2019 hat Prof. Dr. Philipp Bartholomä eine vielbeachtete Studie zu den missionarischen Herausforderungen von Freikirchen verfasst. Sein Fazit: Sie stecken in einer »Krise der Mission«. Nun hat der Autor, gemeinsam mit Stefan Schweyer, das Buch »Gemeinde mit Mission« vorgelegt. Sie zeigen auf, wie eine Gemeinde in einer säkularen Gesellschaft ihren Auftrag erfüllen kann, Menschen mit Gott zusammenzuführen. Gotthard Westhoff hat mit ihm über diese gigantische Aufgabe gesprochen.

Herr Bartholomä, Sie haben enorme Datenmengen in Ihrer Freikirchen-Studie ausgewertet. Was hat Sie besonders erstaunt?

Prof. Dr. Philipp Bartholomä: Ausgangspunkt der Studie war ja zunächst ein detaillierter Blick auf die Wachstumszahlen freikirchlicher Gemeinden. Dass wir derzeit keine großen Aufbrüche erleben, war jedem klar. Aber zu sehen, dass wir es selbst in den am stärksten wachsenden Freikirchen-Bünden im Durchschnitt mit max. 0,7 Bekehrten von "außerhalb" pro Gemeinde und Jahr zu tun haben, war dann doch ernüchternd.

Welches Ergebnis finden Sie besonders wichtig?

Unter den derzeitigen Freikirchen-Mitgliedern befinden sich nur sehr wenige Menschen ohne christlich-kirchliche Vorprägung. Mit anderen Worten: Nur wenige säkularisierte Menschen kommen in Freikirchen neu zum Glauben. Wo Wachstum vorhanden ist, ist das vielfach einem Transfer von bereits Gläubigen geschuldet. An diese Erkenntnisse anknüpfend habe ich dann versucht, die missionarischen Herausforderungen für Freikirchen in einem »nach-christentümlich-säkularen« Kontext herauszuarbeiten.

Was verstehen Sie unter »nach-christentümlich-säkularen Kontext«?

So charakterisieren wir eine Zeit, in der die enge Verbindung von christlichem Glauben und Kultur aufgelöst wird. Der christliche Glaube lebt nach wie vor in unterschiedlichen Gestalten weiter, wird aber kulturell nicht mehr gestützt. Auch die Kirche hat als Institution an gesellschaftlichem Einfluss verloren. Christliche Überzeugungen und Lebensformen sind nicht mehr selbstverständlich. Für viele Menschen ist es fast schon unmöglich geworden, an Gott zu glauben.

Was bedeutet das für die missionarischen Bemühungen einer Gemeinde?

Dazu ist erst einmal die historische Einordnung hilfreich: Im 19. Jahrhundert sind die klassischen Freikirchen als missionarische Bewegung in einem Umfeld entstanden, in dem das Christentum nach wie vor gesellschaftlich prägend war. An diesen christlichen Grundwasserspiegel konnte man anknüpfen. In Abgrenzung und als Gegenentwurf zu den Großkirchen »erweckte« man die Menschen zu einem vertieften, lebendigeren Glauben. Es ist kein Zufall, dass Freikirchen gerade dort ihre »Hochburgen« haben, wo vorher die Erweckungsbewegung gewirkt hatte, also ein entsprechender Nährboden für die Entwicklung ihrer eigenen Gemeinschaften vorhanden war: Z. B. in Mittelhessen, im Bergischen Land oder in Württemberg.
Heute fehlen diese Anknüpfungsmöglichkeiten an einen vorhandenen geistlichen Grundwasserspiegel – das freikirchliche Angebot trifft auf eine veränderte Nachfragesituation. Der alte »erweckliche Modus« funktioniert nicht mehr – dem müssen wir uns stellen.

Die Ergebnisse Ihrer Studie sind ziemlich ernüchternd. Haben Sie dennoch Hoffnung?

Ein ehrlicher Blick auf die Situation kann in der Tat ernüchternd sein. Da ist es gut, sich klarzumachen, dass die Quelle der christlichen Hoffnung nicht im Gesundheitszustand der Kirche begründet ist, sondern in Jesus Christus, dem auferstandenen und wiederkommenden Herrn. Jesus hat versprochen, seine Gemeinde zu bauen. Das tut er seit zwei Jahrtausenden gegen alle Krisen und Widerstände. Er kann auch mit Säkularisierungsdruck und manchen innerkirchlichen Irrungen und Wirrungen umgehen. Und wenn ich genau hinschaue, sehe ich immer wieder ganz »normale« Gemeinden, die neu vom Evangelium erfasst werden und sich leidenschaftlich »um Gottes Willen« auf den Weg hin zu Menschen machen. Das macht mir Hoffnung.

Und was kann zu einer grundlegenden Wende führen, die viele Gemeinden erfasst?

Mit dem Begriff »Wende« wäre ich sehr vorsichtig. Die große Trendumkehr haben wir in der Vergangenheit schon von zu vielen neuen Konzepten und Herangehensweisen erwartet. Veränderung ist notwendig, keine Frage. Aber »kirchliche Innovation« allein wird das Ruder nicht herumreißen. In der Bibel fällt mir auf, dass große Erneuerungsbewegungen immer einhergingen mit einer neuen Hinwendung zu Gott, mit demütiger Sündenerkenntnis, aufrichtiger Buße und dem ehrlichen Willen, Gottes Wort ernst zu nehmen. Erneuerung der Kirche beginnt mit dem leidenschaftlichen Gebet um »ein neues Herz und einen neuen Geist«, wie es in Hesekiel 36 steht. Das kann nur Gott selbst schenken.

Mit Ihrer Studie wollen Sie auch eine Brücke von der akademischen Reflexion hinein in die missionarische Praxis von Freikirchen schlagen. Wie wurden Ihre Ergebnisse von den Gemeindeverbänden aufgenommen?

Die meisten waren dann doch der Meinung, dass man den Überbringer schlechter Nachrichten nicht gleich lynchen sollte. Soweit ich sehe, wurden die Erkenntnisse meist mit einer gewissen Betroffenheit wahrgenommen, aber doch auch als Ansporn, sozusagen als »wake-up call« interpretiert.

Es gab also keinen Widerspruch?

Doch, den gab es natürlich auch: Vereinzelt hat man mir vorgeworfen, ich würde ein zu negatives Bild malen.

»Der alte ›erweckliche Modus‹ funktioniert nicht mehr – dem müssen wir uns stellen.«

Fließen Ihre Erkenntnisse nun vielerorts in das Gemeindeleben ein?

Ich war durchaus überrascht, dass auch viele pastoral Verantwortliche den dicken Wälzer zumindest in Teilen gelesen haben. Aber als ehemaliger Pastor verstehe ich natürlich, dass der Weg von einer ausführlichen akademischen Studie bis hinein in die Gemeindepraxis doch recht weit ist.
Damit sich ganze Leitungskreise intensiver mit den entsprechenden Fragen und Herausforderungen beschäftigen, habe ich mit meinem Kollegen Stefan Schweyer das Buch »Gemeinde mit Mission« geschrieben. Dort brechen wir die Überlegungen aus der Studie herunter und denken sie sehr konkret für die missionarische Praxis weiter.

Auf welchen Zeithorizont müssen sich Gemeinden einstellen, wenn sie sich auf einen missionarischen Veränderungsprozess einlassen?

Mein Eindruck ist, dass kurzfristig installierte Konzepte, gepaart mit der Hoffnung auf schnelle Erfolge, hier nicht greifen. Wir brauchen eine neue Kultur, ein verändertes Klima in unseren Gemeinden – und solche Veränderungen brauchen Zeit. Das Erkennen, oder besser gesagt Überführt-werden von der eigenen missionarischen Trägheit. Das Klagen und Bekennen vor Gott. Ein neues Verständnis dafür, wie unsere Mitmenschen »ticken« und warum es ihnen so schwerfällt zu glauben. Die bewusste Prägung einer vom Evangelium durchdrungenen Gemeindekultur, bis hin zu bewussten evangelistisch-missionarischen Schritten. All das geschieht nicht über Nacht.

Woran machen Sie fest, ob in einer Gemeinde diese neue Kultur vorhanden ist, ob sie diese, flapsig formuliert, »missionarische Fitness« entwickelt hat?

Ich tue mich schwer damit, ein Bewertungssystem einzuführen, um missionarische »Fitness« zu messen. Aber meiner Beobachtung nach lassen sich bei allen gemeindlichen Unterschieden fünf grundsätzliche Faktoren identifizieren, die den Nährboden für eine fruchtbare missionarische Gemeindepraxis bilden (s. u.).

Trotz aller Veränderungen der Gemeindekultur verändert das wenig an der wachsenden Kluft zwischen Kirche und Gesellschaft.

Das ist wohl so. Bei aller Selbstkritik im Blick auf das eigene missionarische Wirken müssen wir nüchtern wahrnehmen, dass in den gegenwärtigen gesellschaftlich-kulturellen Verhältnissen viele Zeitgenossen den christlichen Glauben nicht besonders plausibel finden und christlichen Überzeugungen sogar zunehmend feindselig gegenüberstehen. Der Gegenwind wird stärker, die Kluft in der Tat größer. In unserer nach-christentümlichen Zeit spricht also erstmal wenig für großes zahlenmäßiges Wachstum. Da sollten wir realistisch sein, um nicht an überbordendem Erwartungsdruck zu ersticken. Wichtig ist, dass wir neu unsere Identität als christliche Minderheit annehmen, auch wenn die zählbaren Bekehrungserfolge und das Wachstum überschaubar bleiben.

Wie nimmt man diese Identität als christliche Minderheit an?

Als Christen im Westen müssen wir lernen, was es bedeutet, Christsein im Exil zu leben – wie vor uns bis heute unzählige Glaubensgeschwister in anderen Teilen der Welt. Bei aller Sehnsucht nach Relevanz gilt es eben auch die Erfahrung des Fremdseins auszuhalten, die zum Christsein und zum Kirchesein dazu gehört.
Jenseits von Eden sind wir zuversichtliche Pilger in der Wüste und hoffnungsvolle Priester in einer herausfordernden Umgebungskultur. Aber wir verlieren das Ziel nicht aus den Augen, dass kirchen- und glaubensferne Menschen zum Glauben finden mögen. Wir nutzen die bleibende Gelegenheit, in aller
Schwachheit, aber gestärkt durch die Kraft des Heiligen Geistes, Jesus Christus als Erlöser und Herr zu bezeugen, der eine tragende Hoffnung schenkt – auch mitten in der Gebrochenheit des Lebens und in den angstmachenden Krisen unserer Tage.

Eine Empfehlung Ihrer Studie sind Gottesdienste mit »gästefreundlichen Elementen« und Predigten, die einen starken Alltagsbezug haben. Das erinnert an Gästegottesdienste, die vor Jahren durch Willow Creek populär geworden sind. In vielen Gemeinden wurden sie aber wieder eingestellt, weil die Ressourcen für die Langstrecke fehlten.

Ich unterscheide bewusst zwischen Gottesdiensten für Kirchendistanzierte, die ganz an noch-nicht-glaubenden Gästen orientiert sind, und gästesensiblen Gottesdiensten. Anstatt ein paar Mal im Jahr sehr ressourcen- und kraftraubende Gästegottesdienste durchzuführen, wäre es meines Erachtens zielführender, in den ganz normalen, wöchentlichen Gemeindegottesdiensten eine gastfreundliche Kultur zu etablieren. Dabei geht es nicht primär um professionellen Hochglanz – der für die meisten Gemeinden sowieso kaum erreichbar ist –, sondern darum, bewusst mit der Anwesenheit von Noch-nicht-Christen zu rechnen.
Das bedeutet, dass zwar im Kern die versammelte Gemeinde Gottesdienst feiert, Nichtchristen aber bereits in der Begrüßung explizit »abgeholt« werden und glaubensdistanzierten Menschen ausdrücklich vermittelt wird, dass sie trotz abweichender Überzeugungen und womöglich vorhandener Vorbehalte herzlich willkommen sind. Außerdem wäre auf eine Sprache zu achten, die auch Nicht-Insider verstehen können.

Was heißt das für die Predigt?

In Bezug auf die Predigt sollte man bewusst davon ausgehen, dass einige Zuhörer kein christliches Vorwissen mitbringen. Sie werden ihr Herz leichter öffnen, wenn wir ihre Zweifel und mögliche Gegenargumente ernst nehmen und diese in der Predigt ansprechen. Auch die Möglichkeit, auf den Ruf zum Glauben zu antworten, sollte in gästesensiblen Gemeindegottesdiensten immer wieder bewusst gegeben werden.

Wie gelingt es einer Gemeinde, ihre missionarische Ausrichtung zu entwickeln?

Wesentlich sind die genannten geistlichen Prozesse. Dann sollte eine Gemeinde ihre missionarische Leidenschaft stärken und fragen: Warum liegen uns unsere Mitmenschen eigentlich am Herzen und was dämpft unseren missionarischen Eifer? Auch den eigenen Kontext besser zu verstehen, ist hilfreich: Auf welchen Wegen könnten denn unsere Freunde und Bekannten mit dem Glauben in Berührung kommen, wo finden sich Anknüpfungspunkte? Und dann wäre konkret zu fragen, wie sich vor Ort eine gastfreundliche Gemeindekultur prägen lässt.

Das alles muss man lernen …

Ja, und zu einem stimmigen missionarischen Konzept gehört es auch, Gemeindeglieder zu einem missionarischen Lebensstil zu befähigen, sodass sie in Beziehungen zu Nichtchristen ihren Glauben überzeugend ins Spiel bringen können. In Ergänzung dazu – und angesichts der Tatsache, dass sich das Christwerden heute meist als Prozess vollzieht – sollte eine Gemeinde schließlich über evangelistische Veranstaltungsformate unterschiedlicher Intensität nachdenken: vom niederschwelligen und gemeinschaftsorientierten Angebot bis zum Gottesdienst.


Die 5 Basics für eine missionarische Gemeinde

  1. Es braucht eine starke missionarische Leidenschaft, also den Wunsch vieler, dass Menschen zum Glauben an Jesus kommen.

  2. Wichtig ist das »Umparken im Kopf« – ein neues Verständnis für den veränderten säkularen Kontext, in dem wir leben und zum Glauben einladen.

  3. Entscheidend ist auch, dass viele Gemeindemitglieder bewusst Beziehungen zu Noch-nicht-Christen leben.

  4. Die Gemeindeglieder sollen die Möglichkeit haben, ihre Freunde und Kollegen in Gemeindeveranstaltungen – Gottesdienste, Entdeckergruppen, usw. – einzuladen, die »gästesensibel« gestaltet werden.

  5. Das Ganze sollte eingebettet sein in eine grundsätzlich gastfreundliche Atmosphäre der Wertschätzung und Annahme, in der noch-nicht-glaubende Menschen mit ihren Fragen und Zweifeln willkommen sind.

Live erleben kannst du Prof. Dr. Philipp Bartholomä beim Leitungskongress 2024 in Karlsruhe.