Er begann seine Berufskarriere als Anwalt, gründete 1995 die „Connexus Church“ und arbeitete viele Jahre als Gemeindepastor: Seit 2015 ist der Kanadier Carey Nieuwhof Blogger und erfolgreicher Podcaster mit einer monatlichen Reichweite von 250.000 Zuhörern. Beim Willow Creek Leitungskongress in Karlsruhe sprach Nieuwhof über das große Thema „Veränderung“ in Gemeinden. Im Anschluss an seinen Vortrag trafen wir uns mit dem Kanadier zum Gespräch.

Carey, wie ist es für dich, nach so langer Zeit wieder hier in Deutschland zu sein?

Es ist großartig! Europa ist mir sehr vertraut, ich liebe die Kultur. Mein Name verrät ja, dass ich niederländische Wurzeln habe. In den Niederlanden war ich fünf oder sechs Mal. Meine Eltern sind von dort aus ausgewandert.

Sprichst du Niederländisch?

Een klein beetje, maar niet veel. [lacht] Es ist viel besser als mein Deutsch. Ich weiß, dass die beiden Sprachen eng miteinander verwandt sind, aber in meinem Kopf bringe ich das nicht zusammen [lacht].

Carey, in deinen Blogs und Podcasts schreibst bzw. sprichst du über viele unterschiedliche Themen: Leiterschaft, Predigt, Familie, kirchliche Trends, persönliches Wachstum im Glauben, Fundraising … Angenommen, du müsstest dich auf eine Sache konzentrieren. Welche wäre das?

[überlegt] Es wäre wahrscheinlich die Zukunft der Kirche. Ich bin in der glücklichen und privilegierten Lage, viel in der Welt herumzukommen und viele Gemeinden „von außen“ zu sehen. Das ist sehr spannend und inspirierend. Aber, ganz ehrlich, ich bin glücklich, dass ich nicht wählen muss. [lacht]

„Der Moment, an dem du am ehesten aufgeben möchtest, ist oft der Moment kurz vor dem Durchbruch.“

Dein Thema hier auf dem Kongress ist ‚Veränderung‘. Du erreichst mit deinen Podcasts hunderttausende Menschen, hast aber als Pastor ganz klein angefangen. Erzähl uns von den Veränderungen, die du erlebt hast.

Es begann tatsächlich sehr unspektakulär. Ich startete 1995 als Pastor in drei kleinen presbyterianischen Gemeinden nördlich von Toronto, die sich aus Geldmangel einen Pfarrer teilten. Das Durchschnittsalter der Besucher lag bei 70 Jahren und das ganze Setting war ‚old school‘. Die erste Gemeinde hatte sechs Gottesdienstbesucher, Nummer zwei 14 und die dritte 23. Letztere war unsere ‚Megachurch‘ [lacht]. Für uns stand fest: Wir wollen junge Familien erreichen. Also brauchten wir Veränderungen.
Das geschah nicht ohne Widerstand. Einmal bin ich in meinem Büro minutenlang angeschrien worden. Die Gegner der Veränderungsprozesse waren laut, aber in der Minderheit. Als Leitender musst du dich fragen: Was ist dir wichtiger? Die kleine Gruppe der Gegner zufriedenzustellen, oder die Gemeinde für viele Menschen zu öffnen und interessant zu machen? Du musst dich fokussieren.

Was geschah dann?

Wir haben viel verändert und die Gemeinden sind durch die Gnade Gottes gewachsen. Zweimal zogen wir in größere Gebäude und gründeten schließlich 2007 die ‚Connexus Church‘. Dazu gehören mittlerweile drei- oder viertausend Menschen, zum Gottesdienst kommen ungefähr 1.400. Aber, weißt du, was für mich das Schönste ist? Dass immer noch einige der Mitglieder aus den drei Ursprungsgemeinden dabei sind! Sie sind teilweise über 80 Jahre alt, das berührt mich sehr. Wer hätte gedacht, dass Gott so etwas bewirkt?!

Das Thema des Leitungskongresses hier in Karlsruhe ist Hoffnung. Was hat dir damals Hoffnung als Gemeindepastor gegeben? Und was macht dir heute Hoffnung?

Die Kirche gehört Jesus Christus, das gibt mir jeden Tag Hoffnung. Sie hat im Laufe der Geschichte schwierige Zeiten durchgemacht. Auch heute. Aber: Gebt nicht auf! Jesus gibt uns Hoffnung. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus kann ich sagen: Der Moment, an dem du am ehesten aufgeben möchtest, ist oft der Moment kurz vor dem Durchbruch.
Beim Leitungskongress hier sind 7.000 Menschen aus ganz Deutschland zusammengekommen. Das ist großartig, auch das macht mir Hoffnung! Ich sehe die nächste Generation von Leitenden heranwachsen. Lasst uns ihnen Verantwortung übertragen.

Das klingt so, als gebe es da deiner Meinung nach ein Problem?

Wir halten in der Kirche zu lange an Führungspositionen fest. Das Durchschnittsalter von Gemeinde-Leitenden liegt in den USA und Kanada bei 52 Jahren. Andere Statistiken weisen noch höhere Zahlen aus. In den 90er Jahren war das Durchschnittsalter 40. Daran sehen wir, dass die Kirche gealtert ist – weil wir uns nicht verändert haben. Aber es geht um die kommenden Generationen. Die Veränderung, die wir heute nicht angehen, werden wir später einmal bedauern.

Kurze Zwischenfrage: Wie alt bist du eigentlich, Carey?

Ich werde in zwei Wochen 59. Aber ich leite ja auch keine Gemeinde mehr! [lacht]

Manche Kongressteilnehmer hier in Karlsruhe würden vielleicht sagen: ‚Alles schön und gut, aber bei uns in Deutschland sehen wir nicht die Masse an Jüngeren, die in unseren Gemeinden in Leitungsverantwortung drängen.‘ Sie sehen keine großen Aufbrüche und Gemeindewachstum. Was sagst du ihnen?

Nun, es gibt Hoffnung, aber es gibt auch Selbsttäuschung. Manchmal ist das ein schmaler Grat. Ich liebe den Optimismus von Menschen, die Veränderungen anstoßen und vorantreiben. Aber ich denke, man dass unsere Hoffnung immer geerdet sein muss. Wir sollten dem Heiligen Geist weder zuvorkommen, noch hinterherlaufen, sondern mit ihm Schritt halten.

Von welchem Typ Menschen hättest du gerne mehr in den Kirchen?

Grundsätzlich möchte ich alle Menschen erreichen, die nicht zur Kirche gehören. Unsere Gemeinden sollten von der Zusammensetzung her so aussehen, wie die Städte, in denen sie angesiedelt sind. Jung und Alt, reich und arm, ethnisch bunt. Allerdings glaube ich, dass es eine Gruppe gibt, deren Potenzial in den Gemeinden bislang noch zu wenig zum Tragen kommt: die Geschäftsleute. Menschen wie der reiche Jüngling aus Markus 10. Sie wissen oft nicht, wie sie in die Ortsgemeinde passen können. Für solche Menschen habe ich ein Herz.

„Die Veränderung, die wir heute nicht angehen, werden wir später einmal bedauern."

Wie bist du eigentlich zum Podcaster geworden?

Ich habe schon immer gern geredet. [lacht] In der Schule, später als Mitarbeiter bei einem Radiosender, dann als Gemeindepastor. Ein paar Jahre lang war es mehr oder weniger ein Hobby. Dann habe ich beschlossen, es ernst zu nehmen – und es lief einfach gut! So konnte ich den Zuhörern die Möglichkeit einer ‚persönlichen Begegnung‘ mit Leitungspersönlichkeiten bieten, die ich in meinem Podcast interviewte.

Du erreichst mit deinen Podcasts viele Menschen. Welche Reaktionen bekommst du?

Was mich sehr bewegt und freut, ist, dass mir Menschen oft schreiben: ‚Hey, danke, dass du das gesagt hast. Ich wusste das eigentlich schon, aber nicht, wie ich es ausdrücken soll.‘ Sprich: Ich denke nicht, dass ich in meinem Podcast … ‚Raketenwissenschaft‘ betreibe [lacht]. Ich bin derjenige, der komplexe Themen und Zusammenhänge in alltägliche, verständliche Sprache überträgt. Das ist das, was mir die Menschen spiegeln. Und das macht mich glücklich.

Wie sieht es mit negativen Reaktionen aus?

Wenn der Algorithmus meine Beiträge in den Feed von verärgerten oder kritischen Kirchenleuten spült, oder sogar von Kirchendistanzierten, dann gibt es kritische Rückmeldungen. Manchmal auch ‚trollartig‘. Manchmal klicke ich mich durch das Profil von solchen Menschen und sehe: Aha, diese Person teilt ihre negativen Ansichten überall, nicht nur bei mir. Bei manchen erkenne ich sogar den Namen wieder!
Es gibt Studien, die zeigen, dass sechs Prozent der Nutzer in den Sozialen Netzwerken für 73 Prozent der Kommentare sorgen. Sie sind laut, sie regen sich auf, sie verursachen ‚Drama‘. Die allermeisten Menschen sind aber vernünftig. Ich denke, man muss für die Personen Inhalte produzieren, die nicht unbedingt kommentieren. Sie folgen dir teils seit Jahren treu, schätzen deine Arbeit, aber sie schreiben dir nicht jeden Tag, um zu sagen: ‚Hey, das war toll, dieser Podcast hat mir wirklich geholfen, danke!‘

 

Welche Rolle wird Künstliche Intelligenz (KI) für die Zukunft der Kirche spielen?

Ich selbst bin ein Technikfreak. Der Einfluss von KI wird weiter zunehmen. Das steht für mich fest. Die Frage für uns lautet: Wo bleibt die „conditio humana“, das spezifisch Menschliche?
Ich denke, das menschliche Herz weiß, wenn es von einem menschlichen Herz berührt wird. Ein praktisches Beispiel: Ich hätte einer KI den Auftrag geben können, die fünf Prinzipien aus meinem heutigen Vortrag zum Thema ‚Veränderung“ auszuarbeiten. Und die KI hätte vermutlich den gleichen Inhalt wie ich ausgespuckt. Vielleicht sogar intelligenter und mit mehr Humor.
Was aber die Menschen hier im Messezentrum mit mir als Sprecher ‚verbindet‘, ist: Ich bin der Typ, der mit Falten im Gesicht auf der Bühne steht. Ich bin der Pastor, der in seinem Büro angeschrien wurde. Ich bin der Mann, der an manchen Tagen scheiterte und den Mut und die Hoffnung aufbringen musste, es am nächsten Tag wieder zu versuchen. KI kann viel. Aber wenn man mit einem Menschen spricht, der seinen Ehepartner verloren hat, dann gibt es ein Mitgefühl und es entsteht eine Verbundenheit, die meiner Meinung nach einzigartig menschlich ist.
Andererseits glaube ich durchaus, dass Menschen künftig KI-Partner haben werden. Sie werden in KI-Beziehungen leben. Teenager werden sich eher in eine KI verlieben als in ein Mädchen aus der Schule. All das wird kommen, und teilweise gibt es das schon. Ich weiß nicht, was man dagegen tun kann. Aber ich glaube, es gibt eine ganz besondere Verbindung zwischen Menschen. Von Mensch zu Mensch. Und das gibt mir Hoffnung für die Ortsgemeinden.

 

Vielen Dank für das Gespräch.