Viele Jahre war die „Schöne Aussicht“ – benannt nach der Kneipe, in der die Versammlungen lange stattfanden – eine unauffällige Gemeinde in Detmold. Dann beschließt das Leitungsteam, für 1 Million Euro ein altes Druckereigebäude zu kaufen und umzubauen. In diesem Prozess verändert die „Schöne Aussicht“ sich so stark, dass sie heute kaum wiederzuerkennen ist. Der Bericht über eine Gemeinde, die ins Risiko geht – und auf ihrem Weg auch zum Segen für ihre Stadt wird.
Ein Sonntagmorgen im Juli. Die Innenstadt der ostwestfälischen Residenzstadt Detmold liegt noch im Halbschlaf. Ein paar wenige Menschen sind mit Brötchentüten unterwegs. Jogger drehen frühe Runden.
Stadtauswärts ändert sich auf einmal das Bild. Beim Abbiegen in ein Industriemischgebiet steckt man plötzlich in einem regen Pkw-Verkehr. Es wirkt, als ob die Stadt plötzlich aufgewacht ist. Fußgänger sind unterwegs, junge Paare mit Kindern an der Hand schieben Sportkarren. Dann ein großer Parkplatz, Einweiser in feuerroten Warnwesten lotsen die Ankommenden freundlich zu den wenigen noch freien Parkflächen. Dahinter ein langgezogenes ehemaliges Firmengebäude. „Schöne Aussicht“ steht über dem Eingang.
Ein Begrüßungsteam nimmt die Besucher mit einem Lächeln in Empfang. Im großzügig angelegten Foyer mit einer Infotheke gehen Mitarbeitende auf Neuankömmlinge zu, die durch ihren fragenden Gesichtsausdruck sofort erkennbar sind, zeigen ihnen die Wege im Gebäude und zum Gottesdienstsaal.
»Mein erster Gedanke: Wie blöd musst du sein, sowas zu kaufen?«
600 Menschen im Gottesdienst
Lange sah es hier anders aus. In den vergangenen Jahren hat sich immens viel getan. „Die Gemeindemitglieder hatten Bauchschmerzen mit all den Veränderungen“, sagt Rudi Dück, der die evangelische Freikirche „Schöne Aussicht“ seit dem Jahr 2000 als Pastor leitet. „Wir sind weggegangen vom Traditionellen, hin zu einer Leiterschaft, die vordenkt“, erinnert sich der 54-Jährige im Rückblick auf die Gemeinde, die vor über 30 Jahren von einer kleinen Gemeinschaft konservativ geprägter russlanddeutscher Aussiedler gegründet wurde.
Heute erlebt die „Schöne Aussicht“ ein rasantes Wachstum, jeden Sonntag sind rund 600 Personen im Gottesdienst. Sie ist fester Bestandteil des öffentlichen Lebens im lippischen Detmold, neue Heimat für geflüchtete Menschen aus Ländern von der Ukraine bis Syrien.
Hilferuf nach Russland
Die Entwicklung, die zu der heutigen modernen Gestalt geführt hat, beginnt in Sibirien, in den Weiten des asiatischen Teils von Russland. Dort zieht Rudi Dück in den 1990ern von Ort zu Ort, vom Ural bis ins fernöstliche Kamtschatka, organisiert missionarische Freizeitcamps, um Jugendliche nach dem Zerfall der atheistisch geprägten Sowjetunion für den christlichen Glauben zu begeistern.
In Sibirien erfährt er von seiner Frau Olga, dass es schlecht bestellt ist um seine Heimatgemeinde: Die Leitung sei zerstritten, die Gemeinde stecke führungslos in einer Sackgasse fest. Die Nachricht packt Dück, er hatte die Gemeinde 1989 zusammen mit anderen jungen Familien gegründet, die aus Russland zugewandert waren. Die Mitglieder hatten ihre geistliche Prägung großenteils in Brüdergemeinden erlebt, d.h. konservative Grundhaltung, enger Zusammenhalt, im öffentlichen Leben eher unscheinbar.
Als Gemeindehaus diente eine früher vielbesuchte Kneipe, seinerzeit ein fester Bestandteil des öffentlichen Lebens der Stadt: Mitglieder des örtlichen Schützenvereins trafen sich dort nach dem Training und zelebrierten bei Bier und deftiger Mahlzeit den geselligen Teil des Vereinslebens. Als der Kneipenbetreiber umzog, kaufte die junge Gemeinde die Immobilie, als Heimat ihrer Freikirche. Den Namen des einstigen Wirtshauses behielten sie bei: „Schöne Aussicht“. Ein Name wie ein Versprechen.
Aber nun, in Sibirien, erfährt Dück, dass seiner Heimatgemeinde die Perspektive fehlt. Einige Mitglieder finden: Vielleicht sollte „der Rudi“ zurückkommen und die Gemeinde neu beleben. Und Dück willigt ein, reist zurück nach Deutschland, wo er eine Gemeinde mit „völlig verunsicherter Führungsabteilung“ vorfindet.
Der neue alte Leiter krempelt die Gemeinde in der Folgezeit um: stellt sie mit einem frischen Leitungsteam neu auf, formuliert mit dem neu gewählten Ältestenkreis neue Leitlinien. Eine lautet: „Wir sind eine gesellschafts-relevante Gemeinde, die die barmherzige Liebe Gottes in der Gesellschaft lebt.“ Dieser Kurs dreht die Gemeinde sprichwörtlich auf links: Nicht mehr nach innen, sondern nach außen gerichtet soll die „Schöne Aussicht“ sein, in der Stadt einen Unterschied machen.
„Traditionelle Formen abbauen“
Eine der dringlichsten Veränderungen sieht Dück in einem neuen Gemeindehaus. Die alte Kneipe ist schon lange zu eng geworden. Er gewinnt die Gemeinde für den Plan, das Nachbargrundstück zu erwerben, das einstige Wirtshaus abzureißen und ein größeres Gebäude zu bauen. Doch in den Wochen, bevor der Plan umgesetzt werden soll, beschleichen den Pastor Zweifel. Er „ging in die Stille“, erzählt er, grübelt und betet: „Herr, was willst du von uns als Gemeinde?“
In der Apostelgeschichte liest er, wie der Heilige Geist über die Apostel kommt und die Anwesenden die Predigt in ihrer eigenen Sprache verstehen können. Dück kommt der entscheidende Gedanke: „Wir sind eine russlanddeutsche Gemeinde. Wenn Menschen aus anderen gesellschaftlichen Kontexten zu uns kommen, stehen sie vor einer Hürde: Sie müssen erst uns Russlanddeutsche verstehen, um Jesus zu verstehen. Da wusste ich: Das ist falsch. Wir müssen von dem eingeschränkten kulturellen Kontext weg, die traditionellen Formen abbauen und uns gesellschaftlich breiter aufstellen.“
Ihm wird klar: Der Ältestenrat und er hatten zu klein gedacht: „In der Bibel steht, dass Gott retten und hinzutun will – und wir bauen diese kleine Immobilie.“ Dück will die Planungen für den Neubau abbrechen, auch wenn schon viel Zeit und Geld in das Neubauprojekt geflossen ist. Viele reagieren überrascht. Aber die Mehrheit steht hinter dem Pastor.
„Ich dachte: Jetzt ist Gott dran. Er wird uns etwas Großes schenken“, erzählt er. Allerdings: In den nächsten sechs Jahren tut sich – nichts. Dück bezeichnet diese Phase heute als „Zeit der Spannungen“. Einige Mitglieder haben „Bauchschmerzen“ mit dem vermeintlichen „Schlingerkurs“. Manchen missfällt der neue Gemeindekurs überhaupt, in dem ausdrücklich von „gesellschaftlicher Relevanz“ und einer „multikulturellen Gemeinde“ die Rede ist. Verliert der ursprüngliche Gemeindekern da nicht an Konturen?
Alte Druckerei in der Parallelstraße
Im Jahr 2012 erhält Rudi Dück einen Hinweis aus dem Detmolder Bauamt: Er habe doch schon länger eine große Immobilie für seine Gemeinde haben wollen, heißt es am Telefon. Da gäbe es eine, nur ein paar hundert Meter neben der alten Kneipe: Eine große Druckerei musste schließen, die Immobilie stand nun zum Verkauf – für eine Million Euro. Dück ist elektrisiert, macht sich auf den Weg in die Parallelstraße – und muss erstmal schlucken: Er steht vor einem gewaltigen, fast fensterlosen, heruntergekommenen Industriegemäuer. Beim Anblick packen ihn erneut Zweifel. „Mein erster Gedanke: ‚Wie blöd musst du sein, sowas zu kaufen?‘ Die Strom- und Heizkosten fressen dich auf! Und wie soll man bitte 6.500 Quadratmeter Nutzfläche ausbauen? Mit 270 Mitgliedern. Wer soll das stemmen?“
Doch der Gedanke eines großen Gemeindehauses lässt ihn nicht los. Die Ältesten, die informiert sind über das Angebot, nehmen die Druckerei selbst in Augenschein, wägen Zahlen ab, beten. Dücks Bibellektüre ermutigt ihn. Allen ist klar: Dies ist der Zeitpunkt, in dem sich der künftige Kurs der Gemeinde entscheidet. Dück und die Ältesten wagen den Schritt, werben mit geeinter Stimme für den Kauf.
Am Tag der Mitglieder-Abstimmung sprechen sich 93 Prozent für den Kauf aus. Aber Rudi Dück will ganz sicher gehen. Er besucht 15 Mitglieder, um sich ihrer Unterstützung zu vergewissern. Jeden von ihnen fragt er direkt: „Wenn es irgendwann schwer wird, wenn wir keine Fenster im Rohbau haben, es im Winter kalt und dunkel ist, wenn der Zusammenhalt nachlässt und immer weniger Leute zum Bauen kommen – bist du dann noch dabei?“ Jeder der Männer blickt ihm in die Augen und sagt: Ich bin dabei. „Da wusste ich: Das kriegen wir gewuppt“, erzählt Dück.
Die Bereitschaft, gemeinsam mit der Gemeindeleitung ins Risiko zu gehen, auf den Segen zu vertrauen – Rudi Dück weiß, dass das nicht selbstverständlich ist. „Das Vertrauen der Gemeinde gegenüber den Ältesten ist hoch. Gott sei Dank.“
Die Gemeinde kauft die Immobilie für rund 1,1 Millionen Euro. Ein Neuanfang, der nicht allen gefällt. 90 Mitglieder verabschieden sich in den folgenden sechs Jahren. Neunzig! Dück erinnert sich: „Die neue Immobilie, eine Kirche ohne Fenster, mit viel buntem Licht, ohne Chor, dafür moderne Musik – viele lehnten diese neue Gemeindeform ab.“
Kulturwandel auch im Gottesdienst
Im fensterlosen Gottesdienstsaal ist am Sonntagmorgen im Juli nahezu jeder Platz besetzt – mit auffällig vielen Menschen zwischen 30 und 40 Jahren. Der Gottesdienst wird im Livestream übertragen, mit etwa 300 Abrufen pro Woche, meist Familien, die den Gottesdienst zu Hause mitverfolgen.
Auch sonst ist der Kulturwandel, den die Gemeinde über die Jahre vollzogen hat, mit Händen zu greifen. Zwei große Leinwände informieren über Aktuelles aus dem Gemeindeleben, untermalt mit leiser Musik. Dazwischen sind mosaikgleich weitere kleine Leinwände installiert, auf denen später Video- und Lichtprojektionen erscheinen. Ein Countdown zählt die Minuten bis zum Gottesdienstbeginn herunter. Eine kurze Begrüßung durch den Lobpreisleiter, dann beginnt die Band mit dem Worship. Der Sound ist kräftig und gut abgemischt – ein Verdienst des Tontechnikers am Mischpult. Der größte Teil der Lieder wird auf Deutsch gesungen. Einige Songs hat die gemeindeeigene Band selbst geschrieben, sie sind auch auf CD erschienen. Zu den Liedern wird die Bühne abwechselnd in farbiges Licht getaucht. Die Texteinblendungen der Lieder haben eine Übersetzung ins Russische, etwa 50, 60 Ukrainer besuchen seit Kriegsbeginn den Gottesdienst, der simultan übersetzt wird.
Die Stühle sind bequem, die Predigt ist 40 Minuten lang – vielleicht noch ein Relikt aus der russlanddeutschen Tradition. In der Abmoderation wird auf das gemeinsame Essensangebot hingewiesen. Die Mitarbeitenden der „Schönen Aussicht“ beweisen dabei ihr Organisationstalent: Unmittelbar nach dem Gottesdienst ist das Essen servierfertig, alle Hungrigen können direkt in den Nebensaal gehen.
Ein indisches Gericht steht auf der Speisekarte. Auch dazu gibt es eine originelle Idee: „Eat for Mission”, was in unregelmäßigen Abständen angeboten wird. Das Gericht stammt dabei aus dem Land, aus dem ein Missionar stammt, für den die Einnahmen bestimmt sind. Rund 250 Menschen bleiben an diesem Sonntag zum Essen. Andere bevölkern die einladende Café-Theke im Foyer.
Ort der Vielfalt
Das „Eat for Mission“-Projekt geht auch auf Axel Fischer zurück. Der frühere Missionar, der viele Jahre in der Mongolei gearbeitet hat, ist seit 2018 angestellt im Pastoren-Team. Er verkörpert damit einen weiteren Teil der Gemeinde-Veränderung: „Dass sie einen wilden Vogel wie mich angestellt haben, charismatischer Hintergrund, Nicht-Russlanddeutscher, quer rein vom Missionsfeld – das ist nicht selbstverständlich.“ Aber es gefällt ihm, dass die „Schöne Aussicht“ unorthodoxe Wege geht, Neu[1]es wagt, auch wenn die Prägung konservativ sei. „Wenn du in diese Gemeinde guckst, da herrscht eine Kombination aus traditionellen Werten und modernen Methoden.“
Fischer ist einer von fünf Gemeinde-Ältesten, alle mit klar definierten Aufgaben. Er ist verantwortlich für die Medien- und Kommunikationsarbeit und plant missionarische Einsätze. Die Arbeit der „Schönen Aussicht“ funktioniert, weil sie mit rund 120 fest Mitarbeitenden über einen kräftigen Mitgliederstamm verfügt und Leiterschaft eine wichtige Rolle beigemessen wird. Die Gemeindeleitenden besuchen regelmäßig Willow-Creek-Kongresse. Die Arbeitsbereiche werden von zwölf fachkundigen, fest angestellten Bereichsleitern geführt, die im steten Austausch mit den Gemeindeältesten sind, mehrere Unter-Bereichsleiter begleiten und deren Bedürfnisse im Blick behalten. „Das ist wichtig, wenn du Mitarbeiter motiviert dabei behalten willst“, sagt Dück. Durch umfassende Organisation und klar formulierte Zuständigkeiten sollen Reibungsverluste vermieden werden.
Das wirkt sich im Gemeindeleben aus: Im Frauen-Café für geflüchtete Syrerinnen. Im jährlichen „Fest der Nationen“, bei dem die Vielfalt in Detmold gefeiert wird. Durch Gesprächskreise für Eltern von Kindern mit Behinderung, bei denen sich die Familien gegenseitig stärken und stützen. Durch Kinder und Jugendcamps.
Die neue Öffnung der Gemeinde zeigt sich auch in der aktuellen Hilfe für geflüchtete Ukrainer. Die Gebäudefläche ermöglichte es der Gemeinde, unmittelbar nach Beginn des Krieges im Februar 1.500 Quadratmeter für eine große Verteilstelle humanitärer Hilfsgüter einzurichten. Die Gemeinde schaltete eine Zeitungsannonce: „Die Schöne Aussicht sammelt“. Detmolder Bürgerinnen und Bürger spendeten daraufhin Kleidung, Küchengeräte oder Spielsachen für ukrainische Familien. Die Gemeinde schickte Lkws mit Matratzen, Decken und Schlafsäcken in die Ostukraine. Der russische Angriffskrieg habe in der Gemeinde eine große Welle der Unterstützung für die Ukraine losgetreten, erzählt Dück, auch wenn sie mehrheitlich von Russlanddeutschen gegründet wurde. „Wir sind eine barmherzige Gemeinde. Das steht als zentraler Punkt in unserer Vision.“
Grillen mit dem Bürgermeister
Eine schöne Anerkennung war die: Am Ende seiner 16 Jahre währenden Amtszeit zollte der vorige Detmolder Bürgermeister Rainer Heller der Gemeinde seine Dankbarkeit auf besondere Weise: Er lud Älteste und leitende Mitarbeitende privat zum Grillen ein. Ein klares Zeichen an die Mitglieder: Ihr wirkt mit eurer Arbeit hinein in die Stadt. Die „Schöne Aussicht“ ist ein Heimatort für insgesamt mehr als 700 Christen geworden, mit 600 regelmäßigen Gottesdienstbesuchern. Und nun? „Für uns ist Wachstum ein Kurs“, sagt Rudi Dück. „Wir wollen bald den Saal ausbauen, auf mehr als 1.000 Sitzplätze.“