Angesichts der Rücktritte der leitenden Pastoren und des Ältestenkreises ist es an der Zeit, sich um die Willow Creek Community Church zu versammeln, um sie zu unterstützen und für sie zu beten. Durch diese Rücktritte und die Buße, hat Willow die Gelegenheit, in eine neue frucht­bringende Zeit des Dienstes einzutreten.

Wir wollen zunächst darüber nachdenken, was in den letzten Monaten geschehen ist und warum, denn eine vereinfachte Sichtweise der Ereignisse würde Willow – und jede andere christliche Institution in einer ähn­lichen Krise – nur dazu verleiten, so zu reagieren, dass die fruchtbringende Zeit allzu schnell vorübergeht. Viele Frauen haben sich gemeldet und gesagt, dass Bill Hybels seine Macht missbraucht und Kolleginnen sexuell belästigt hat. Die derzeitige Leitung, die Pastoren und der Ältestenkreis, haben es versäumt, die Anschuldigungen, die vorgebracht wurden, frühzeitig ernst zu nehmen. Wir tun gut daran, unser Bestes zu versuchen, um die moralische und psychologische Komplexität dessen, was geschehen ist, zu erfassen, damit eine tiefgreifende Wiedergutmachung stattfinden kann.

Wahre Loyalität wiederentdecken

Angesichts der vielen besorgniserregenden Aussagen über Hybels’ Verhalten kann man leicht vergessen, dass wir es immer noch mit Anschuldigungen und nicht bewiesenen Fakten zu tun haben. Viele sind der Meinung – das schließt mich ein –, dass er schuldig ist. Hybels bestreitet jedoch weiterhin viele der am schwersten wiegenden Anschuldigungen. Es ist nicht einfach nur etwas typisch Amerikanisches, sondern auch ein Gebot der christlichen Nächstenliebe: Wer angeklagt ist, hat ein Recht auf ein Verfahren vor Gericht. Für unabhängige Gemeinden in der Situation von Willow ist dieses Gericht genau die Art von unabhängiger Untersuchung, die Willow nach langem Zögern in Auftrag gegeben hat. Eine unabhängige Untersuchung wird hoffentlich in der Lage sein, die volle Wahrheit über diese Angelegenheit ans Licht zu bringen. Die Wahl der untersuchenden Organisation und ihre Arbeit müssen unbedingt im Gebet begleitet werden.

»Die bisherigen leitenden Pastoren und der Ältesten­kreis haben mit ihrem Rücktritt sowohl Mut, als auch Demut bewiesen.«

Die bisherigen leitenden Pastoren und der Ältestenkreis haben mit ihrem Rücktritt sowohl Mut, als auch Demut bewiesen. Das ist schon an sich ein Akt der Buße, und dafür können wir dankbar sein. Ohne die Gemeindeleitung zu entschuldigen, tun wir jedoch gut daran festzustellen, warum Mitarbeiter und Älteste, die sonst weise Entscheidungen treffen, in einer Krise versucht sind, Anschuldigungen herunterzuspielen und ihren Leiter um jeden Preis zu schützen, denn das machen sie oft.

Ein Grund dafür ist für viele die Loyalität. Loyalität ist in christlichen Organisationen eine besonders wertvolle Tugend, besonders in einer Zeit, in der der Auftrag so leicht untergraben wird. Man will ja keine Mitarbeitenden einstellen oder Ältestenkreise bilden, deren erster Reflex darin besteht, bei jeder Anschuldigung vom Leitenden stets das Schlechteste anzunehmen und das ist der Haken, denn Loyalität ist viel komplexer, als wir zunächst annehmen. Man neigt zur Annahme, Loyalität würde bedeuten, immer auf der Seite des Leitenden zu stehen, dem man treu sein will. Stattdessen bedeutet Loyalität, alles in der eigenen Macht Stehende zu tun, um der Leitungsperson nicht nur zu einem besseren, sondern auch zu einem treueren Jünger Jesu Christi zu machen. Es ist nicht anders als beim Patriotismus für das eigene Land. Der wahre Patriot liebt sein Land; er liebt es so sehr, dass er, wenn er meint, sein Land tue Unrecht, seine Meinung kundtun und die Nation dazu aufrufen wird, an ihren Idealen festzuhalten.

Angesichts schwerwiegender Anschuldigungen ist es also kein Verrat, Anschuldigungen ernst zu nehmen  und so zu behandeln, dass die Wahrheit herauskommt und nicht vertuscht wird. Es ist ein Akt der Loyalität – um der Integrität des Leitenden willen.

Die Loyalität gegenüber dem Leitenden geht noch weiter und dringt noch tiefer, wenn sich herausstellt, dass er oder sie eines schändlichen Vergehens schuldig ist. Dann braucht der Leitende die Loyalität eines wahren Freundes. Das heißt nicht etwa, man solle falsches Verhalten leugnen oder entschuldigen. In solchen Zeiten heißt das, ihm beizustehen, für ihn und mit ihm zu beten, während er mit seinem Fehlverhalten zu ringen beginnt und zögernd und unbeholfen versucht, Buße zu tun. Denn es ist unvermeidlich, dass Leitende in solchen Krisen in der Regel nicht das geistliche Rüstzeug haben, um sich jedem Aspekt ihrer Sünden sofort zu stellen. Buße ist schwierig und furchteinflößend. Wir brauchen Gottes mächtige Gnade, um Buße zu tun, und diese Gnade wird oft durch geduldige und liebevolle Ratgeber vermittelt, die zu einer aufrichtigen und tiefgreifenden Buße führen können.

Aber Loyalität ist noch komplexer. Die Pastoren und Ältesten sind ebenso berufen, ihren Gemeindegliedern gegenüber loyal zu sein. Das ist ein Grund dafür, dass Leitung auf allen Ebenen so schwierig ist und dass sie das Beste von Männern und Frauen erfordert. Mitarbeiter und Älteste haben oft das Gefühl, dass sie sich zwischen der Loyalität zu ihrem Leiter oder zu ihrer Gemeinde, der zu dienen sie doch berufen sind, entscheiden müssen; und am Ende entscheiden sie sich oft nur für eines von beiden. Das ist bei Willow passiert, nicht nur im Ältestenkreis. Die Leute sind entweder für die Gemeinde und insbesondere für die Frauen, die sich gemeldet haben, oder sie waren für die Mitarbeitenden, für den Ältestenkreis und für Hybels. Aber Loyalität und Liebe erfordern, dass wir analysieren, wie und auf welche Weise wir allen Parteien gegenüber loyal sein müssen, selbst wenn wir glauben, dass eine Partei schwere Fehlurteile gefällt oder sich unmoralisch verhalten hat.

All diese Loyalitäten beruhen natürlich auf unserer Loyalität – also unserer Treue – zu Jesus Christus, der uns seine Loyalität bewiesen hat, als wir noch Sünder waren. 

Vorwärtsgehen

Einige waren der Meinung, dass Willows Mitarbeitende und Älteste Hybels gegenüber zu loyal waren, und einige behaupten, dass Ältestenkreise nicht so loyal sein sollten. Wie diese Darlegung oben andeutet, sind wir anderer Meinung. Wir glauben vielmehr, dass die Ältesten ihren Gemeinden und ihren Pastoren noch mehr Loyalität entgegenbringen sollten – und zwar mit allem, was diese Loyalität erfordert.

Eine Frage lautet nun: Wer wird denjenigen gegenüber, die gerade zurückgetreten sind, loyal bleiben? Und Bill Hybels und seiner Familie? Und wie sieht Loyalität jetzt für diejenigen aus, die bleiben und in die Leitung berufen werden? Wer wird sich einem derer nähern, die sich geirrt und gesündigt und Chaos angerichtet haben? Gibt es jemanden, der ihnen Gebet und Unterstützung anbietet, sie zum Kaffee und zu einem Gespräch einlädt, der bereit ist, sich ihre Geschichte anzuhören – und sie gleichzeitig zu tieferer Buße und Rechtschaffenheit anspornt?

Viele sind traurig und zu Recht verärgert darüber, dass die ersten Ankläger von Hybels entweder ignoriert oder verleumdet wurden. Das ist wirklich furchtbar. Aber es würde alles nur noch schlimmer machen, wenn diejenigen, von denen man annimmt, dass sie schändlich gehandelt haben, im Gegenzug gemieden würden.

Mehr als jeder andere brauchen natürlich die Anklägerinnen von Hybels – jene Frauen, die offenbar schikaniert oder sexuell belästigt wurden – Menschen, die sich um sie versammeln. Das versteht sich fast von selbst. Aber das Evangelium ruft einige von uns auf, sich ebenso um die Angeklagten und Schuldigen zu versammeln. Loyalität und Liebe sehen in jeder Situation anders aus, aber am Ende sollte es eine Kombination aus Ehrlichkeit und Gnade, fester Liebe und einfühlender Barmherzigkeit sein, die den Einzelnen und alle gemeinsam in eine tiefere Beziehung zu Gott führt.

Kurz gesagt, unsere Liebe und Loyalität muss die gesamte Breite von der Unschuld bis zum Fehlverhalten, von der Weisheit bis zum Vergehen umfassen, wenn wir zu einer Wiedergutmachung gelangen wollen, die wirklich heilsam ist.

In diesem schmerzlichen Moment hat Willow eine Gelegenheit von Gott geschenkt bekommen – die Chance, wiedergeboren zu werden. Willow tritt in eine Zeit der Selbstreflexion und Buße ein, die mit einer unabhängigen Untersuchung beginnt. Wenn die Willow-Gemeinde zulässt, dass dies für sie zu einer Reifezeit wird, nicht nur zu etwas, das man hastig hinter sich lässt, wird sie sehen, wie das langsame und stetige Wachstum der Gnade tiefe Wurzeln schlägt. Unser Gebet soll einfach die Verheißung des Herrn an Amos sein (9,14-15, Zürcher Bibel), als er ankündigte, sein Volk aus dem Exil zurückzubringen:

  Sie werden verwüstete Städte aufbauen und darin wohnen
und Weinberge pflanzen und ihren Wein trinken
und Gärten anlegen und ihre Früchte essen.
Und ich pflanze sie ein in ihren Boden,
und nie wieder werden sie ausgerissen
aus ihrem Boden, den ich ihnen gegeben habe!

Mark Galli ist Chefredakteur der Zeitschrift ›Christianity Today‹. Übersetzung: Oliver Roman.