Willow-Serie, Teil 2: Executive Pastor Tim Stevens über die aktuellen Entwicklungen der Willow Creek Community Church
An einem kalten Dienstagmorgen im März 2021 trafen wir uns im Büro von Dave Dummitt, dem Leitenden Pastor der Willow-Gemeinde, zur wöchentlichen Sitzung des Leitungsteams. Dave eröffnete das Meeting mit folgenden Worten: »Es ist an der Zeit. Wir müssen neu definieren, wer wir sind und was wir wollen. Wir müssen mit unseren Leuten über unseren Auftrag und unsere Vision sprechen. Das ist jetzt am dringendsten.«
Warum gerade jetzt? Warum nicht vor 10 Monaten, als Dave im Juni 2020 zum ersten Mal in Willow gepredigt hatte? Warum ging es da nicht um die neue Vision? Viele Unternehmensberater würden dir sagen: Wenn du einen neuen Job antrittst, musst du als Erstes Sinn und Ziel des Unternehmens (neu) definieren. Warum wurde bei uns so lange gewartet? Im Rückblick war das aber gar nicht möglich.
Von Anfang an mussten wir als neues Leitungsteam bei Willow viele Herausforderungen gleichzeitig bewältigen. Die Pandemie war auf ihrem Höhepunkt und durch den Lockdown waren Präsenztreffen nicht möglich – weder mit Mitarbeitenden noch mit Gemeindegliedern. Alles ging nur noch online. Teamsitzungen konnten erst nach mehreren Monaten wieder stattfinden, Gottesdienste sogar erst nach einem Jahr.
Eine Woche nach Daves Dienstantritt wurde in Minneapolis George Floyd ermordet. Das führte dazu, dass auch wir monatelang mit einer emotional hoch aufgeladenen Atmosphäre zu tun hatten, mit Menschen, die tief verletzt waren und einen Systemwechsel wollten. In vielen amerikanischen Städten, auch in Chicago, kam es zu gewaltsamen Demonstrationen. Auch die Menschen bei Willow wollten Antworten, dabei waren wir doch gerade dabei, die schwierige Gemeindesituation nach dem Rückzug von Bill Hybels zu sortieren.
Wenn wir es nicht schaffen, uns neu zu erfinden und die jüngere Generation zu erreichen, werden wir untergehen.
Das Versagen des damaligen Leitungsteams hatte im Jahr 2018 zu finanziellen Problemen geführt. Die Pandemie machte die Situation noch komplizierter, und es wurde klar, dass erhebliche strukturelle Veränderungen anstanden: Neue Positionen wurden geschaffen, alte gestrichen, neue Arbeitsplatzbeschreibungen erarbeitet. Die Positionen im Exekutivteam waren vakant. Bis auf einen hatten alle aufgegeben. Das Interims-Team beendete seine Tätigkeit Anfang 2020. Im Sommer und Herbst desselben Jahres bemühten wir uns intensiv darum, ein erstklassiges Leitungsteam zusammenzustellen, das sich den neuen Gegebenheiten bei Willow stellen würde.
Im Herbst 2020 sahen wir uns konfrontiert mit einem extrem polarisierenden Präsidentschafts-Wahlkampf, in dem es um beinahe jedes Thema heftigen Streit gab. Niemals zuvor war die amerikanische Gesellschaft so tief gespalten. Auch vor Gemeinden machte diese Entwicklung nicht Halt, auch vor Willow nicht. Wieder wurden zu vielfältigen politischen Themen Antworten von uns erwartet, was uns von unseren eigentlichen Aufgaben abhielt.
Aber nicht nur politische Fragen sorgten für Differenzen. Nicht jeder leitende Mitarbeitende war mit den grundlegenden Veränderungen einverstanden, durch die wir Willow zukunftssicher machen wollten. Zwei Pastoren gründeten eigene Gemeinden und nahmen Hunderte von Gemeindemitgliedern mit.
Anfang 2021 hatten wir alle Hände voll zu tun, um Gemeindeveranstaltungen wieder anlaufen zu lassen, für die viele behördliche Vorschriften beachtet werden mussten. Dabei war auch zu bedenken, dass sich die digitale Entwicklung nicht rückgängig machen ließ. In Zukunft würden wir Präsenzveranstaltungen mit Online-Angeboten verbinden müssen. Und das mit erheblich weniger Mitarbeitenden.
Die Pandemie, Rassenunruhen, politische Umwälzungen, finanzielle Probleme und die massive Neustrukturierung der Mitarbeiterstruktur – all das dauerte Monate; die Zeit war angefüllt mit intensivem Gebet und sehr viel Arbeit. Und mündete schließlich in diesen Märzmorgen in Daves Büro, an dem er sagte …
»Es ist an der Zeit.«
Es ist an der Zeit zu überlegen, welchen Auftrag Willow Creek künftig haben soll. Nicht welchen Auftrag wir vorher hatten. Was soll die neue Generation bewegen? Wie wollen wir die Menschen im Jahr 2021 und darüber hinaus erreichen? Wie schaffen wir es, in den kommenden Jahren wieder eine wachsende Gemeinde zu werden? Es ist an der Zeit, auch unsere Werte zu überdenken. Mit welchen Leitbildern wollen wir die kommende Generation wachrütteln?
Das Mose-Modell
Gemeinden, die sich mit solch grundlegenden Fragen auseinandersetzen, bekommen häufig von einer Leitungsperson die Richtung vorgegeben. Ich nenne das das ›Mose-Modell‹. Mose steigt auf den Berg, redet mit Gott und kommt mit konkreten Vorstellungen für den kommenden Weg des Volkes Israel wieder vom Berg herab.
Das Mose-Modell macht dann Sinn, wenn man den richtigen Gedanken im richtigen Moment erwischt und es ein eingespieltes Leitungsteam gibt, dem die Gemeinde vertraut. Dave hätte genaue Vorstellungen davon haben können, was wir als Gemeinde in Angriff nehmen sollten. Er hätte einige Tage an einer ausgefeilten Präsentation arbeiten und diese dann der Gemeinde vorstellen können.
Aber wir waren noch kein Jahr bei Willow, das Exekutivteam sogar noch kürzer im Amt. Gerade fingen wir nach dem Lockdown wieder mit Präsenzveranstaltungen an – nach über einem Jahr Pause. Die Gemeinde fasste ganz langsam Vertrauen zu uns – das Mose-Modell war definitiv nicht angebracht.
Stattdessen wollten wir den Prozess, mit dem wir Auftrag, Vision und Werte entdecken und festlegen wollten, nutzen, um Vertrauen aufzubauen und die Gemeinde von Anfang an mitnehmen. Genau so haben wir es gemacht. Wir gingen mit allen Hauptamtlichen und Hunderten Gemeindemitgliedern auf Entdeckungsreise. Nach fünf Monaten, vielen Gesprächen und Dutzenden gedanklichen Neustarts hielten wir einige Basisdokumente in der Hand und hatten uns auf eine Sprache verständigt, die den Weg für die kommenden Jahre vorgeben sollte.
Der Auftrag – neu interpretiert
Den Auftrag der Gemeinde müssen wir eigentlich gar nicht festlegen. Das hat Jesus im Neuen Testament bereits sehr deutlich getan. Jede Ortsgemeinde hat dieselbe Aufgabe. Wir müssen sie allerdings so formulieren, dass die Gemeinde motiviert ist und sich konsequent darauf einlässt. Im Lauf der Zeit verlieren Sätze nämlich ihre Kraft und sprachliche Begriffe werden durch veränderte gesellschaftliche Gegebenheiten neu interpretiert, sodass sie eine andere Bedeutung erlangen.
Das Leitbild von Willow war 46 Jahre alt: Areligiöse Menschen zu hingegebenen Nachfolgern Christi machen. Mehr als 40 Jahre lang hat Gott diesen Auftrag benutzt, um Hunderttausende von Menschen zu erreichen. Die Formulierung enthält glasklares Evangelium und hat Ortsgemeinden geholfen, sich der Not in ihrem Umfeld zuzuwenden.
»Das vorherige Leitbild klang gut. Dahinter konnte ich stehen. In dieses allerdings kann ich den Rest meines Lebens investieren.«
Einfach ist dieser Satz allerdings nicht. Was bedeutet denn ›Areligiös‹ im Jahre 2021? Fühlen sich Menschen, die nicht in die Kirche gehen, sich aber durchaus als spirituell bezeichnen, durch diese Formulierung ausgegrenzt? Bedeutet ›hingegebener Nachfolger‹, dass man eine bestimmte Aufgabe erfolgreich erledigt und dann am Ziel ist? Verändert die Gemeinde das Herz von Menschen oder tut das nicht eher Jesus?
Es war klar, dass wir im Jahr 2021 etwas brauchten, was einfacher war. Die Welt ist unglaublich komplex und überrollt die Menschen täglich mit einer Flut an Informationen. Deshalb brauchten wir etwas, was einfach, klar und prägnant ist.
Im Laufe der Monate entstand der Entwurf für ein neues Leitbild, das auf immer breitere Zustimmung stieß: »Wir wollen Menschen dabei unterstützen, nächste Schritte mit Jesus zu gehen, in Gemeinschaft und in Erfüllung unseres Auftrags.« Dutzende von Gruppen wurden um ihr Feedback gebeten. Dieser Satz enthielt alles, was uns wichtig ist, aber einfach war er definitiv nicht. Die allgemeine Reaktion war: »Das funktioniert.«
›Funktioniert‹ entsprach allerdings nicht der Art von Begeisterung, die wir uns durch die neue Formulierung erhofft hatten.
Dave Dummitt sah das genauso. Ihm war klar: Wir brauchen ein Leitbild, das junge Erwachsene und Familien mitreißt. Wenn es Willow Creek auch in 50 Jahren noch geben soll, müssen wir die nächste Generation erreichen. Dave traf sich also mit den Mitarbeitenden unserer Arbeit für junge Erwachsene, legte ihnen das Leitbild vor und hörte folgende Reaktion:
»Das ist gut. Steht alles Wichtige drin. Aber die nächste Generation wird es nicht begeistern. Es ist nicht einfach genug. Hat zu viel ›Gemeinde-Slang‹. Und ist viel zu lang, als dass man es sich auf Anhieb merken könnte. Unsere nichtgläubigen Freunde wird das kaum ansprechen.«
Daraufhin machte Dave mit einigen der jüngeren Mitarbeitenden ein Brainstorming. Es wurde formuliert, durchgestrichen, neu formuliert in dem Versuch, eine Sprache zu finden, die leicht zu merken ist und die junge Generation packt. Heraus kam ein ganz kurzes Statement:
»Liebe Gott. Liebe die Menschen. Verändere die Welt.«
Einfach. Leicht zu merken. Leicht zu wiederholen. Und ganz bei dem, was Jesus gesagt hat:
Liebe Gott.
»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe und mit deinem ganzen Verstand. Das ist das erste und wichtigste Gebot.« (Mt. 22,37-38)
Liebe die Menschen.
»Ebenso wichtig ist aber ein zweites: Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.« (Mt. 22,39)
Verändere die Welt.
»Deshalb geht hinaus in die ganze Welt und ruft alle Menschen dazu auf, meine Jünger zu werden. Tauft sie auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch aufgetragen habe.« (Mt. 28,19-20)
Am nächsten Morgen legte Dave dieses Ergebnis dem Leitungsteam vor. Eigentlich war es für so eine gravierende Änderung reichlich spät. Wir hatten ja bereits Dutzenden von Teams unseren Entwurf vorgelegt. Trotzdem fühlte es sich richtig an. Ein Mitarbeitender sagte: »Das vorherige Leitbild klang gut. Dahinter konnte ich stehen. In dieses allerdings kann ich den Rest meines Lebens investieren.« Eine andere Reaktion: »Ich freue mich darauf, zu einer Gemeinde zu gehören, die ihren Auftrag so ernst nimmt.«
In den nächsten Wochen wurde das neue Leitbild in allen möglichen Gruppen und Gremien besprochen; die große Unterstützung überraschte uns. Es war so einfach, nicht wirklich neu, nicht übermäßig tiefsinnig – aber wir hörten immer wieder, dass die Formulierung unseren Leuten ans Herz ging.
Was würde wohl passieren, wenn wir eine Gemeinde hätten, in der viele Menschen ihre Liebe zu Gott wirklich ernst nähmen? Was würde passieren, wenn Tausende unserer Gemeindeglieder begännen, ihren Nächsten zu lieben – selbstlos, opferbereit und konsequent? Was, wenn jeder Gedanke, alles Tun und jedes Wort vorher unter dem Gesichtspunkt bedacht würde: »Wie würde Jesus Menschen in dieser Situation wohl lieben?«
Was würde geschehen, wenn jede und jeder nach ihrem oder seinem ganz persönlichen Auftrag für diese Welt fragen würde? Wenn jeder entdeckt, was sie/er tun kann, um die Welt zu verändern, egal in welchem Bereich: Bildung, Politik, Gesundheit, Wirtschaft, Verein oder in der Nachbarschaft?
Die Vision – das Morgen beschreiben
Eine formulierte Vision beschreibt mit Worten von heute das Bild von morgen. Wie sieht es konkret aus, wenn wir unseren Auftrag erfüllen? Eine Vision macht klar, wer wir sein wollen. Sie ist eine Erwartungshaltung. Sie beschreibt nicht die Realität, sondern das Ziel, auf das hingearbeitet wird. Welche Worte beschreiben am besten eine lebendige Ortsgemeinde, die Gott und die Menschen liebt und die Welt verändert?
Willow Creek ist eine Bewegung von Christusnachfolgern, in der alle Generationen und Ethnien Platz haben, in der Jesus angebetet wird, Menschen im Glauben wachsen, ihr Leben mit anderen teilen, Menschen erreichen, die keine Beziehung zu Gott haben, und die durch einen veränderten Lebensstil und radikale Großzügigkeit zum Segen für ihr Umfeld und für die Welt wird.
Unsere Vision kann nur Wirklichkeit werden, wenn wir intensiv beten und uns dort einbringen, wo Gott bereits wirkt; wenn wir weiter lernen und neue Wege suchen in der Förderung von Leitenden, dem Aufbau neuer Standorte und Gemeindegründungen im Umland von Chicago und weltweit.
Die Werte – was uns wichtig ist
Kernwerte sind wie Leitprinzipien. Was ist uns am wichtigsten? Wie werden Auftrag und Vision konkret? Bei unseren Überlegungen zu diesen Fragen war uns der Input der Gemeinde enorm wichtig. Im Juni startete eine Gemeindeumfrage, an der sich Hunderte beteiligten. In kleinen Gruppen wurden die Antworten besprochen und darüber diskutiert, wie die Zukunft von Willow aussehen soll.
Gerade auch die Anregungen von langjährigen Gemeindemitgliedern waren uns wichtig. Wir schickten 1.400 E-Mails an Personen, die seit über 25 Jahren zu Willow gehören und sich immer noch aktiv einbringen. An einem Abend im Juli kamen 250 von ihnen, um ihre Geschichte und ihre Träume zur Zukunft der Gemeinde zu erzählen. Langsam kristallisierten sich Schwerpunktthemen heraus.
Jesus.
Eine Rückkehr zu den Grundlagen. Hatte sich vielleicht unser Ansatz verschoben? Hatten wir uns vielleicht mehr auf das konzentriert, was wir selbst erreichen konnten, anstatt auf das zu achten, was Jesus durch uns tun will? Jesus ist das Zentrum.
Authentizität.
Es geht nicht um Perfektion. Exzellenz? Ja, aber vor allem geht es darum, unser Bestes zu Jesus zu bringen. Exzellenz als Wert war für die Boomer-Generation attraktiv. Millennials und die Generation Z erreicht man eher durch Authentizität.
Nächste Schritte.
Für jeden ist ein nächster Schritt dran. Jeder suchende Mensch kann aktiv etwas tun, um Gott und Menschen näher zu kommen. Dabei geht es nicht darum, ein Ziel zu erreichen und sich dann zurückzulehnen. Es geht um Bewegung und Führung.
Verjüngung.
Jemand fragte: »Wie jung denn?« Die klare Antwort: »Jünger als du.« Wenn wir es nicht schaffen, uns neu zu erfinden und die jüngere Generation zu erreichen, werden wir untergehen.
Menschen.
Verlorene Menschen sind Gott wichtig. Das ist nach wie vor richtig. Von der langen Liste der früheren Werte hatte dieser die meiste Zugkraft. Jahrzehntelang war das eine der tragenden Säulen von Willow. Tausende Gemeinden auf der ganzen Welt hat er angesprochen und grundlegend beeinflusst. Verlorene Menschen sind wichtig. Alle Menschen sind wichtig. Wir müssen sie lieben. Davon rücken wir nicht ab.
Gegen Ende des Sommers begannen wir, die Gemeinde über das ›neue Willow‹ zu informieren. Neben Auftrag, Vision und Werten arbeiteten wir an Branding, Websites, Grafiken. Mit den Hauptamtlichen sprachen wir darüber, wie wir künftig miteinander arbeiten wollen. Das Predigtteam legte Inhalte fest, die uns alle weiterbringen würden. Einige Teams arbeiten an einer neuen Strategie für einen Glauben, der konkret und lebbar ist – für Suchende wie für Christen gleichermaßen.
Liebe Gott. Liebe die Menschen. Verändere die Welt. Nicht übermäßig tiefsinnig. Aber wenn die Strategie dahinter funktioniert, dann hat Willow das Beste noch vor sich.