Ein Leben auf der Überholspur – so könnte man die erste Lebenshälfte von Catrin Gekle zusammenfassen. 1968 in Reutlingen geboren, absolviert sie nach dem Abitur ihr Studium des Internationalen Marketing im Schnelldurchgang, gefolgt von einem fulminanten Start ins Berufsleben in der Modebranche. Dann die Hochzeit und der Wechsel ins Gesundheitswesen. Sie wird Partnerin eines Schweizer Beratungsunternehmens, baut dessen auf Gesundheit spezialisiertes Tochterunternehmen auf, ist Ehefrau und Mutter von zwei Kindern. 2005 wechselt sie auf die Vorstandsebene eines Klinikverbundes, wird zur Managerin des Jahres gekürt. Daneben baut sie eine Gemeinde und später eine weitere christliche Gemeinschaft mit auf. Catrin Gekle ist oben angekommen – doch was nun? Für das Willow CreekMagazin beschreibt sie, wie es sich anfühlt, wenn die Seele auf der Strecke bleibt, wie sie sich auf einen Weg zu sich selbst gemacht hat und warumWillow Creek eng mit ihrer Biografie verflochten ist.

Zäsur mit 40: Was soll ab jetzt wirklich zählen?

Ich war immer für meine sprudelnde Energie bekannt, lebte schnell, zielorientiert und erfolgreich. In allen Bereichen hatte ich mir Ziele gesetzt und sie erreicht, um gleich wieder zu neuen Ufern aufzubrechen. Dann kam mein 40. Geburtstag – eine optimale Zäsur für das Thema Lebensziele, wie ich fand. Ich betitelte ihn mit ›Halftime‹, nach dem gleichnamigen Buch mit dem Untertitel: ›From Success to Significance‹ – vom Erfolg zum Bedeutsamen, einer Buchempfehlung auf einem Leitungskongress von Willow Creek. Ich wollte meine zweite Lebenshälfte dem widmen, wozu Gott mich gemacht hat: Mein Bestes geben, um ein Stück der Welt zum Besseren zu verändern, so meine Devise. Dies parallel zum Dauersprint in Beruf, Familie und Ehrenamt herauszufinden ging schlicht nicht. Die Kündigung meines Jobs war für mich also nur konsequent.

Sand im Getriebe: Wenn die Seele nicht nachkommt

Es kam jedoch alles etwas anders, als ich mir das vorgestellt hatte: In den ersten Monaten meines ›neuen Lebens‹ hatte ich das Gefühl, dass ich nun zwar mehr Zeit hatte, aber alles sehr viel mühsamer war als früher. Bei einer Auszeit an der Nordsee merkte ich, dass ich zum ersten Mal nicht voller Tatendrang war. Darauf konnte ich mir gar keinen Reim machen: Jetzt, wo ich aufgebrochen war in die zweite Hälfte, jetzt wo es zählte, fehlte mir plötzlich die Schubkraft? Ich war verwirrt. Doch in der kommenden Zeit erkannte ich, dass ich aus einem gut geölten Hamsterrad ausgestiegen war, in dem ich mich gut eingerichtet und in dem ich gut funktioniert hatte. Jetzt nahm meine Seele offensichtlich ihre Chance zur Entfaltung wahr; sie war bei meinem rasanten Leben einfach nicht nachgekommen. Diese Erkenntnis machte für mich viel Sinn, und ich konnte das halbe Jahr, das ich mir als Findungsphase zugestanden hatte, für mich und diesen Prozess gut investieren.

 

Vision für die zweite Lebenshälfte: 
Schule als Raum zur Potenzialentfaltung

Meine alljährliche Auszeit im Kloster – eine Lebenspraxis, die ich mir vor Jahren dank eines Willow-Seminars angeeignet habe – fiel auf das Ende dieser sechs Monate. Hier konnte ich mich neu ausrichten und in die Entwicklung der Vision für meine zweite Lebenshälfte einsteigen. Gesagt, getan. Tatsächlich formte sich am dritten Tag eine Idee in mir. Vieles, was ich bisher erfahren und getan hatte, setzte sich zu einer Leidenschaft und einer Sehnsucht zusammen: Ich wollte einen Ort schaffen, an dem Menschen ihr volles Potenzial entfalten können. Am Anfang eines Lebens ist alles da, was es dazu braucht: Neugier, Tatendurst, Einzigartigkeit und Mut. Somit sind Kinder der ideale Ansatzpunkt! Denn spätestens mit der Einschulung werden sie kaum mehr bei der Suche nach der Entfaltung ihres Potenzials unterstützt, sondern in eine Einheitsform gepresst. Meine Vision war geboren: Zukunftsschulen, die Kindern Raum geben, ihre Einzigartigkeit zu entfalten. In derartigen Schulen sah ich auch Potenzial über Deutschland hinaus, etwa in Afrika. Seit Jahren, inspiriert durch die Arbeit von Willow in Afrika sowie eine Predigt zur Frage: »...und was gibst du: Geld oder Zeit?«, engagiere ich mich in lokalen Projekten vor Ort. Ich bin überzeugt, dass tiefgreifende Veränderungen in diesen Ländern durch Menschen initiiert und umgesetzt werden, die ein starkes Rückgrat und ihre eigene Persönlichkeit formen können bevor sie Teil des Systems werden. Nur so können sie die Zukunft ihres Landes anders und besser gestalten als die Vergangenheit. Ich war begeistert! Ich erinnere mich noch genau an den vierten Morgen im Kloster, als ich auf heißen Kohlen saß und mich fragte: Was soll ich jetzt noch zwei volle Tage im Kloster?

»Bewusster Ausstieg 
aus einem gut geölten Hamsterrad«

 

Vom Tun zum Sein

Nachmittags war ich noch einmal bei Schwester Elisabeth zum Malen. Als kopfgesteuerter Typ hatte ich mir selbst auferlegt meine rechte Hirnhälfte vermehrt zu nutzen und die kreative Seite zu aktivieren. Am Tag zuvor hatte ich schon ein Bild gemalt, auf dem meine Vision erste Formen annahm. Ich fragte mich: Was soll ich denn jetzt noch malen? Wie am Vortag entgegnete die Schwester: »Lassen Sie das Bild entstehen anstatt gezielt etwas zu malen«. Ich folgte ihrem Rat, und dadurch wurde mir etwas Wesentliches zu meinem bisherigen Lebensweg klar.
Durch meine ausgeprägte Zielorientierung war ich in den letzten beiden Jahrzehnten auf einer Art Autobahn unterwegs. Sobald ich ein Ziel ins Visier nahm, habe ich sofort meine Energie für die Umsetzung eingesetzt. Dabei habe ich viel von der Gegenwart – und damit vom Sein und vom Leben an sich – verpasst. Mein Leben teilte sich durch die Brille der Zielfokussierung in zwei Kategorien: Was ist hinderlich und was ist förderlich für mein aktuelles Ziel? Vor meinem inneren Auge begann ich zu sehen, dass ich so manchen Menschen durch diese Brille angeschaut habe – und dass er oder sie das vermutlich auch gespürt hat. Und dass ich im Zweifelsfall die Zähne zusammengebissen habe, um Hindernisse auf dem Weg zu überwinden – ohne Rücksicht auf die Kraft, die das kostet. Im Kloster merkte ich, dass ich an einer entscheidenden Wegkreuzung stand: Meine Zielstrebigkeit ist eine tolle Gabe, aber wenn meine zweite Lebenshälfte eine wirklich neue Qualität erfahren soll, wenn ich vom ›TUN‹ zum ›SEIN‹ kommen möchte, dann muss ich lernen, dass auch der Weg das Ziel ist. Nur so werde ich das Heute und damit das Leben nicht verpassen. Mir kam eine Predigtserie von Willow mit dem Titel ›Recalibrate‹ in den Sinn – ›Neuausrichtung‹. Wie schon so oft in den letzten 15 Jahren griff ich ins Regal und hörte die Worte einer Willow-CD nochmal mit ganz anderen Ohren.
Mir wurde klar, dass meine Vision der Zukunftsschulen so groß ist, dass ich vermutlich den Rest meines Lebens dafür einsetzen werde. Vielleicht werde ich auch nur ein Stück des Weges dorthin bahnen und kann nie ein Endergebnis sehen, so wie ich das in der Vergangenheit gewohnt war. Ich musste an Moses denken: Er führte das Volk Israel 40 Jahre aus Ägypten in das gelobte Land – und starb dann an dessen Pforte. Und ich wusste, ich  werde diesmal nicht alleine aufbrechen, sondern gemeinsam mit Weggefährten, die meine Sehnsucht und Leidenschaft nach Potenzialentfaltung teilen. Auf dieser Wegstrecke geht es weniger darum, dass ich mache, sondern dass ich loslasse und vertraue. So kann Gott einen Weg in mir bahnen, und ich bin gemeinsam mit anderen unterwegs, indem wir unsere Talente und Fähigkeiten bündeln.

Inneres Wachstum 
statt sichtbare Ergebnisse

Seit diesen Tagen im Kloster sind nun gut vier Jahre vergangen. Ich habe mich dort bewusst dafür entschieden, den schwereren Weg zu nehmen: Am Ende eines jeden Jahres und auch Ende 2014 hatte ich keine vorzeigbaren Ergebnisse zu meiner Vision. Das ist hart für mich. Viele Menschen in meinem Umfeld haben mitbekommen, dass ich Ende 2009 meinen Posten an den Nagel gehängt hatte, um zu neuen Ufern aufzubrechen. Man kann sich unschwer vorstellen, wie es sich für einen Menschen wie mich anfühlt, wenn diese Fragen kommen: »Was machst Du jetzt? Wie sieht es mit deinem Schulprojekt aus?« – und wenn mir dazu die greifbaren Antworten fehlen. Dann steht Überraschung in den Gesichtern geschrieben, denn schließlich ist man von mir Ergebnisse gewohnt. So mancher hatte bereits geplant, seine Kinder in meine Zukunftsschule zu schicken.
Was ist also in den vergangenen vier Jahren passiert? Letztes Jahr schrieb mir eine Freundin die folgenden Zeilen: »Die Catrin, die ich vor 10 Jahren kennenlernte, hat mich wahnsinnig inspiriert, zum Umdenken angeregt, ich fand sie sympathisch und habe dein Leben sehr bewundert. Es beeindruckt mich aber noch mehr, wie sehr Du Dich in den letzten drei bis vier Jahren verändert hast und ich muss ganz klar sagen, die Catrin von heute gefällt mir noch weitaus besser. (...) Die letzten Treffen mit Dir waren so herzlich, ehrlich und wunderbar, ich habe dort nichts mehr von der Härte gegen Dich selbst gemerkt und auch festgestellt, wie Du gelernt hast mit dem Herzen bei Dir und Deinem Gegenüber zu sein.«
An mir ist etwas geschehen, was ich selbst nicht machen konnte, sondern geschehen lassen musste und was Zeit brauchte: Ich kam vom Kopf in mein Herz. Heute bin ich emotional näher an mir und anderen Menschen, auch wenn das anstrengender als früher ist. Mein Bruder hat mich ermutigt, indem er sagte, dass ich »im Mitleiden und an der Welt leiden« auf einem guten Weg bin, um Christus ähnlicher zu werden. Das tröstet mich. Gott kann mir jetzt aufs Herz legen, was ihn schmerzt, denn ich bin offen dafür. ›Holy discontent‹, heilige Unzufriedenheit, nennt Bill Hybels das. Wenn ich mein Herz täglich dafür öffne, was Christus durch mich bewirken will, mache ich seine Ziele zu meinen Zielen – auch wenn ich ihm dabei auch heute noch immer wieder mal ordentlich in die Quere komme.

Vom Kopf ins Herz in den Körper

Zu meinem Prozess gehörte auch die Suche nach meiner neuen Rolle und Identität als Frau, die mich unter anderem zu einem Frauen-Intensivseminar führte. Hier kam ich mit reichlich wenig Energie an, denn meine persönliche Veränderung hatte statt der von mir vermuteten positiven Auswirkungen auf unsere Ehe vielmehr eine Krise zur Folge. Mein Mann war in dieser Phase mit seiner eigenen Identität und Biografie beschäftigt, und mein Weg verunsicherte ihn. Da wir bis dahin fast 20 Jahre lang sehr gut miteinander gelebt hatten, war diese Situation für uns beide ungewohnt und kräftezehrend. Jeder ging seines Weges, doch wir hielten an der Zusage Gottes fest, die über dem Bund der Ehe steht. Es sollte über ein Jahr dauern, bis wir Licht am Ende dieses Tunnels sahen. Das war für die ganze Familie eine schwere Zeit.
So rollte ich ziemlich auf der letzten Felge in dieses Seminar, unschlüssig ob ich überhaupt dort sein wollte. Doch am Abend hatte ich mehr Energie als noch am Morgen! Was war geschehen? Ich ließ den Tag Revue passieren: Die Geschichten, die erzählt wurden, waren voller Zerbruch und Schmerz. Fachlichen Input gab es eigentlich kaum, doch dann ging mir ein Licht auf: Wir hatten alle möglichen Arten von Körperbewegung gemacht: vom Tanzen über Körpermeditationen bis hin zu einer Art Kampfsport. Ohne dass ich es bewusst realisierte, hatte mir all dies Energie gegeben. Und damit war mir mein nächster Schritt klar: Vom Kopf ins Herz in den Körper.


Ganz im Jetzt und im Hier und bei mir zu sein, bedeutet auch in meinem Körper zu sein und ihn wahrzunehmen. Erst als ich in meinem Körper präsent wurde, konnte ich Gottes Liebe in mir spüren und nicht nur mit dem Kopf und dem Herzen darum wissen. Aber ich stehe noch am Anfang dieses Weges. Eine wunderbare Wegbegleiterin brachte es auf den Punkt: »Nur wer bei sich zu Hause ist, kann anderen Heimat sein.«


Für mich schließt sich hier ein Kreis. Mein Weg in den letzten vier Jahren verlief völlig anders, als ich es beim Aufbruch in die zweite Hälfte im Sinn hatte. Doch bevor ich anderen Menschen den Raum für ihre Potenziale schaffen kann, hat Gott mich erst einmal zu mir selbst geführt. Und wer weiß, ob ich schon am Ende dieser Reise bin? Bill Hybels würde sagen: »Way to go!«
Danken möchte ich an dieser Stelle meinen Weggefährten der letzten Jahre, aber auch Willow Creek: Viele Aspekte meiner persönlichen Entwicklung sowie berufliche Praktiken und Impulse für christliche Gemeinschaft sind inspiriert von Predigten, Seminaren, Audiojournalen, Kongressen und Menschen rund um Willow Creek – für mich ein Segen!