Es war im Mai 2013. Mein 70. Geburtstag nahte und nach vielen aktiven Jahren in der Leitung der Willow Creek Asso­ciation (WCA) dachte ich, dass es nun an der Zeit wäre, meinen Platz für andere zu räumen. Gut 17 Jahre hatte ich den internationalen Bereich der WCA geleitet und war Gott sehr dankbar, dass er mir diese Aufgabe anvertraut hatte. Meine Frau steckte mitten in der Planung eines großen Festes: Mein Geburtstag und mein Eintritt in den Ruhestand sollten gebührend gefeiert werden. Da ich ursprünglich aus Bayern komme, sollte es ein bayrisches Fest werden: die gesamte Familie in Dirndl oder Lederhosen. Ich freute mich schon sehr darauf. Und dann sprach Bill Hybels mich erneut an. Schon im Januar hatte er mich gefragt, ob ich bereit wäre, die Führung der WCA zu übernehmen. Ich hatte ihm mit einem klaren Nein geantwortet. Meine Pläne waren ja ganz andere! Er meinte: Bete mal darüber! Ich aber wollte nicht und habe auch nicht darüber gebetet. Er fragte mich jede Woche, ob ich es mir überlegt hätte. Meine Antwort war immer wieder: Nein.

Kurz darauf war ich auf dem Weg nach Brasilien. Im Flugzeug las ich Andy Stanleys phantastisches Buch „Deep and Wide“. Ein Abschnitt berührte mich besonders. Andy fragte: „Sind wir ecclesia – eine Gemeinschaft von Menschen mit einem gemeinsamen Ziel – oder haben wir uns damit abgefunden, einfach nur Kirche zu sein.“ Im Nachdenken darüber kam mir ein Satz von Bill Hybels in den Sinn, den er vor vielen Jahre formuliert hatte: „Die Ortsgemeinde ist die Hoffnung der Welt – wenn sie richtig funktioniert.“ Oft wird nur der erste Teil verwendet, aber so entspricht der Satz nicht der Wahrheit. Viele Gemeinden überall auf der Welt sind weit davon entfernt, die Hoffnung der Welt zu sein. Ich bin in so einer Kirche aufgewachsen und habe mich bei der ersten Gelegenheit aus dem Staub gemacht. Solche Kirchen können nicht einmal genug Hoffnung für die eigenen Gemeindeglieder wecken, die jeden Sonntag dort zum Gottesdienst kommen, geschweige denn Hoffnung für die Welt sein!

Während ich über die Worte von Andy und Bill nachdachte, tauchte vor meinem inneren Auge auf einmal eine Flut von Bildern auf: Dutzende Gemeinden und Menschen auf der ganzen Welt, die ich persönlich kennengelernt habe und die wahrhaftig die Hoffnung der Welt sind – weil sie einen spürbaren Einfluss auf ihr Umfeld und die Welt haben. In diesem Moment war ich überwältigt von der Schönheit einer Kirche vor Ort, die so ist, wie sie in Gottes Augen sein soll! Ich begann Gott zu bitten, dass er leitungsbegabte Christen auf der ganzen Welt bewegen möge, solche Gemeinden zu bauen. Dabei hörte ich eine klare Stimme, die mir sagte: „Ich will, dass du diese Stelle annimmst.“ Noch kurz vorher war ich wirklich nicht daran interessiert, weiterhin eine Leitungsaufgabe zu übernehmen. Doch jetzt war ich der festen Überzeugung, dass genau das Gottes Wille für mich war!

Wenn Kirche Kirche ist

Ein Beispiel für eine Kirche, die richtig funktioniert, habe ich in Kalkutta kennengelernt. 2012 suchten wir nach einem Veranstaltungsort für den Global Leadership Summit (GLS) in Indien. Dabei lernte ich die Assembly of God und ihren Pastor Ivan Satyavrata kennen. Auf meine Anfrage reagierte er mit großem Enthusiasmus, denn die Aus- und Weiter­bildung von geistlichen Leitern sah er als eines der größten Bedürfnisse seines Landes an. Ich war zutiefst dankbar für seine Unterstützung und bewunderte seine Weitsicht. Was mich aber besonders beeindruckte war, ein solches Vorbild einer gut funktionierenden Kirche an einem Ort wie Kalkutta zu finden. Stellen Sie sich vor, Sie leben in einer Stadt, in deren Einzugsgebiet 20 Millionen Menschen leben, von denen weniger als 1 % Christen sind. Stellen Sie sich weiter vor, dass Sie Ihren Dienst als eine von nur 250 Kirchen in einem so herausfordernden Umfeld tun! Aber jetzt kommt’s: Die Kirche von Pastor Satyavrata unterhält nicht nur ihr eigenes Gebäude, sondern betreibt in direkter Nachbarschaft auch ein Krankenhaus mit 350 Betten; und eine Schule, in der 3.500 Kindern eine großartige Schulbildung erhalten. Und was mich am meisten beeindruckte: Jeden Tag werden hier 10.000 Kinder mit Essen versorgt. Und das in einer armen Stadt wie Kalkutta! Was wäre die Stadt ohne eine Kirche, die so funktioniert, wie Gott es sich vorgestellt hat?

Es gibt viele Gemeinden in der ganzen Welt, die auf einem ähnlichen Niveau arbeiten. Solche Kirchen kennenzulernen, stärkt meine Liebe zu Gott und den Menschen. Ich will alles in meiner Macht Stehende tun, sie dabei zu unter­stützen, dass sie ihre großartige Arbeit noch besser tun können. Diese Gemeinden werden von leidenschaftlichen Menschen geleitet, die unter Gottes Führung solche ­Dinge auf die Beine stellen. Wenn ich Kirchen oder christliche Organisationen sehe, denen diese Leidenschaft fehlt, frustriert mich das; ja, es macht mich geradezu wütend.

Wir alle wissen, dass Leidenschaft wichtig ist. Sie spielt eine große Rolle: in unseren Beziehungen genauso wie in Organisationen und Gemeinden. Bill Hybels erinnert uns oft daran, dass jeder von uns die Aufgabe hat, den Schwerpunkt in seinem Leben zu entdecken, für den er oder sie Leidenschaft empfindet – die eigene Berufung. Und diesem Schwerpunkt sollen wir uns von ganzem Herzen widmen, so dass unsere Leidenschaft für diesen gottgegebenen Lebensschwerpunkt wie ein brennendes Feuer erhalten bleibt. Ohne Leidenschaft ist unser Leben leer und lang­weilig. Man kann leicht in einen Trott verfallen. Das trifft auch auf unser Engagement in der Gemeinde zu. Das, was einmal wertvoll und aufregend war, wird allmählich zur Routine, grauer Alltag. Das haben wir alle schon einmal erlebt. Doch für diese Hoffnung der Welt – für eine Gemeinde, die gut funktioniert - lohnt es sich, mit ganzer Kraft zu arbeiten. Das ist einer der Gründe, weshalb ich im letzten Sommer die Aufgabe als Präsident der Willow Creek Association angenommen habe.

In diesem Moment war ich überwältigt, von der Schönheit einer Kirche vor Ort, die so ist, wie sie in Gottes Augen sein soll!

Leitung – das A und O

Ein anderer Grund hat mit Leitung zu tun. Sie wird häufig unterschätzt. Besonders in der Gemeinde. Dabei ist sie äußerst wichtig. Davon war ich immer überzeugt. Aber erst in den letzten Jahren habe ich ihre volle Bedeutung verstanden und diese Überzeugung zum Leitmotiv aller meiner Handlungen gemacht. Es ist die primäre Aufgabe der WCA, die Gabe der Leitung in den Gemeinden zu stärken. Denn diese Gabe macht es möglich, dass alle anderen Gaben zur vollen Entfaltung kommen. Oder, wie Bill Hybels es ausdrückt: „Wenn ein Leitender besser wird, profitieren alle davon.“ Ich stimme diesem Satz voll und ganz zu. Wenn die Leitung großartig ist, können alle anderen Gaben in einer Gemeinde oder Organisation ihr volles Potential erreichen. Gary Haugen, Direktor der International Justice Mission (IJM), sagte einmal: „Wenn du willst, dass dein Leiten etwas zählt, leite in den Dingen, die vor Gott etwas zählen.“ Das ist für mich zum Prüfstein all meines Handeln geworden.

Als ich 33 Jahre alt war, arbeitete ich für eine große internationale Firma in Singapur, die mir die Gebietsleitung in einer Region anvertraute, in der mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung lebte. Sie erstreckte sich von Neuseeland und Australien bis nach Indien und China. Niemand hatte mich auf diese Aufgabe vorbereitet und ich wusste nicht wirklich, was ein Leiter eigentlich tun soll. Unter dieser Unsicherheit mussten die Menschen leiden, die unter meiner Leitung standen. Noch heute denke ich mit Schaudern an die Dinge, die ich ihnen damals zugemutet habe. Wenn ich manchmal meine früheren Kollegen treffe und wir über die alten Zeiten sprechen, möchte ich am liebsten im Boden versinken und sagen: „Es tut mir so leid. Ich wusste es einfach nicht besser!“

Aber nicht nur Fehler in der Mitarbeiterführung sind kostspielig. Auch fachliche Fehler können eine Gemeinde oder Organisation teuer zu stehen kommen. Ich erinnere mich an einen Fehler, den ich damals in Singapur beging. Wir arbeiteten an einem großen Vertrag mit China. Und in dem Prozess unterlief mir ein Fehler, der das Unternehmen 10 Millionen Dollar kostete. Damals bestellte mich der Chef meines Chefs zum Rapport ein. Am Ende des Gesprächs sagte er: „Das machen Sie bitte nicht noch einmal!“ Das war alles. Er gab mir eine neue Chance. Er glaubte an mich. 

Es ist entscheidend, dass die Leitenden in Gemeinden den Heranwachsenden mit Leitungspotenzial gezielt geistliche Leitungsprinzipien vermitteln. Sie müssen spüren, dass man an sie glaubt; dass sie auch Fehler machen dürfen und ermutigt werden, mutig zu leiten.

Wenn ich Kirchen oder christliche Organisationen sehe, denen Leidenschaft fehlt, frustriert mich das. Ja, es macht mich geradezu wütend.

Die Aufgabe: Kirchen helfen aufzublühen

Vor kurzem besuchte ich Da Nang in Vietnam. Die Stadt war im Vietnamkrieg ein wichtiger Luftwaffenstützpunkt der amerikanischen Truppen und musste in dieser Zeit viele Gefechte ertragen. Ich traf mich dort mit Vertretern einer Organisation, die von US-amerikanischen Christen geleitet wird. Sie unterhalten eine Reihe von Kinderheimen und Häusern für alleinstehende schwangere Frauen, stellen die gesundheitliche Versorgung für Kinder mit schweren Herzkrankheiten bereit und statten gelähmte und alte Men-schen mit Rollstühlen aus. Ihre Arbeit bewegte mich tief.

Am nächsten Tag sah ich aus meinem Hotelfenster über die Stadt, die sich weit vor mir erstreckte. Dabei betete ich und dachte über das am Tag zuvor Gesehene nach. Ein altes deutsches Kirchenlied kam mir in den Sinn und berührte mich stark. Ich suchte es auf Youtube und hörte es immer und immer wieder, fast zwei Stunden lang, während ich meditierte und für die Menschen in Da Nang betete. Ich dachte an all das Leid, die Schmerzen, die diese Stadt in ihrer Geschichte ertragen musste. Und ich bat Gott, uns als WCA einen Weg zu zeigen, wie wir die Kirchen in Vietnam dabei unterstützen können, die Liebe Gottes mit den Menschen in ihrem Land zu teilen.

Genau darum geht es in unserer Arbeit: Wir wollen Kirchen auf der ganzen Welt dabei helfen aufzublühen, in Wort und Tat Gottes Liebe an die Menschen in ihrem Umfeld weiterzugeben. Dass die Menschen, die mit ihr in Kontakt kommen, positiv verändert werden.

Das ist meine Leidenschaft und meine Berufung. Und das ist es auch wert, meinen Ruhestand zu verschieben. Nach der Rückkehr aus Brasilien musste ich meiner Frau mitteilen, dass aus meiner Ruhestandsfeier vorerst nichts werden würde. Zumindest konnten wir den Einstand in meine neue Aufgabe und meinen 70. Geburtstag gebührend feiern. Die bayrischen Trachten kamen auch dabei gut zur Geltung.

Craig Groeschel, Pastor der Lifechurch hat vor kurzem gesagt: „Wenn du noch nicht tot bist, bist du noch nicht fertig, dann hast du noch was zu erledigen.“ Das gilt für mich und für uns alle.