Die Willow-Creek-Gemeinde war seit ih­rer Gründung 1975 ein ›work in progress‹: Stets fragten die Verantwortlichen nach Verbesserungen – inhaltlich und auch für die optimalen Rahmenbedingungen. Eine wichtige Zäsur war der Bau des neuen Auditoriums auf dem Willow-Gemeinde­campus in South Barrington (siehe die Fotos auf diesen Seiten), das 2004 eröffnet wurde. Es bot nicht nur Platz für 7.200 Gäste im Gottesdienst (gegenüber 4.500 im alten Gebäude), sondern endlich auch den nötigen Gestaltungsspielraum für Bands und Kreative, Kleingruppen oder die ›Promiseland‹-Kinder­arbeit, alles gepaart mit moderner Technik, mit deren Hilfe die Gemeinde-­Angebote optimal umgesetzt werden konnten. Heute, 17 Jahre später, geht Willow Creek wieder einmal wichtige Schritte in die Zukunft. Tim Stevens, einer der neuen Architekten der Gemeinde-Arbeit, setzt sich vor diesem Hintergrund auseinander mit der Frage: Was braucht es jetzt für die Neugestaltung von Willow Creek?

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 Executive Pastor Tim Stevens über die aktuellen Entwicklungen der Willow Creek Community Church

Ich lebte im Mittleren Westen der USA. Eines Tages hörte ich von einer Gemeinde ganz in der Nähe, deren Fokus darauf lag, Menschen zu erreichen, die Gott noch fernstehen. Sie hatten in einem Kino angefangen, und bei meinem ersten Besuch fanden die Gottesdienste dort immer noch statt. Der Ansatz war völlig neu: Die Verantwortlichen konzentrierten sich nicht auf die, die schon Christen waren, sondern auf die, die sich von herkömmlichen Gemeinden nicht angesprochen fühlten. Die Sprache war anders, die Musik moderner, die Atmosphäre ungezwungen. Man fühlte sich eher wie in einem modernen Kongresszentrum oder einem Konzert als in einem ›Gotteshaus‹.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich spreche hier nicht von der Willow Creek-Gemeinde. Die Gemeinde, die ich meine, ist die Granger Community Church, die in den 80er Jahren im Norden von Indiana entstand. Als wir 1986 anfingen, kannten wir Willow noch gar nicht. Einige Jahre später erzählte jemand von dieser Gemeinde in einem Vor­ort von Chicago, die uns in Geschichte und Schwerpunkt so ähnlich war. Es folgten viele Jahre, in denen wir regelmäßig in South Barrington waren, um von Willow Creek zu lernen. Immer war es wie eine Oase in der heißen Wüste. Wir konnten einfach nicht genug bekommen.

Durch die räumliche Nähe fuhren wir­ ­jedes Jahr mit dutzenden, manchmal sogar hunderten Personen zum Leader­ship Summit, um von dieser ganz neuen Art der Gemeindearbeit zu lernen. Wir schickten leitende Mitarbeitende zu Kleingruppenkonferenzen, Worship-Konferenzen und Workshops für strategische Planung auf den Willow-Campus.

Gottes besonderer Segen über Willow

Als die Willow Creek Association gegründet wurde, gehörten wir zu den ersten Partnergemeinden. Als für den Global Leader­ship Summit Übertragungsorte gesucht wurden, meldeten wir uns als einer der ersten. Ich glaube, dass über allem, was in Willow getan und probiert wurde, Gottes besonderer Segen lag. Die Entwicklung des Internets in den 1990er und 2000er Jahren machte es möglich, dass schließlich die ganze Welt miterleben konnte, was dort geschah.

Im Laufe der Jahre habe ich bei Willow viele leitende haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende kennengelernt und zu keinem Zeitpunkt irgendwelche negativen Verhaltensweisen erlebt. Alle waren offen und kooperativ. Sie erschienen mir zwar immer sehr beschäftigt, nahmen sich aber trotzdem die nötige Zeit, um mit uns zu sprechen und Auskunft zu geben. Willow ›erfand‹ Konferenzen für einzelne Bereiche wie Kleingruppen, Arbeit mit Kindern und Lobpreis – aber nie mit der Haltung »Nur so geht’s« oder »Macht es lieber so wie wir«. Vielmehr habe ich es so empfunden: »So machen wir das. Wenn das für euch auch funktioniert, ist das doch super.«

Als Pastor, dem daran liegt, eine starke und bleibende Gemeinde zu bauen, hat mich jedes Material, jede Konferenz und jedes Gespräch mit Mitarbeitenden tief beeindruckt. In 1. Mose 39,2 steht: »Der Herr half Josef, so dass ihm alles glückte, was er unternahm …« Genau das konnte man auch von Willow sagen: »Der Herr half ihnen, so dass ihnen alles glückte, was sie unternahmen!« Nach längerer Dienstzeit gab ich meine Pastorenstelle in Indiana auf und betreute einige Jahre Gemeinden in den USA und Kanada. Hunderte von ihnen hatten – so wie meine eigene Gemeinde damals – vom Dienst und der Großzügigkeit von Willow Creek und dem Global Leader­ship Network profitiert. Im Laufe der Zeit waren es sogar Tausende – nicht nur in den USA, sondern weltweit.

Die Beratungen nach dem Schock von 2018

2018 dann der Schock: Gemeinsam mit dem Rest der Welt verfolgte ich, wie Gerüchte kursierten, an die Öffentlichkeit gelangten und wie Willow über einen Zeitraum von mehreren Monaten praktisch implodierte. Auf Unglauben folgte Wut, dann nur noch Traurigkeit. Und die Frage: »Wie konnte so etwas passieren?« Einer meiner ›Helden‹ war gestrauchelt und gefallen, der Glaube von tausenden Christen tief erschüttert. In den darauffolgenden zwei Jahren fand ein Austausch quasi der gesamten Führungsriege der Willow Creek Community Church statt.

Dieses Vakuum brachte mich Mitte 2019 wieder mit Willow in Kontakt. Als in der Beratung tätiger Pastor unterstützte ich Berufungsausschüsse und Ältestenkreise bei der Pastorensuche. Meine ›Kunden‹ waren Mega-Gemeinden und kleine Versammlungen mit nur wenigen Dutzend Mitgliedern. Dabei waren mir die einen so lieb wie die anderen.

Sie denken vielleicht, mit großen Gemeinden macht so etwas mehr Spaß. Aber es gibt fast nichts Schöneres als eine winzige ländliche Gemeinde bei einem herzhaften Maiseintopf zu beraten und einer mutlosen Versammlung, die jahrelang ohne eigenen Pastor war, Hoffnung zu vermitteln.

Die Bitte von Willow Creek, bei der Suche nach einem leitenden Pastor zu helfen, erfüllte uns mit großer Dankbarkeit. Es war uns eine Ehre, die Gemeinde in dieser schwierigen Phase bei einer so wichtigen Entscheidung begleiten zu können.

Im Mai 2019 fand das erste Treffen mit dem neuen Ältestenkreis statt. Ich wuss­te nicht, was auf mich zukam, aber ich traf auf eine Gruppe von Männern und Frauen, die Jesus und ihre Gemeinde von ganzem Herzen liebten, die Hoffnung für die Zukunft hatten, die ein intensives Gebetsleben pflegten und die ein hohes Maß an Demut auszeichnete. Sie wussten, dass sie nicht perfekt waren und taten auch nicht so, als wären sie es vielleicht doch. Die Zusammenarbeit mit ihnen war für mich eine große Inspiration.

Es soll nicht kitschig klingen, aber ich entwickelte tatsächlich eine große Zuneigung zu dieser Gruppe von Leitenden. Ich selbst habe nie die Hoffnung verloren, dass ein neuer, guter Weg vor Willow lag, und die Begegnungen mit den Ältesten bestärkten mich darin. In regelmäßigen Abständen flog ich von Houston nach Chicago. Unsere Gespräche dauerten manchmal bis tief in die Nacht. Das war nicht einfach, aber ich liebe meinen Job und fand darin große Erfüllung.

Als im Dezember 2019 die zwei Kandidaten, die wir vorgeschlagen hatten, abgelehnt wurden, fühlte ich mich nicht entmutigt. Ich war sicher, dass Gott mit Willow etwas Besonderes vorhatte. Er schrieb die neuen Kapitel einer neuen Zukunft … und für mich fühlte es sich so an, als würde ich aus der ersten Reihe etwas Spannendes auf der Bühne verfolgen. Ende Januar 2020 stellte ich dem Ältestenkreis sechs neue Kandidaten vor, und sie waren bereit, sich ein weiteres Mal auf den mühsamen Prozess von Vorstellungsgesprächen und Überprüfungen einzulassen.

Ein neues Kapitel

Ich war dankbar für das Treffen. Gleichzeitig merkte ich, dass in mir etwas in Bewegung geriet. Plötzlich fühlte ich mich dieser Gruppe von Ältesten und der ganzen Gemeinde unglaublich nah. Zurück in Houston sagte ich bei einem Spaziergang zu meiner Frau: »Irgendetwas ist da zwischen Willow und mir.« Sie stellte mir viele Fragen, von denen ich nicht eine einzige beantworten konnte. Ich wusste nur:  Es passierte etwas in meinem Herzen … so als ob Gott mich darauf vorbereiten wollte, in Willows Zukunft eine ganz andere Rolle zu spielen als bisher. Das machte für mich in dem Moment überhaupt keinen Sinn, denn ich wollte auf keinen Fall zurück in den Gemeindedienst. Ich liebte es, in meiner Aufgabe als Vizepräsident der Gemeinde-Beratungsagentur Vanderbloemen vielen unterschiedlichen Gemeinden zu dienen, und das funktionierte auch sehr gut. Ich hatte Erfolg in dem, was ich tat. Außer mit meiner Frau sprach ich noch mit zwei Mentoren und erhielt von allen dieselbe Antwort: »Lass uns darüber beten.« Bei Willow selbst sprach ich mit niemandem darüber. Wenn Gott wirklich wollte, dass das ein gemeinsamer Weg wurde, dann würde er das schon selbst klarmachen müssen.

Der Ältestenkreis brauchte zwei Monate, um mit allen Kandidaten zu sprechen. Schließlich entschied man sich für Dave Dummitt als leitendem Pastor. Dave und ich kannten uns flüchtig. Daher war ich mehr als überrascht, als er mich nach seiner Ernennung anrief und fragte: »Würdest du mir vielleicht helfen, Willow wieder zu einer blühenden Gemeinde zu machen?« Obwohl die Überraschung groß war, sagte mein Herz sofort Ja.

Als Dave und ich uns näher kennenlernten, merkte ich, dass wir dasselbe Anliegen hatten. Keiner von uns wollte Willow einfach wieder groß machen oder ›die glorreiche Vergangenheit‹ wiederauferstehen lassen. Wir waren uns vielmehr einig darin, dass die Stärke von Willow die Menschen waren. Sowohl die, die schon seit Jahrzehnten dabei waren, als auch die, die gerade die ersten Schritte im Glauben wagten. Es ging darum, die richtige Vision und die nächsten Schritte zu entdecken. Wiederzubeleben, was einmal war, ist keine verlässliche Basis.

Ohne beschönigen zu wollen, was geschehen ist oder den Heilungsprozess zu vernachlässigen, kann ich heute sagen: Willow lebt. In der kurzen Zeit, die ich hier bin, habe ich gesehen, wie an unseren Standorten im Raum Chicago neues Leben entstanden ist, wie Gemeinschaft gelebt und Einfluss ausgeübt wurde. Ich höre, dass Menschen im Glauben ­vorangehen und dass Menschen geholfen wird, die arm, arbeitslos oder psychisch angeschlagen sind. Ich höre, dass Menschen Jesus kennenlernen und wir konnten bereits Hunderte taufen.

Was ich nicht höre ist, dass Willow wieder so werden soll, ›wie es einmal war.‹ Vielen geht es eher darum, das, was gut war, zu erhalten und gemeinsam Willow zu einer Gemeinde zu machen, die Gott Ehre macht und ihn erfreut.

Vor 18 Monaten haben wir das neue Kapitel für Willow Creek aufgeschlagen, und wir spüren, dass sich Hoffnung breitmacht und die Menschen zuversichtlich in die Zukunft schauen. Wir haben Gutes aus unserer Geschichte mit hinüber­genommen in die neue Zeit, erleben aber auch, dass Gott auf ganz neue Art und Weise wirkt. Das Gebet nimmt einen viel größeren Raum ein, besonders unter den Haupt­amtlichen. Der Führungsstil hat sich verändert, hin zu intensiverer Zusammenarbeit in den verschiedenen Teams. Wir wollen nach wie vor gute Qualität in unseren Gottesdiensten sehen, aber jetzt sind sie authentischer geworden. Anstatt ständig neues Material zu erstellen, wollen wir uns mit anderen zusammentun, die auch Großes im Reich Gottes leisten. Leitende Mitarbeitende haben jetzt mehr die Gesundheit der Gemeinde im Blick, weil wir überzeugt sind, dass Gesundes wächst.

 

Übersetzung: Antje Gerner