Im Jahr 1975 wurde die Willow Creek Community Church gegründet. Schnell entwickelte sie sich zu einer der innovativsten Gemeinden in den Vereinigten Staaten. Sie wollte vor allem Menschen erreichen, die noch keine Beziehung zu Jesus Christus hatten. Mit ihrer ganz eigenen Mischung aus Lobpreis, Predigt, Evangelisation und Jüngerschaft betrat die Kirche damals Neuland. Nachahmer ließen nicht lange auf sich warten: Von Beginn an ließen sich zahlreiche Gemeinden von diesem Modell inspirieren. Doch Innovation ist Willow auch 40 Jahre nach der Gründung ein wichtiges Anliegen. Eine neue Generation von Pastoren experimentiert heute in der Willow Gemeinde in South Barrington mit alternativen Lobpreis- und Jüngerschaftsformen, die es dort bisher so nicht gab. Aaron Niequist, Pastor im Bereich Lobpreis, und Lehrpastor Steve Carter starteten ein 18-monatiges Experiment unter dem Namen The Practice (Die Übung). Ein Gespräch über Neugier und Experimentierbereitschaft bei Willow – und die gleichzeitige Bewahrung des Erreichten.

In Gemeinden und Organisationen wird meist erst über Innovation oder Veränderungen nachgedacht, wenn die bisherigen Programme nicht mehr richtig wirken. War das bei Willow Creek auch so?

Carter: Überhaupt nicht. Die Idee entstand, weil sich uns plötzlich eine neue Möglichkeit bot – aber nicht, weil wir in Sorge waren oder die Gemeindearbeit nicht mehr richtig lief. Es hat uns überrascht und mit tiefer Demut erfüllt, wie Gott in Willow am Werk war. Wir wollten einfach offen für den nächsten Schritt sein, den er mit uns gehen will.

Niequist: Und gerade das fi nde ich so aufregend an der Kultur von Willow. Wir lehnen uns nicht zufrieden zurück, sondern haben immer den Gedanken im Hinterkopf: »Da geht noch was. Da kann noch etwas wachsen. Es gibt täglich Dinge zu lernen und Neues zu entdecken.« Diese Einstellung haben Bill Hybels und das Leitungsteam uns immer vorgelebt.

Carter: Innovation zeigt sich auch im Haushalt der Gemeinde. Es gibt einen Ausgabeposten mit dem bezeichnenden Namen »Das Wehen des Geistes«. Von jedem gespendeten Dollar fließt ein kleiner Teil in diesen Fond, aus dem Gelder für unerwartete, spontane Möglichkeiten bereitgestellt werden. Wenn Gott etwas in Bewegung setzt und wir in diese offene Tür investieren wollen, stehen die Mittel dafür also zur Verfügung.

Mit diesem Haushaltsposten im Hinterkopf begannen im Leitungsteam Gespräche auf der Grundlage unserer REVEAL-Studie*. Wir fragten uns: »Wie können wir mehr für diejenigen tun, die nach festerer geistlicher Nahrung suchen und in ihrem Glauben weiter wachsen wollen?« 

 

Aaron, wie bist du als Lobpreis-Pastor dazu gestoßen?

Niequist: Mit meinen Kollegen und Freunden hatte ich auch schon überlegt, wie wir mit neuen Modellen experimentieren könnten. Als ich das mit leitenden Mitarbeitern von Willow besprach, wurde mir klar, dass ähnliche Gespräche bereits auf mehreren Ebenen liefen. Das war alles aber noch nichts Offizielles; es waren einfach Unterhaltungen mit Freunden über das, was bei Willow gut funktioniert – und was nicht.
Ich habe großen Respekt vor Willow-Leitern, wenn sie etwa sagen; »Du, daran müssen wir noch arbeiten.« Oder: »Hier tun wir noch nicht das, was wir uns eigentlich vorgenommen haben.« Oder auch: »Welche Einsichten würde uns ein Versuch bringen?« Diese Offenheit war die eigentliche Grundlage für unser Experiment.

 

Carter: Was gut funktioniert, müssen wir nicht einreißen.

Stimmt es, dass der Vortrag von Vijay Govindarajan beim letzten Leadership Summit zum Thema  Innovation ein wichtiger Meilenstein für euch war? 

Niequist: Ohne Vijays Vortrag gäbe es The Practice nicht. Er sprach über sein Buch Beyond the Idea und seine »Drei-Schachteln-Strategie«. Nach Vijay hat jede Organisation drei Schachteln: Die erste beinhaltet die ganz konkrete Ausgestaltung der Gegenwart und ihre Bewältigung. In der zweiten Schachtel geht es um kleine Anpassungen, mit denen Schachtel 1 noch besser funktionieren kann. In der Schachtel Nummer 3 geht es um die Gestaltung der Zukunft – hier ist Innovation das große Thema.
Vijay sagt, dass ohne die Schachtel 3 – also ohne Raum für Experimente und neue Ideen – selbst die bestorganisierte Organisation auf Dauer nicht überleben kann. Wichtig ist zudem ein gewisser Abstand zwischen den Schachteln 1 und 3, denn sonst entstehen nur Kopien der ersten Schachtel. Schachtel 3 muss mit neuen Zielen, einer neuen Kultur, neuen Parametern und schließlich anderen Akteuren gefüllt werden, wenn aus ihr innovative Modelle hervorgehen sollen. 

Carter: Mir hat an Vijays Modell besonders gefallen, dass es in der Schachtel 1 keine Innovation geben muss. Sie muss sich nicht ändern, und das nimmt den Druck heraus, den Verantwortliche so oft spüren. Schachtel 1 soll sich auf das konzentrieren, was gut läuft und kann es mit der zweiten Schachtel in kleinen Schritten verbessern. Wir müssen ja nicht einreißen, was gut funktioniert!

 

Aber wenn mit Nummer 1 alles gut läuft – und so ist es ja offensichtlich bei Willow – warum muss man sich dann über eine Nummer 3 überhaupt Gedanken machen?

Niequist: Es gibt keine Garantie, dass Schachtel 1 auf Dauer so funktionieren wird wie sie es heute tut. Wer die Zukunft gestalten will, braucht neue Modelle. In Schachtel 3 kann man angstfrei Neues ausprobieren, auch wenn der gewählte Weg am Ende nicht der richtige ist.

 

Könnt ihr ein Beispiel dafür nennen, wie das außerhalb von Gemeinden funktionieren kann?

Carter: Bei Gore-Tex dürfen die Angestellten 10 Prozent ihrer Zeit für Träume und Experimente investieren. Einer von ihnen war Angler und hat überlegt, wie man Angelschnüre noch stabiler machen kann. Seine Ideen wurden aufgegriffen, und später kam man darauf, dass man auf diese Weise nicht nur sehr gute Angelschnüre produzieren konnte, sondern auch fantastische Gitarrensaiten. Das war die Geburtsstunde von Elixir Gitarrensaiten.

 

So viel zu den Vorteilen des Experimentierens. Was sind die Risiken?

Carter: Wenn die Beziehungen zwischen den Leitern in Schachtel 1 und Schachtel 3 nicht stimmig sind, wenn Kontakte und Verbindungen abreißen, kann der Prozess auch zerstörerisch werden – bis hin zu Spaltungen. Eine Gemeinde, die sich auf das »Schachtel-3-Experiment« einlässt, darf dieses Risiko nie unterschätzen. Am Anfang muss unbedingtes Vertrauen stehen. Schachtel 1 wird darauf vertrauen, dass Nummer 3 sie weder zerstören noch ersetzen will. Und Schachtel 3 bringt viel Dankbarkeit mit, weil sie experimentieren darf. Dafür brauchen die Leiter auf beiden Seiten Beziehungsfähigkeit, Barmherzigkeit und eine Haltung, die Lernbereitschaft in die jeweils andere Richtung vermittelt. 

 

Was wollt ihr mit eurer »Schachtel Nummer 3«, die ihr The Practice nennt, konkret erreichen?

Niequist: Wir benutzen oft das Bild einer Turnhalle. Die Lehre, die Theorie ist wichtig für das Wachstum, aber irgendwann reicht das Sitzen im Klassenzimmer nicht mehr aus. Bei vielen Gemeindeveranstaltungen liegt der Fokus – ähnlich wie in der Schule – auf dem Lehrenden, der Wissen und Einsichten vermittelt. Wenn ich aber einen Marathon laufen möchte, brauche ich keine Vorlesung; ich möchte vielmehr mit einem guten Coach trainieren. Wir haben uns gefragt, was passieren würde, wenn unsere Gemeinde mehr von einer Turnhalle als von einem Klassenzimmer hätte. Was würde geschehen, wenn wir bei Gemeindeveranstaltungen nicht nur zuhören, sondern gemeinsam trainieren? Das ist eine ganz andere Art des Lernens. Darum nennen wir unser Experiment auch The Practice: Hier liegt das Augenmerk auf den geistlichen Disziplinen – und auf der Frage, wie wir hin­ausgehen, wie wir umsetzen und üben können, was Jesus uns gesagt hat; an jedem einzelnen Wochentag. 

 

Ihr habt The Practice zunächst auf 18 Monate begrenzt. Warum? Ihr könntet doch einfach loslegen und abwarten, wie es läuft? 

Niequist: Nein, wir wollen ja keinen neuen Dienstbereich schaffen. Unser Ziel ist das gemeinsame Lernen. Aus der REVEAL-Studie wissen wir, dass es keinen zwingenden Zusammenhang gibt zwischen der Anzahl der Dienstbereiche oder Angeboten einer Gemeinde und der geistlichen Reife der Gemeindemitglieder. Wir möchten nicht einfach eine neue Aktivität anbieten, sondern haben uns Raum zum Experimentieren und Lernen erbeten. Wenn wir gefragt werden, was nach den 18 Monaten passiert, dann antworten wir: »Darüber machen wir uns so wenig Gedanken wie möglich.« Wenn wir für The Practice einen Fünf-Jahres-Plan aufstellen oder klar umrissene Ziele formulieren müssten, ginge der experimentelle Charakter verloren. Sobald es um Nachhaltigkeit geht, scheut man die Risiken und probiert weniger Neues aus. 

 

Im Bild gesprochen: Du willst vielleicht eine neue Angelschnur entwickeln, aber Gott hat von Anfang an die Gitarrensaiten im Sinn?

Niequist: Genau. Und für diese Möglichkeiten müssen wir offen bleiben. 

 

Und die Begrenzung auf 18 Monate führt bei den Teilnehmern auch nicht zur Zurückhaltung?

Niequist: Nein, die Begrenzung ist vielmehr befreiend: Niemand muss ja die vertraute Gottesdienstzeit wechseln oder etwas ganz aufgeben, was einem in Willow lieb und wert geworden ist. Die Leute sind aber eingeladen, am Sonntagabend etwas Neues auszuprobieren. Das macht vielen die Teilnahme leichter. 

 

Die Innovations-Schachtel muss mit neuen Zielen, einer neuen Kultur und neuen Akteuren befüllt sein.

Es gibt Christen, für die die Begriffe Innovation und Experimentieren nur Synonyme für Ketzerei sind. Welche Grenzen habt ihr gesteckt um zu verhindern, dass The Practice auf unsicherem oder gefährlichem Terrain stattfindet?

Niequist: In unserem Vorschlag, den wir dem Leitungsteam vorgetragen haben, sagen wir klar, dass wir uns der Autorität der Ältesten unterordnen und uns an das Leitbild von Willow, wie auch an unsere eigene Satzung halten werden. Wir wollen kein Chaos anrichten. Wir möchten ausprobieren, wie christliche Überzeugungen im Leben von Menschen konkreter werden können. 

 

Bisher scheint The Practice lediglich traditionelle Gottesdienstmodelle – einschließlich Liturgie und Sakramenten – angepasst zu übernehmen. Wie passt das zum Begriff Innovation? Das sieht doch alles mehr nach Schachtel 2 aus?

Carter: Auf den ersten Blick vielleicht. Aber für viele Besucher unserer Gemeinde ist die Liturgie tatsächlich etwas ganz Neues. 

Niequist: Ja, vielleicht sind wir nicht wirklich innovativ. Wir schaffen nichts gänzlich Neues – aber wir entdecken neu! Meine Hoffnung ist, dass wir in guten kirchlichen Traditionen etwas finden, was uns als Jünger Jesu weiterbringt. In der evangelikalen Tradition, aus der ich selbst komme, gibt es vieles, was mir gut tut, was man bejahen und verinnerlichen kann. Es gibt eine Viel­zahl von Modellen, von denen wir lernen können und die uns neu inspirieren. 

Gibt es ­Beispiele dafür, wie The Practice die Schachtel Nummer 1 in Willow beeinflusst hat?

Carter: In der Karwoche haben wir die Leitenden von The Practice eingeladen, das wöchentlich stattfindende Treffen aller hauptamtlichen Mitarbeiter zu leiten. In der Kapelle, wo The Practice stattfindet, sind wir der Liturgie und den Übungen vom vorigen Sonntag gefolgt. Biblische Grundlage war Matthäus 11,28: »Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!« Es gab kaum einen der 350 Angestellten von Willow, der sich von diesem Wort in der Karwoche nicht angesprochen fühlte! Am Schluss waren alle Anwesenden fünf Minuten lang ganz still; sie hörten Jesus sagen: »Kommt her zu mir.« Dann feierten wir das Abendmahl. 

Niequist: Ich glaube, dass diese Zeit für jeden Einzelnen ein Geschenk war. Aber es gab noch eine andere Erkenntnis: The Practice war nicht länger eine graue Theorie. Keiner fragte mehr: »Was macht ihr eigentlich an diesen Sonntagabenden?« Viele hatten das Konzept besser verstanden, und Schachtel 1 bekam sozusagen einen direkten Einblick in die Schachtel 3.

Was würdet ihr Leitenden raten, die kein komplettes Schachtel 3-Experiment starten können? Wie finden Sie trotzdem Raum für Innovationen?

Niequist: Ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung: Ich war früher an 52 Sonntagen im Jahr präsent. Das ist eigentlich eine Überforderung, jeder Pastor weiß das. In dieser Zeit ist mir klar geworden, dass ich eigentlich nichts wirklich bewege. Weil meine Zeit mit Arbeit und Planung ausgefüllt war, konnte ich nicht träumen. Darum habe ich begonnen, den Mittwochnachmittag zur kreativen Zeitzone zu machen. Ich habe mir die Zeit genommen, um Ideen zu sammeln, ein Buch zu lesen oder ein Lied zu schreiben. Aber den nächsten Gottesdienst habe ich in an diesem Nachmittag bewusst nicht geplant, denn Schachtel 1 war am Mittwochnachmittag geschlossen. Das habe ich sieben Jahre lang praktiziert. 

Carter: Viele von uns haben keinen Einfluss auf das Gemeindesystem, in dem sie arbeiten; sie können nicht einfach so die dritte Schachtel aufbauen oder auch nur die nötigen Mittel dafür auftreiben. Doch auf unseren Terminkalender haben wir mehr Einfluss, als wir denken. Auf diese Weise kann jeder von uns seine eigene kleine Schachtel 3 bauen. 

* Die REVEAL-Studie ermittelt den geistlichen Standort einer ­Gemeinde und gibt konkrete Hinweise, wie eine Gemeindeleitung ihre Gemeinde zu geistlichen Wachstumsschritten verhelfen kann.