Können Christen und Gemeinden wieder das „Momentum“ gewinnen?

„Endlich wieder!“: Willow Creek-Leitungskongress mit 4.650 Teilnehmern gestartet

Um 9:14 Uhr strömen tausende Menschen mit dem Ruf „Tür auf“ in die Halle 1 der Messe Leipzig. „Endlich wieder Leitungskongress!“ war in den vergangenen Monaten oft zu hören, nach dem wegen Corona abgebrochenen Willow-Creek-Leitungskongress 2020 (LK20) in Karlsruhe und dem jetzt – immer noch wegen der Pandemie – vom Februar in den August verschobenen LK22. Wegen der Urlaubszeit und vieler Unsicherheiten wie Ukrainekrieg oder Klima- und Energiefragen sind mit 3.670 Teilnehmenden in Leipzig und 980 in den acht Live-Übertragungsorten deutlich weniger haupt- und ehrenamtliche Christen angemeldet als bei den vorangegangenen Kongressen.

Ein Schauspiel mit dem Leitsatz „Kein Mensch ist eine Insel, der allein um sein Dasein kreist; wir sind nicht allein“ setzt das Kongress-Thema „Connected – Verbundenheit“ in Szene, spektakulär veranschaulicht von der Artistin Nina Treiber, die an weißen Bändern über der Bühne schwebt.

Die diesmal deutsch zusammengesetzte Worship-Band um Miriam Schäfer, Katja Zimmermann und Jan Primke setzt den inhaltlichen Fokus: „Du machst alles neu“ und „Du bist Wegebner, Worteinhalter, Wundervollbringer, Licht im Dunkeln.“

Michael Herbst: Gemeinden haben mehr das „Schalke-Momentum“ auf ihrer Seite

Als „Top Act in der Pole-Position” (so Moderator Stefan Pahl) denkt der Theologe Michael Herbst über die nüchterne Gegenwart der Gemeinden nach, und wie sie neu aufbrechen und „Momentum gewinnen“, Aufbruch nach dem Stottern schaffen können. Bei seinem ehrlichen herausfordernd-selbstkritischen Referat konnte man Stecknadeln auf dem Hallenboden fallen hören. Eindringlich formuliert Herbst mögliche Antworten auf die „Million-Dollar-Frage“, wie Gemeinden wieder ein „Momentum“, Oberwasser und Einfluss gewinnen. Er gibt Anregungen zum Nachdenken und Handeln – die sich um die Frage drehen: Wie sind wir „connected“, mit Gott, untereinander und mit den Menschen, die uns lieb sind?

Herbst rät zu einem realistischen, selbstkritischen Blick: Kirche und Gemeinde hätten derzeit eher das „Schalke-Momentum“ (des Bundesliga-Abstiegs 2021) auf ihrer Seite. Zur „neuen Normalität“ in Krisenzeiten von Pandemie, Krieg und Klimakrise gehöre es, dass Menschen nicht zu einer christlichen Kirche gehören und auch nicht christlich glauben. Er habe zwar kein Gemeinde-Aufbauprogramm, das Erfolg garantiere, bekennt der Theologe. Auch bedeute es viel Arbeit, aus der Minderheitensituation als Kirche wieder „das Momentum zu gewinnen“. Er habe aber begründete Hoffnung, dass Christen mit einer überzeugenden inneren Haltung Entscheidendes zurückgewinnen können. Dazu gehört, die Dinge weder „schön zu reden“, noch zu resignieren, Gott persönlich und in den Gemeinden intensiv im Gebet zu suchen und echte Versöhnung mit anderen zu leben. Zentral für ein „Momentum“ der Christen sei es, das Evangelium der Liebe Gottes zu den Menschen stets neu zu „hören, betrachten, meditieren, zu besingen und zu feiern“ und sich nicht in den Gemeinden zu verschanzen: „Wir sind Kirche wegen des Evangeliums. Aber wir haben es nicht für uns allein. Wir haben es, indem wir es weitertragen“ – indem Christen „das Herz von Menschen erreichen“ und bereit sind, ihr „Leben zu teilen“. So könnten Gemeinden „Gestalt gewinnen, wie es für einen Ort passt. Mit Momentum. Ganz sicher.“

Tali Sharot: Die Tricks des eigenen Gehirns nutzen

Wie Menschen in den sich verändernden Lebensumständen zurechtkommen und verstehen, warum sie sich so und nicht anders verhalten, darüber spricht im Anschluss – unterfüttert mit zahlreichen wissenschaftlichen Studien – Tali Sharot, Professorin für Neurowissenschaften. Menschen können sich gut anpassen, sind im Durchschnitt ziemlich optimistisch, unterschätzen aber Risiken, sagt sie. Optimismus verstärkt andererseits die Motivation und hat positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit.

Stress spielt dabei eine wichtige Rolle: Je gestresster jemand ist, desto negativer wird die Einschätzung eigener Erfahrungen ausfallen. Unter Stress wird man aufmerksamer für mögliche Gefahren, konzentriert sich aber auch auf negative Informationen und trifft negative Entscheidungen. Das allgemeine Glücksempfinden ist in Kindheit und Jugend sehr hoch, sinkt bis auf einen Tiefpunkt in den 40er/50er Jahren und steigt dann kontinuierlich bis ins hohe Alter.

„Wie kann man das eigene Wohlbefinden fördern, auch unter Stress?“, fragt Sharot. Sie empfiehlt, Dinge fest zu planen, „auf die wir uns freuen“, etwa Abendessen mit Freunden oder Urlaube. Wer, etwa bei Reisen, eine kleine Auswahl nutzt, vergrößert seine Handlungsmöglichkeiten. Bei der Frage nach individuellen Verbesserungsmöglichkeiten – etwa bei der Häufigkeit des Händewaschens in Kliniken – rät sie, ein Belohnungssystem zu etablieren. Denn auf drohende Bestrafung reagiert das Gehirn mit Untätigkeit und Lähmung. Schließlich empfiehlt Sharot zur Vorsicht vor emotionaler Ansteckung, sich von den Gefühlen anderer nicht zu sehr beeindrucken zu lassen. „Dass wir über die Tricks des Gehirns Bescheid wissen“, schließt sie, „heißt nicht, dass sie verschwinden, aber wir können sie zu unserem Vorteil nutzen.“