Die Landeskirchliche Gemeinschaft Augsburg (LKG) hat 1994 ihr 100-jähriges Bestehen gefeiert. Nach so langer Zeit besteht die Gefahr, dass eine Gemeinde in Traditionen erstarrt und notwendige Veränderungen, etwa aus Angst vor Konflikten, ausbleiben. Doch die Leitung spürte bei alten und jungen Beterinnen und Betern eine große Sehnsucht nach neuen Aufbrüchen. Weil Jesus der selbe Herr »gestern, heute und in Ewigkeit« (Hebr. 13,8) ist, fand das Jubiläum unter das Motto ›100 Jahre LKG Augsburg – Gemeinde mit Zukunft‹ statt. Konnte die Gemeinde diesen Leitspruch seitdem mit Inhalt füllen?

Zunächst mehr Fragen als Antworten

Viele Gemeindeleitungen kennen die Fragen, die auch uns bewegten: Welches sind die richtigen Lieder? Dürfen Frauen leiten und predigen? Was können wir tun, damit die Kinder längerfristig in der Gemeinde eine Heimat finden? Darüber hinaus war uns wichtig, dass wir in der Evangelisch-Lutherischen Kirche (zu der wir durch einen Gemeinschaftsverband gehören) den für uns notwendigen Gestaltungsraum finden und bewahren würden. Und wir litten darunter, dass nur wenige unter uns gute Kontakte zu glaubensfernen Menschen hatten. Wie sollten wir ihnen das Evangelium nahebringen? 

Wir starteten erste niedrigschwellige Veranstaltungen wie Familientage; es fiel uns leicht dazu unsere Freunde einzuladen. Erste Erfolgserlebnisse ermutigten uns, einmal monatlich einen Vormittags-Familiengottesdienst anzubieten. Bis dahin wurden die Gottesdienste mit Rücksicht auf die Kirchengemeinden nur abends oder nachmittags gefeiert. Diese Experimente veränderten aber unsere Einstellung: Es ging nicht mehr nur um die Frage: »Was gefällt mir?« sondern »Was brauchen die anderen?« Mit dieser Motivation starteten wir den ersten Glaubensgrundkurs, der nach einigen Jahren durch den Alphakurs abgelöst wurde; durch ihn sind seitdem viele Menschen zu Nachfolgern Jesu geworden. 

Inspirierende Begegnungen mit Willow

Unser erster Kontakt zur Willow-Creek-Gemeinde fiel ins Jubiläumsjahr: Während einer Studienreise im Oktober 1994 lernten der Vorsitzende unserer Gemeindeleitung und ich als Pastor die (damals in Deutschland noch weitgehend unbekannte) Gemeinde in Chicago kennen. Wir erlebten Menschen, auf deren Namensschild nicht nur ›Here To Serve‹ zu lesen war – sie lebten diesen Dienst für Jesus und die Menschen auch mit ganzer Leidenschaft. Als wir im riesigen Auditorium einen der Gottesdienste mitfeierten, wurde ich als Pastor sehr berührt. Was ich hier erfuhr, wurde mir zu einem Bild für das, was Jesus vermag, wenn wir uns ihm zur Verfügung stellen. Und nie werde ich vergessen, was Bill Hybels uns Leitern immer wieder ins Herz gesprochen hat: »Die Gemeinde beginnt immer zuerst im Herzen ihres Pastors zu wachsen.« Unsere Erfahrungen teilten wir nach unserer Rückkehr mit der gesamten Leitung, und so entstand eine Vision für das, was Gott bewirken kann, wenn wir in Gehorsam, Liebe und Leidenschaft für ihn da sind. In der Folge luden wir auch Lou Hueneke in unsere Gemeinde ein. Er war der Deutschland-Koordinator, als Willow Creek Mitte der 90er Jahre hierzulande die ersten Kongresse veranstaltete; Lou präsentierte die Arbeit damals in verschiedenen Gemeindeleitungen. Jesus sprach durch ihn zu uns und schenkte uns eine neue Sicht für den Wert, den verlorene Menschen für Gott haben. 

Viele wichtige kleine Schritte

In den vergangenen 20 Jahren wurde die Teilnahme an Willow Creek-Veranstaltungen zum festen Bestandteil unserer Mitarbeiterförderung. Sofern nötig, leisteten wir als Gemeinde auch finanzielle Beiträge. Fasziniert hatten wir erlebt, wie zu ersten Willow-Kongressen in Deutschland Mitglieder der US-Willow-Gemeinde ›einfach nur zum Beten‹ auf eigene Kosten nach Deutschland kamen. Die Früchte dieser Gebete dürfen wir jetzt ernten. 

Als Pastor erlebe ich, wie viele unserer Mitarbeitenden – genau wie ich selbst – immer wieder durch Kongress-Teilnahmen beschenkt und inspiriert werden. Ein Beispiel: Vor Jahren berichtete unser Kassierer, dass er häufig das Kapitel 5 aus Bill Hybels Buch ›Mutig Führen‹ gelesen habe, denn dort hatte er für sich entdeckt: »Die finanzielle Quelle ist Gott selber. Die Menschen sind nur die ›Rohrleitungen‹. Das gibt mir als Kassierer eine gewisse Gelassenheit, denn Menschen geben im Grunde genommen gerne. Es bewahrt mich davor, negativ über Menschen zu denken, wenn ich den Eindruck habe, sie könnten mehr geben.«

Unser Ziel ist es genau hinzuschauen, Hilfreiches zu entdecken und dies an unsere Gemeindesituation anpassen. Damit haben wir gute Erfahrungen gemacht. Auch dafür ein Beispiel: Nach einem längeren Anlauf war ein weiterer wichtiger Schritt getan: Die Adaption vom ›Promiseland‹ (der angepasste Kindergottesdienst heißt in der LKG Augsburg ›Regenbogenland‹) ist eine wunderbare Möglichkeit, den Kindern das Evangelium nahezubringen und ganzen Familien eine Heimat zu bieten. 

Auch die Predigtreihen haben eine große Tiefen- und Langzeitwirkung. So beschäftigten wir uns etwa 2013 mit ›Emotional – gesunder Spiritualität‹. Diese Predigtthemen werden später in Hauskreisen vertieft. Weil viele Menschen durch schlimme Lebenserfahrungen geprägt und oft an zerstörerische Verhaltensweisen oder

Süchte gebunden sind, formte sich die Vision, ihnen intensive Hilfen anzubieten. Nach einem ›Probelauf‹ von ›Leben Finden‹, einer christlich geprägten Selbsthilfearbeit, bauen wir diesen Arbeitsbereich seit nunmehr drei Jahren auf. Viele Menschen erleben durch liebevolles Angenommen-Sein tiefe Begegnungen mit Jesus und seiner befreienden Kraft. 

Standortwechsel: Ein tiefer Einschnitt ins Gemeindeleben

Das biblische Leitmotiv für den Neubau unseres Gemeindezentrums mit der angeschlossenen Kindertagesstätte ›Spatzennest‹ war Jeremia 29,7: »Suchet der Stadt Bestes …«. Nach sieben Jahren Beten, Planen, Frust­erfahrungen, Kämpfen, Sparen, Warten und Schuften hat Gott uns reich beschenkt: 2001 konnten wir umziehen. Wir sind aus dem Schattendasein eines Augsburger Hinterhofs unübersehbar mitten in die Stadt gerückt worden. 

Seitdem haben wir viele Wunder erlebt, auch finanzieller Natur. Die Stadt Augsburg stellt uns das Gebäude der Kindertagesstätte unentgeltlich zur Verfügung. Wir sind für den Betrieb und die inhaltliche Gestaltung verantwortlich und haben dabei große Gestaltungsfreiheit. Durch die Planungs- und Bauarbeiten des Gemeindezentrums sowie die Entwicklung des ›Spatzennest‹ sind mehr und mehr kommunale Beziehungen entstanden, und wir genießen als Gemeinde großes Vertrauen im städtischen und kirchlichen Umfeld. 

Aus dem Schattendasein eines Augsburger Hinterhofs mitten in die Stadt gerückt.

Die Vision schärfen

Seit Jahren liegt uns als Gemeinde daran, auftrags- und zielorientiert zu arbeiten. Nachdem wir uns einige Zeit am neuen Standort ›eingelebt‹ hatten, begannen wir uns wieder mit der Frage auseinanderzusetzen, wie wir unsere Gemeindevision erneuern könnten. Beim Willow-Leitungskongress 2012 forderte uns der Vortrag ›Auf den Punkt kommen‹ von Andy Stanley heraus, unsere Vision zu schärfen. Gemeinsam mit der Gemeinde machten wir uns auf einen mühevollen, aber spannenden Weg und arbeiteten an der Konkretisierung der ›geschärften‹ Vision. Zunächst war keine klare Richtung erkennbar, erst bei der Weiterarbeit in einer kleineren Gruppe hat Gott uns ein Bild geschenkt, in dem unsere Vision nun zum Ausdruck kommt: Gottes ausgestreckte Hände mit der Augsburger Silhouette im Hintergrund. Eine bunte Vielfalt von Menschen hat hier bereits Heimat gefunden, andere finden gerade hinein und wieder andere sind noch außerhalb der Hand. Dazu formulierten wir: »In Vielfalt leidenschaftlich Beziehung mit Gott leben und Heimat geben.« 

Vom Zoobesuch zur Flüchtlingsarbeit

An einer Stelle spiegelt unsere Vision wider, was Gott schon vorher mit uns auf den Weg gebracht hat. Dabei hatten wir entdeckt, dass er häufig durch die leise Stimme des Heiligen Geistes zu uns redet. Einer Frau in unserer Gemeinde war ein Artikel in der Augsburger Zeitung mit der Überschrift »Flüchtlingskinder brauchen mehr als Essen« aufgefallen. Hier wurde von Asylantenkindern berichtet, die man in Übergangsklassen unterrichtet, mit Mittagessen versorgt und die so in die Gesellschaft integriert werden sollen. Der Rektor und einige Lehrer wollten mehr tun und initiierten den Zeitungsbeitrag, um in der Bevölkerung Geld für einen Zoobesuch oder andere Freizeit­aktivitäten zu sammeln. Einige Frauen unserer Gemeinde wurden initiativ. Wir legten eine Kollekte für die Kinder zusammen, die eine kleine Abordnung überbrachte. Der Rektor und die Lehrer waren überaus bewegt, denn außer uns hatte niemand in einer Stadt mit immerhin einer Viertelmillion Einwohnern reagiert! Unser Team schloss sich beim Zoobesuch den Lehrern und Flüchtlingskindern an und stellte fest, dass die Kinder mit ihren Familien in zwei Heimen leben, die jeweils nur einen Kilometer von unserem ­Gemeindezen­trum

entfernt liegen. Und uns hatte die Frage bewegt: »Wie können wir der Stadt Bestes suchen?« Aus den kleinen Anfängen ist heute eine Hausaufgabenbetreuung erwachsen, die wir in unseren Räumlichkeiten und gemeinsam mit dem Diakonischen Werk durchführen. Eine halbe Stelle für die Leitung und Koordination finanzieren wir ebenfalls. Und Menschen aus unserer Gemeinde besuchen regelmäßig die Flüchtlingsfamilien, um ihnen Wertschätzung zu zeigen und eine ganz persönliche ›gute Nachricht‹ zu sein. Das alles wäre nicht geschehen, wenn nicht einige Frauen sensibel auf Gottes Stimme in einer Tageszeitung gehört ­hätten!

Menschen, die eine ganz persönliche ›gute Nachricht‹ sein wollen.

Die nächsten Schritte

Jetzt sind wir in der Phase, unsere Vision weiter zu entfalten. Stichworte dazu sind Jüngerschaft (leidenschaftliche Beziehungen zu Jesus), Blickwechsel (auf glaubensferne Menschen gerade auch aus anderen Milieus sowie hinsichtlich unseres ›Spatzennests‹) und das Thema Stabübergabe (die jüngeren Generationen stärken). 

Es macht uns zu schaffen, dass viele Vorhaben deutlich länger brauchen als geplant. Wir erleben Rückschläge und auch geistliche Kämpfe. Doch wir wollen uns darin üben, immer wieder hinzuhören, was Gott in den nächsten Jahren durch uns in unserer Stadt und der Umgebung tun will. Nicht nur am 100. Jahrestag – die LKG Augsburg soll auch heute, gute zwei Jahrzehnte später, eine Gemeinde für die Zukunft sein.