Die Krisen der letzten Jahre, seien sie global oder persönlich, haben in vielen von uns Wunden hinterlassen. Und manchmal reagieren wir darauf mit Bewältigungsstrategien, die uns gefangen halten. Beim LK24 erzählte Jörg Ahlbrecht davon, wie er das selbst erlebt hat und warum es dennoch allen Grund für Zuversicht gibt.

Was vor vier Jahren für viele von uns mit dem unvorhersehbaren Verlauf einer weltweiten Pandemie begann, ist heute eine Überlagerung unterschiedlichster Krisen, Abbrüche und Bedrohungen geworden. Viele von uns haben in dieser Zeit viel zu verarbeiten gehabt, haben enorme Veränderungen hinnehmen müssen und auch eine Menge Wunden davongetragen. 

Jeder wird verwundet

Vermutlich kommt niemand durch das Leben, ohne verwundet zu werden, was in besonderem Maße für Menschen gilt, die Verantwortung tragen, Leiterinnen und Leiter haben oft gute Motive und hohe Ambitionen. Und wenn dann lang gehegte Träume platzen, wenn unsere guten Pläne scheitern, wenn das Leben plötzlich völlig anders verläuft, als wir dachten, dann stecken wir Wunden ein. 

Manchmal werden wir belogen, betrogen, getäuscht, im Stich gelassen – von Menschen, die wir gefördert haben, denen wir vertrauten. Und es waren Freunde, Verwandte, es waren Menschen in unserer Gemeinde, die uns verwundet haben. Je näher sie uns sind, desto größer der Schaden, den sie anrichten können.

Manchmal fühlen wir uns sogar verwundet durch Gott. Durch sein Schweigen. Dadurch, dass er nichts tut. Wir haben so gebetet, uns so angestrengt und er hat doch nicht gehört. Wir haben jahrelang alles gegeben, viel Arbeit und Herzblut investiert und dann ist die Gemeinde doch gecrashed. Da sind wir mitten im Lauf für das Reich Gottes und werden plötzlich von einer Diagnose gestoppt, die alles verändert.

Verwundet von Gott – warum tust du nichts, warum antwortest du nicht, warum hilfst du nicht, warum geht diese Welt immer mehr den Bach runter, warum siegen die Kriegstreiber und nicht die Friedensstifter – warum, warum? Und das Schweigen Gottes reißt eine Wunde in unser Herz!

Aber manchmal sind wir es auch selbst. Wir bestrafen uns für unser Versagen. Reden uns ein, dass wir es nicht besser verdient haben. Klagen uns an für unsere Schwäche, unseren Mangel an Konsequenz, unser Scheitern. Wir werden verwundet von unserer Scham dafür, nicht besser zu sein. Klüger, schlanker, erfolgreicher, glücklicher.

Jeder wird verwundet. Und jeder von uns steht vor der Frage: Wie gehe ich damit um? Meistens entscheiden wir uns unbewusst für eine von zwei Richtungen, die ich hier die „Linus-Strategie“ und

„Jesus kam, um auch dein zerbrochenes Herz zu verbinden."

1. Die Linus-Strategie 

Linus aus der Comicserie „Peanuts“ ist der kleine Freund von Charlie Brown und er hat ein bestechendes Lebensprinzip! Es lautet:„Kein Problem ist so groß oder kompliziert, dass man nicht vor ihm davonlaufen könnte!“ Du bist verwundet? Dann lauf weg!

Gerade als Leiterinnen und Leiter haben wir einfach keine Zeit für Wunden. Wir haben keine Zeit, dem Schmerz nachzugehen – wir müssen weiter. Wir packen den Schmerz weg, verdrängen ihn, halten uns beschäftigt, lenken uns ab. Vielleicht geht er ja von allein weg.

Als wir zum zweiten Mal durch eine Fehlgeburt ein Kind verloren haben, war der Schmerz in mir so groß, dass ich meinte, das nicht aushalten zu können. Und es schien, als wäre in meiner Seele eine Tür ins Schloss gefallen. Ich hatte keinen Zugang mehr zu diesem Bereich, ich war wie innerlich taub. 

Ich habe weiter funktioniert, aber ich konnte nicht mal trauern. Alles war nur noch grau. Ich habe mich in die Arbeit gestürzt. Und versucht, so zu leben, als wäre die Wunde nicht da. So zu leben, ist ziemlich anstrengend – und es macht sehr müde. Aber innehalten und ausruhen ist keine Option, denn dann kommt ja all das hoch. 

Linus flieht also vor der Wunde. Ganz anders der Joker.

2. Die Joker-Strategie

Der Joker ist einer der bösen Gegenspieler in den Batman-Filmen. Er erlebt in einer ersten Auseinandersetzung mit Batman eine schreckliche Verwundung. Durch eine Verätzung wird sein Gesicht zu einer fürchterlichen Maske.

Anders als Linus stellt der Joker seine Wunde ins Zentrum seines Lebens. Sie wird sein zentrales Thema – und bestimmt so mehr und mehr seine Identität.

Und das tun Menschen heute manchmal auch, selbst, wenn ihnen das gar nicht bewusst ist. Sie drehen sich gedanklich nur noch um das, was ihnen angetan wurde.

 

„Meine Eltern haben mein Leben versaut. Ich durfte nicht das werden, was ich wollte.“

„Was die Gemeinde mir damals angetan hat, das kann ich nicht verwinden.“

„Ich war immer die zweite Geige, das wird auch immer so bleiben!“

 

Alle diese Dinge scheinen selbst durch jahrelange Therapie nichts von ihrer Macht zu verlieren – weil die Wunde längst zu einem Teil der eigenen Identität geworden ist. Sie beginnen, sich über ihre Wunde zu definieren.

„Was ist deine Wunde, die so mächtig wurde, dass sie dir sagt, wer du bist?"

Die Jesus-Strategie

Was wäre, wenn du jemanden hättest, der sich um deine Wunden kümmert, der sie verbindet, vielleicht sogar über die Jahre heilt? Als Jesus vor 2000 Jahren in die Öffentlichkeit trat, hat er in seiner Antrittspredigt gesagt, was er tun wird. Er zitierte den Propheten Jesaja, Kapitel 61 – und bezog diese Worte auf sich und auf sein Handeln.

„Der Geist Gottes des HERRN ist auf mir, weil der HERR mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen.“ Die zerbrochenen Herzen zu verbinden, also mit anderen Worten: Sich um unsere tiefsten inneren Wunden zu kümmern, sie vielleicht sogar zu heilen, dafür ist Jesus gekommen.

Manchmal sind Leiterinnen und Leiter so damit beschäftigt, sich um andere Menschen zu kümmern, dass ihre eigene Seele dabei auf der Strecke bleibt. Aber Jesus kam, um auch dein zerbrochenes Herz zu verbinden.
Er will sich auch um deine Wunde kümmern! Und sein Leben war voller Beispiele, wie er das tat. Da waren Menschen, die vom Leben verwundet waren, sie waren blind geboren, oder lahm, oder hatten andere Handicaps Und sie wurden heil. Er hat Menschen geheilt, die von Menschen verwundet wurden, die Ausgestoßenen – Leute mit Lepra. Die Besessenen – die draußen in den Gräbern hausen mussten, die Alleingelassenen. Jesus heilte die, die sich von Gott verlassen fühlten.

Das Ende der Verzweiflung

Markus erzählt in seinem Bericht über das Leben Jesu (Markus 5, 25-34) von einer Frau, die zwölf Jahre lang an starken Blutungen litt. Zwölf Jahre Blutungen. Und kein Arzt konnte ihr helfen. Sich mit diesem intimen Leiden immer wieder Fremden zu offenbaren. So viele Ärzte. So viel Scham. So viele Behandlungen. Aber alles ohne Erfolg, jede Hoffnung enttäuscht. Es wurde nicht besser, sondern schlimmer. Dazu ihre Isolation als „Unreine“. Kein Wunder, dass diese Frau verzweifelt war. Aber dann: Eine letzte, vielleicht vage Hoffnung. Sie hört von Jesus, dem, der gekommen ist, um Verwundete zu heilen. Und sie schleicht sich heimlich in seine Nähe. Sie drängelt sich durch die Menge.

Und tut das Verbotene – sie darf eigentlich nicht unter Menschen, darf andere nicht berühren, und den Rabbi berühren, darf sie schon gar nicht. Aber sie tut es. Sie kommt mit ihrer Wunde zu Jesus – und berührt sein Gewand! Und sie wird heil.

Was ist deine Wunde, die so lange schon einfach nicht aufhört zu bluten? Was ist dein weggedrückter Schmerz? Was ist deine Wunde, die so mächtig wurde, dass sie dir sagt, wer du bist? Kannst du dir vorstellen, dass Jesus dein zerbrochenes Herz verbinden, deine Wunde berühren und heilen will? Vielleicht heute? Vielleicht nächste Woche? Vielleicht wird es noch eine Zeit dauern, bis es heilt. Vielleicht führt er dich dazu in einen längeren Prozess der Seelsorge, vielleicht begleitet er dich in eine notwendige Therapie. Aber kannst du dir vorstellen, dass Jesus auch dein Herz verbinden – deine blutende Wunde wirklich heilen will und heilen kann?

Dem Schmerz auf die Spur gekommen

Vor 20 Jahren war für mich der Abschied aus der Ortsgemeinde, in der ich elf Jahre lang mit viel Herzblut gearbeitet hatte, äußerst schmerzhaft. Es sind Dinge passiert, die mich tief verletzt haben. Drei Jahre lang habe ich diesen Schmerz mit einem sehr beschäftigten Leben weggedrückt. Ich hatte eine faszinierende neue Aufgabe, das Leben hatte ein hohes Tempo – aber die Wunde war da. In diesen drei Jahren passierte es mir regelmäßig, dass ich in intensiveren Worship-Zeiten immer wieder plötzlich in Tränen ausbrach. Und das, obwohl ich mir nicht bewusst war, traurig zu sein. Es passierte immer wieder und machte mich im Laufe der Zeit unsicher.

Es dauerte drei Jahre, bis ich während einer Einkehrzeit im Kloster diesem Schmerz auf die Spur kam – und feststellte: Ich habe in dieser Gemeindearbeit Wunden einstecken müssen, die ich einfach weggepackt hatte. Nur um das klar zu sagen: Es gab in dieser Gemeinde wundervolle Menschen und wir haben tolle Dinge miteinander erlebt.

Aber es war meine erste Stelle und es war eine Reihe von Dingen passiert, die auch tiefe Wunden gerissen hatten. Erst im Kloster, im Schweigen, erkannte ich: Jesus wollte, dass ich sie ihm hinhalte. Und das habe ich getan: Mein Herz ihm nochmal hingehalten. Von diesem Tag an hörte das Weinen auf. Etwas in mir hat diesen Abschied und die Wunden losgelassen.

Der verwundete Heiler

Kann Jesus auch deine Wunde heilen? Ja, er kann. Es wird vielleicht etwas dauern, vielleicht brauchst du Hilfe von anderen, aber er kann! Weil er genau versteht, was es bedeutet, verwundet zu sein. Er kennt unsere Wunden, weil er selbst verwundet wurde.

Er ist der verwundete Heiler! Verwundet durch das Leben – Kaum auf der Welt, schon muss er mit seiner Familie fliehen. 

Verwundet von Menschen – Seine Mutter und seine Brüder haben ihn nicht verstanden, hielten ihn für verrückt. Nach seiner ersten Predigt in seinem Heimatort Kapernaum wollte man ihn umbringen. Das war definitiv kein guter Start ins Predigerleben! Sein bester Freund Petrus hat behauptet, ihn überhaupt nicht zu kennen. Einer seiner engsten Mitarbeiter hat ihn für Geld verraten. Und alle anderen Freunde haben sich vom Acker gemacht. 

Verwundet von Gott – Und als er am Kreuz hängt und dem Tode nahe ist, kommt dieses verzweifelte und für manche von uns so vertraute: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Verwundet durch Gott selbst! 

Wenn du dich von Gott verwundet fühlst, hilft es dir vielleicht, dass Jesus selbst diesen Schmerz geteilt hat. Und dass bei allem, was wir nicht verstehen, dennoch ein unfassbar guter Gott zu uns steht, der es zu einem guten Ende führen wird. Der uns hilft, den Schmerz zu tragen,

und dessen Gut-Sein den Verwundungen etwas entgegenstellt.

Die blutende Frau erlebt das Wunder: In dem Moment, als sie das Kleid Jesu berührt, stoppt der Blutfluss.

Also, was tun?

„Wunden heilen langsam."

Neue Wege, neue Freiheit

Für die „Linus-Strategen“ lautet die Frage: Bin ich lange genug in der Nähe Jesu, damit er mich wirklich berühren kann?

Denn Wunden heilen langsam. Sie brauchen Zeit. Vielleicht musst du deinen eng getakteten Terminkalender etwas reduzieren, um regelmäßig mit deinen Wunden in die Nähe Jesu zu gehen, um sie ihm hinzuhalten. Vielleicht musst du dein Lebenstempo zurückfahren. Damit die Ursache für dein hohes Tempo geheilt werden kann. Die Hetze ist unser größter Feind, wenn wir Jesus an unsere Wunden lassen wollen. Aber wir wurden dafür geschaffen, bei Jesus zu sein. Für die „Joker-Strategen“ lautet die Frage: Will ich meine Wunden wirklich loslassen? Das fühlt sich vermutlich ein wenig wie Sterben an, und das ist es auch. Aber es ist das Sterben eines falschen Selbst. Was die Wunde dir über dich erzählt, ist eine Lüge, denn du bist viel mehr. Du bist Gottes Meisterwerk, geschaffen, um Gutes zu tun in der Welt. Gutes, das Gott schon vorbereitet hat. Was würde passieren, wenn du Jesus deine Wunde neu oder erneut hinhalten würdest? Wer einmal erlebt hat, dass er sich um unsere tiefsten Wunden kümmert, wer einmal erlebt hat, dass Gottes Berührung etwas in uns heilen, zur Ruhe bringen kann, der wird selbst zum verwundeten Heiler. Der baut in sich eine Stärke auf, die es erlaubt, sich nun den Wunden anderer zuzuwenden.

Vielleicht hilft es dir, in den kommenden Wochen mit einem Stück Stoff in der Hand zu beten. Sinnbildlich sein Gewand zu berühren, wenn du ihm von deinen Wunden erzählst. Jesus ist gekommen, um als verwundeter Heiler unsere Herzen zu verbinden.

Wenn wir das erleben, werden wir ihm mit einer völlig neuen Leidenschaft folgen. Und wir können – so wie er – für andere verwundete Menschen zur Hilfe werden.