ihn und unsere Vision.« Ein echtes kritisches Gegenüber im Sinne einer kontrollierenden Verantwortung und gemeinsamen Leitung oder auch nur einer Endverantwortung eines Ältestenkreises gab es sicher zu wenig.

Vereinfacht gesagt: Menschen wollen Helden. Sie wollen Helden sehen und sie wollen Helden fallen sehen.

Wir haben nicht gelernt, mit beidem umzugehen. Wir haben keine gute Theologie in Bezug auf Helden, die diese auch Menschen sein lässt. Ein David hat Menschen umgebracht, hat die Ehe gebrochen und dennoch verehren wir ihn heute fröhlich. Wie bewerten wir so etwas theologisch? Als billige Ausrede für Bill Hybels darf es nicht herhalten – aber eine Wahrheit wird hier dennoch deutlich: Gute tun Schlechtes und Schlechte tun Gutes – also arbeiten wir vielleicht mit den falschen Begriffen. Es gibt keine Schlechten und Guten, keine Helden und Versager, alle sind nur Menschen, die Potenzial nach beiden Seiten hin haben.

Wie bewerten wir das geistlich? Ist ein Mensch nur nach seiner allerletzten Sünde für uns verehrungswürdig oder stecken Sünde und böse Gedanken nicht noch in ihm, nachdem wir ihn schon verehren? Ich merke da eine Unwilligkeit, sich überhaupt mit so etwas Komplexem zu beschäftigen – wir wollen edle Helden oder müssen sie stürzen. Wir sehen das ja auch in der Politik heute, da werden schier übermenschliche Forderungen und Erwartungen erhoben.

Ich ärgere mich auch über unsere christliche Szene, wo die grundsätzliche Einsicht in diese Ambivalenz von Menschen zwar da ist, aber kaum Konsequenzen gezogen werden. Wir laufen fröhlich pfeifend durch die Gegend und sagen klug, dass für Leitende und Menschen und Christen generell der Umgang mit Geld, Sex und Macht das Schwierigste ist. Da passieren die großen Fehler, da lauert die Sünde. Wir wissen das, aber wir predigen kaum darüber, lehren nicht den Umgang damit, wir sind nicht ehrlich und sind dann überrascht, wenn gerade da immer wieder etwas passiert. »Ach, das hätte ich jetzt nicht gedacht! So etwas passiert einem so tollen Menschen?«

Hier müssen wir barmherziger miteinander werden und uns gegenseitig klüger schützen. Wie erreichen wir eine Transparenz, die nicht bloßstellt, aber zugleich brutal offen und hilfreich ist? Über die wirklichen Knackpunkte des ­Lebens, da wo es dunkel und gruselig wird, darüber reden wir zu wenig, da herrscht viel Einsamkeit.

Was heißt das für deinen heutigen Blick auf Hybels?

Da stehen zwei harte Wirklichkeiten unversöhnt nebeneinander. Ich bin nach wie vor inspiriert und dankbar für all das Gute, was Hybels gelebt, entdeckt und gesagt hat. Das bleibt für mich bestehen. Die deutschen Gemeinden haben ihm und den Konferenzen zu Recht viel zu verdanken. Gleichzeitig bin ich sicher, dass es bei ihm Machtmissbrauch gegenüber Frauen und Männern gegeben hat – das ist absolut nicht akzeptabel und muss klar benannt werden. Ich warte darauf, dass Bill dazu irgendwann einmal substantiell Stellung nimmt, und hoffe, dass das bald kommt. Die Frauen haben es verdient – und sein Lebenswerk genauso, das er durch sein Schweigen selbst belastet.

Zugleich gibt es nicht nur einen Schuldigen – auch wenn er klar der Auslöser des Konfliktes ist. Viele, die ihn kritisieren, waren Teil des Systems, haben mit ihm geleitet und standen ja direkt daneben. Und ich würde unterscheiden zwischen Machtmissbrauch, sexuellen Avancen und ehelicher Untreue, die ja auch im Spiel war. Lynne und Bill haben intensiv an ihrer Beziehung gearbeitet, die Dinge zwischen ihnen ­waren wieder in Ordnung, soweit ich das einschätzen kann. Auch da wurde jetzt natürlich manches wieder aufgerissen, was zum Teil aber auf einem anderen Blatt steht.

Entnommen aus: ›Der Ideen-Entzünder. Eine Biografie im Dialog‹; erscheint im Februar 2022 im SCM-Verlag.