Seine Gespräche mit Persönlichkeiten aus Kirche und Gesellschaft sind beliebt und gefragt: Jeden Monat hören 250.000 Menschen den Podcast von Carey Nieuwhof oder lesen seinen Blog. Gute 30 Millionen Mal wurden die Interview-Folgen bisher heruntergeladen, in denen der Kanadier mit holländischen Wurzeln sich mit Leitungsthemen beschäftigt. Auch in Europa wächst seine Zuhörerschaft stetig. Seine Interviewpartner sind Pastoren wie der kürzlich verstorbene Tim Keller, Rick Warren oder Andy Stanley. Auch Führungskräfte aus der Wirtschaft wie Simon Sinek oder Malcom Gladwell nehmen eine Einladung zum Gespräch mit Carey Nieuwhof gern an.
Im Interview mit dem Willow Creek Magazin erklärt Nieuwhof, was einen erfolgreichen Podcast ausmacht, welche Parallelen er zwischen Gemeinde und Unternehmenswelt sieht – und welchen Rat Simon Sinek für die Kirche hat.

Carey, bevor du Podcaster wurdest, warst du Gemeindepastor. Weshalb der Wechsel vors Studiomikrofon?

Carey Nieuwhof: Jahrelang saß ich bei Konferenzen als Teilnehmer im Saal und wünschte mir oft, mit den Rednern auf der Bühne in Kontakt kommen zu können. Irgendwann stand ich dann selbst als Sprecher auf diversen Bühnen und hatte so die Möglichkeit, backstage oder beim Frühstück im Hotel viele Gespräche mit genau den Leitungspersönlichkeiten zu führen, die vorher für mich unerreichbar gewesen waren. Dieser persönliche Austausch war faszinierend. Er fügte den Vorträgen der Speaker eine neue, wertvolle Dimension hinzu. Den Podcast habe ich dann begonnen, um diese Möglichkeit der ›persönlichen‹ Begegnung auch meinen Zuhörern bieten zu können. Ich möchte sie mit interessanten und erfolgreichen Leitenden aus Gemeinde- und Unternehmenswelt ›zusammenbringen‹, die sie unter normalen Umständen niemals treffen würden.

Mit welchem Ziel?

Um Leitenden dabei zu helfen, ihre persönlichen Wachstumsbarrieren oder die ihrer Gemeinde oder Organisation zu identifizieren und zu überwinden. Der Podcast und mein Blog sollen Menschen dabei helfen, ihre Ziele zu erreichen. Und ich möchte ihnen etwas an die Hand geben, mit dem sie auch andere besser leiten können.

Wann hast du entdeckt, dass du dafür eine Begabung besitzt?

Eigentlich sehr früh. Schon als Kind habe ich viel und gern geredet. In der Schule war ich immer der erste, der sich meldete. Mit 16 habe ich einem Radiosender vorgeschlagen, mich zu engagieren – was überraschenderweise auch tatsächlich passiert ist. Auch bei meinem kurzen Ausflug in die Welt des Rechts waren die Plädoyers vor Gericht meine Lieblingsbeschäftigung. Als ich anschließend Pastor wurde, zählte das Kommunizieren auch dort zu meinen Lieblingsaufgaben. Reden zieht sich also durch mein ganzes Leben; so hat Gott mich einfach geschaffen.

»Wir brauchen Leitende mit einer Vision, die bereit und in der Lage sind, in einem Team zu arbeiten und so eine Gemeinde voranzubringen.«

Und wie ist der Wunsch entstanden, Menschen dabei zu helfen, ihre Ziele zu erreichen?

Auch das ist in meiner Biografie begründet. In meinen verschiedenen Leitungsaufgaben habe ich vieles über Versuch und Irrtum herausfinden müssen. Ich habe zunächst Jura studiert – aber niemand hat mir beigebracht, wie man eine Kanzlei führt. Später habe ich Theologie studiert – auch dort hat mir niemand beigebracht, wie man eine Gemeinde leitet. Das musste ich alles allein herausfinden. Diese Lücke will ich gerne für andere Leitende schließen und ihnen Strategien und Tipps an die Hand geben, für die ich Jahre gebraucht habe. Ich möchte das vermitteln, was ich als junger Leiter gerne gewusst hätte.

Die Auswahl an Podcasts ist inzwischen riesig. Was macht einen Podcast erfolgreich?

Zuerst braucht man ein klares Profil und Format. Und einen machbaren Zeitplan. Bei Apple Podcasts und auf Spotify finden sich unzählige Formate, die nach ein paar Folgen plötzlich wieder auslaufen, weil die Macher den Aufwand unterschätzt haben, der damit zusammenhängt. Man sollte sich auch Gedanken darüber machen, worin der eigene unverwechselbare Beitrag, das Alleinstellungsmerkmal, besteht. Als ich 2014 angefangen habe, gab es für den Gemeindekontext nur sehr wenige Podcasts mit ausführlichen Interviews. Also entschied ich mich für dieses Format. Und für Fragen, die keinem vorher festgelegten Drehbuch folgen. Für den Unternehmensbereich gab es das bereits; aber ich war einer der ersten, der das im christlichen Bereich gewagt hat.

Und wie steht es mit dem Alleinstellungsmerkmal?

In meinen Interviews geht es meistens nicht um das neueste Buch des jeweiligen Gastes. Darüber redet er oder sie schon in zahlreichen anderen Podcasts. Wenn die Interviewpartner auf dieselben Fragen die immer gleichen Antworten geben, ist das auf Dauer auch für sie ermüdend und trägt nicht zu einem lebendigen Gespräch bei. Deshalb vermeide ich es, mit ihnen über ihr aktuelles Buch zu sprechen, um den Standard-Antworten aus dem Weg zu gehen.

Und stattdessen?

Ich spreche mit meinen Gästen über Inhalte, zu denen sie anderswo nicht befragt werden. Mich interessieren vor allem die Hintergrundgeschichten: Wie ist jemand zu der Person geworden, die er oder sie heute ist? Häufig frage ich nach den emotionalen Aspekten ihrer Leitungsaufgabe. Denn mit den unterschiedlichen Emotionen richtig umzugehen, zählt zu den größten Herausforderungen einer Führungsperson.

Kannst du ein Beispiel nennen?

Mir fallen gleich mehrere ein: Craig Groeschel, Gründer der Life.Church, sprach in einer Folge darüber, dass er innerlich mit dem Hochstaplersyndrom kämpft, also oft von Selbstzweifeln geplagt wird. Das sagt jemand, der eine der größten US-Gemeinden leitet! Oder Horst Schulze, ehemaliger Chef der Ritz-Carlton-Hotelgruppe, erzählte, was ihn beim Restaurant-Besuch immer wieder begegnet und ihm total auf den Geist geht. Rick Warren erzählte ganz offen, welche Mühen es ihn gekostet hat, den Weltbestseller ›Leben mit Vision‹ zu Papier zu bringen – ein Buch, das sich so flüssig liest, als sei es ihm einfach aus der Feder geflossen.

 

Wenn wir von solchen Erfahrungen hören, ist das enorm ermutigend, ja befreiend. Wir merken, dass wir alle mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben.

In deinem Podcast sprichst du mit Führungspersonen aus dem kirchlichen Kontext wie auch aus der Unternehmenswelt. Ähneln sich die Herausforderungen, vor denen die jeweiligen Leitenden stehen?

Auf jeden Fall! Menschen sind nun mal Menschen, und Leitungshandwerk ist Leitungshandwerk. Ob man eine Gemeinde mit 100 Personen oder ein Fortune-100-Unternehmen führt, gibt es hier wie dort bei aller Unterschiedlichkeit doch viele Parallelen: Burnout, Eheprobleme, den Umgang mit der eigenen Begrenzung – oder dem Erfolg. Ich habe mit Wirtschaftsbossen gesprochen, die ihrem Unternehmen neuen Schwung verleihen wollen – und mit Pastoren, die neuen Schwung in ihre Gemeinden bringen wollen. Da sind die Dynamiken sehr ähnlich.

Wo siehst du derzeit die größte Herausforderung für Leitende in der Gemeinde?

Eindeutig beim Thema Veränderung. Unsere Gesellschaft verändert sich schneller als je zuvor – die Kirche allerdings nicht. Es ist, als bliebe sie davon unberührt. Besonders in Europa scheinen sich Gemeinden damit schwerzutun. Vor zehn Jahren war ich auf Vortragsreise in Norwegen, Deutschland und der Schweiz. Nach den Veranstaltungen wurde ich oft gefragt, wie ich das Verhältnis von ›modernen‹ gegenüber ›traditionellen‹ Gemeinden sehe. Ich konnte zunächst gar nicht verstehen, weshalb sich die Gemeinden in Europa so gegen Veränderung wehren. Dann wurde mir klar: Ich stamme aus Nordamerika. Unsere Gemeindetradition liegt vielleicht 50 bis 150 Jahre zurück. Die europäische Tradition geht zurück bis zu Luther und noch weiter.
Was europäische Gemeinden im 19. und 20. Jahrhundert erlebten, geschieht in Nordamerika erst jetzt. Aber diese Veränderungen bergen auch unglaubliche Möglichkeiten für Erneuerung, Wachstum und Neuanfang.

Wenn Veränderung das große Thema ist – hat sich auch die Art, wie eine Gemeinde heute zu leiten ist, verändert?

Ja und nein. Ja: Wie Leitung in der Gemeinde heute ausgeübt wird, sollte sich verändert haben. Und nein: Diese Veränderung hat nicht ausreichend stattgefunden. Viele Gemeinden meinen zwischen zwei Extremen wählen zu müssen: dem hierarchischen Leitungsverständnis, bei dem eine Person die Befehle erteilt; und dem basisdemokratischen Ansatz, in dem alle über alles abstimmen und Leitung fast verpönt ist. Beide Extreme sind in unserer heutigen Kultur nicht zielführend. Wir brauchen Leitende mit einer Vision, die bereit und in der Lage sind, in einem Team zu arbeiten und so eine Gemeinde voranzubringen.

Welche weiteren Veränderungen beobachtest du?

Dass Kirche immer häufiger auch online stattfindet. Durch die Pandemie wurde das natürlich befeuert. Trotzdem haben viele Gemeinden die Chancen – auch für die Zeit nach Corona – noch nicht begriffen. Nahezu jeder Mensch, den wir erreichen möchten, ist online unterwegs. Und so sehr wir auch volle Gemeindehäuser mögen, ist es doch ein fataler Fehler, gut gemachte Digitalangebote aus lauter Engstirnigkeit zu vernachlässigen. Das wird Leitenden langfristig auf die Füße fallen. Erstaunlicherweise sind gerade jene Gemeindehäuser voll, die auch digital am besten aufgestellt sind. Und das hat seinen Grund.

Jeder kann heute die Online-Gottesdienste der national und international angesagtesten Gemeinden bequem auf der eigenen Couch mitverfolgen. Wie sehr setzt es eine ›normale‹ Gemeinde unter Druck, wenn sie meint, mit den Angeboten dieser Megakirchen Schritt halten zu müssen?

Die Antwort darauf ist relativ einfach: Niemand sollte dem Gedanken erliegen, dass man die Ortsgemeinde genauso gut ›outsourcen‹ könnte. Auch wenn der Pastor einer Megagemeinde mit einer globalen Präsenz digitale ›Follower‹ gewinnt, wird diese Gemeinde wahrscheinlich niemals in deine Heimatstadt kommen. Leitende in den Gemeinden müssen die Einstellung überwinden, dass ihnen etwas fehlt, wenn sie mit den Angeboten der Megakirchen nicht mithalten können. Sie sollten sich vielmehr bewusst machen, dass sie es sind, die an ihrem Ort die Menschen maßgeschneidert erreichen können. Weil sie ihre Sprache sprechen, ihre Sorgen verstehen – oder verstehen sollten. Mein Rat: Begegnet den Menschen vor Ort mit Liebe, seid für sie da und verrichtet treu euren Dienst! Um es platt zu formulieren: Diesen ›Markt‹ kann euch keine Megakirche streitig machen.

»Niemand sollte dem Gedanken erliegen, dass man die Ortsgemeinde genauso gut ›outsourcen‹ könnte.«

Und dennoch tun sich viele Gemeinden schwer, verlieren in der Gesellschaft an Boden. Weshalb?

Darüber habe ich kürzlich mit Simon Sinek, dem bekannten Autor und Unternehmensberater, in meinem Podcast gesprochen. Er ist eine Stimme der Hoffnung in einem Meer der Verzweiflung – denn nicht nur Kirchen kämpfen gegen Bedeutungsverlust.

Und wie lautet seine Erklärung?

Er vergleicht die Kirche mit etablierten, alten Marktführern, die es sich bequem gemacht und lange keine Notwendigkeit gesehen haben, sich der heutigen Zeit anzupassen. Nun schwimmen ihnen die Felle davon und sie kopieren verzweifelt die Erfolgsmodelle anderer, um nicht abgehängt zu werden. Als Beispiel nannte er die Musik- und Filmindustrie.

Was ist mit ihnen?

Sinek fragte im Podcast: »Weshalb hat Apple – eine Computer-Firma – die Musikbranche auf den Kopf gestellt? Weil sie iTunes entwickelt hat!« Und fragt: »Weshalb hat die Musikbranche das nicht selbst entwickelt?« Sinek fragt weiter: »Weshalb beherrscht Netflix – ein einst kleines, unscheinbares Unternehmen – inzwischen die Fernseh- und Filmindustrie?« Und stellt auch hier die Anschlussfrage: »Warum haben die großen TV-Sender oder Filmstudios nicht selbst das Netflix-Konzept entwickelt?«

Wie antwortet Simon Sinek darauf?

»Disruption kommt in der Regel von außen«, sagt er. Das gelte nicht nur für die erwähnten Branchen, sondern auch für die Kirche. Dann erläutert er, dass die Kirche zu lange von sich selbst überzeugt gewesen sei: Wir wissen, wie man die Botschaft verkündet, unsere Methoden sind über viele Jahre erprobt, unsere Strukturen etabliert. Dahinter steckt, laut Sinek, oft die Angst: Ich beherrsche nur meine Methoden, mir fehlt die Erfahrung, wie man Dinge anders macht. Sich das einzugestehen, erfordert Demut. Also bleiben viele beim Gewohnten, obwohl sich die Spielregeln verändert haben.

Hat er Hoffnung, dass ein Umdenken in den Gemeinden stattfindet?

Ja. Denn trotz des Mitgliederschwunds gäbe es in der Gesellschaft eine große Sehnsucht nach Spiritualität nach dem Transzendenten. Darauf müssen Gemeinden mit neuen Formen reagieren und nah bei den Leuten, präsent sein. Genau diesen Punkt verkörpert Simon Sinek.

Inwiefern?

Am Ende meines Interviews wollte ich ihm die Chance geben, die Zuhörer auf seine digitalen Kanäle aufmerksam zu machen. Also fragte ich Sinek: »Wo finden unsere Zuhörer deine Materialien?« Seine Antwort hat mich verblüfft. An die Zuhörer gerichtet sagt er: »Meine Aufgabe ist nicht dir zu sagen: Komm rüber auf meine Kanäle und suche dort nach meinen Angeboten! Vielmehr ist es meine Aufgabe, dort zu sein, wo du unterwegs bist und dir dort meine Inhalte zugänglich zu machen!«

Wow. Das ist eine Haltung, von der wir als Kirche eine Menge lernen können. An die Zuhörer gerichtet, fügte er an: »Wo immer du digital unterwegs bist, bin ich es wahrscheinlich auch. Du wirst mich problemlos finden.«

Live erleben kannst du Carey Nieuwhof beim Leitungskongress 2024 in Karlsruhe.