LK26-Referentin Julia Garschagen ist Brückenbauerin zwischen Denken und Glauben. Im persönlichen Gespräch und bei einem Gemeindeabend ist das Porträt einer Frau entstanden, die leidenschaftlich glaubt, tief denkt und empathisch begegnet.

„Stellt euch vor: Ihr seid in einer WG, in einem Restaurant oder in der Bahn mit Freunden oder Bekannten. Und dann schauen die euch an und sagen: ‚Du bist doch Christin, du bist doch Christ. Es gibt da eine Frage, die ich schon immer einem Christen stellen wollte …‘ Was ist die eine Frage, bei der ihr betet und zittert, dass ihr sie bitte auf keinen Fall gestellt bekommt?“ 

Julia Garschagen, die Referentin des Abends, blickt erwartungsvoll in die Runde und zückt den Filzstift. Nach einer kurzen Denkpause traut sich die erste Person und stellt die Frage nach dem Leid – ein „Klassiker“: „Wie kann ein guter und liebender Gott Leid zulassen, insbesondere wenn es so unschuldige Wesen wir Kinder trifft?“ Julia wirkt nicht erstaunt, sondern wiederholt die Frage laut und deutlich, damit sie auch die Teilnehmer der Veranstaltung verstehen können, die in der anderen Ecke des großen Saals im Jugendhaus der FeG Wetzlar sitzen. Ein Flipchart steht bereit und innerhalb weniger Minuten notiert Julia eine ganze Reihe von spannenden und herausfordernden Fragen, die ihr aus dem Publikum zugeworfen werden. Fragen nach der Beziehung von Wissenschaft und Glaube, den vielen Verletzungen, die Menschen innerhalb von Kirche machen, oder auch nach der Glaubwürdigkeit der Bibel, die Christen als Gottes Wort betrachten. Während sie den Fragenden aufmerksam zuhört, nickt Julia oft verständnisvoll und fasst die Fragen anschließend in eigenen Worten zusammen, um sicherzugehen, dass sie deren Inhalt richtig verstanden hat.

„Wir sind nicht Gottes Anwälte“

Nur wenige Minuten zuvor hat Julia davon berichtet, dass sie von klein auf so erzogen wurde, dass es gut ist, Fragen zu haben und diese zu stellen. Sie wächst in Wissen an der Sieg auf, wo sie als Jugendliche in die Jungschar einer Gemeinde geht und von Jesus hört. Sie ist fasziniert von ihm und den Geschichten, die seine Freunde mit ihm erlebt haben. Auch seine Jünger wurden immer wieder mit Fragen konfrontiert, auf die sie zunächst keine Antworten kannten – und das war gar nicht schlimm, findet sie: „Wir sind berufen, Zeuginnen und Zeugen zu sein. Das bedeutet: Wir sind nicht Gottes Anwälte. Eine Zeugin, ein Zeuge sagt das, was er weiß, was er erlebt hat, worüber er Bescheid weiß. Und bei allem anderen kann er sagen: ‚Ich weiß es nicht!‘ Oder: ‚Ich weiß es noch nicht.‘ Und das ist völlig okay. Es ist Gottes Mission, und wir sind eingeladen, dabei zu sein, wenn er Herzen zu sich zieht – durch Argumente und durch Erlebnisse.“

Argumente und Erlebnisse, Herz und Verstand, Glauben und Denken – das sind für Julia alles andere als Widersprüche. Als Leiterin des Pontes Instituts für Wissenschaft, Kultur und Glaube in Köln liegt es ihr auf dem Herzen, Brücken zu bauen zwischen dem Denken und dem Glauben. Sie formuliert es so: „Ich wollte mein Gehirn nicht an der Garderobe abgeben, um das zu glauben, was die mir in der Kirche erzählt haben.“ Julia will den Dingen ernsthaft auf den Grund gehen, was sie bereits bei ihrem Theologiestudium in Wuppertal und London beweist. Einige Jahre ist sie auch als Regionalreferentin der SMD unterwegs, einem Netzwerk von Christen in Schule, Hochschule und Beruf, und begegnet auch dort jungen Menschen, die sich herausfordernden Lebens- und Glaubensfragen stellen wollen. 

Die Frage hinter der Frage finden

Authentisch zu glauben und gleichzeitig seinen Verstand zu benutzen, ist für die Theologin also kein „Mittel zum Zweck“, um Menschen vom Glauben zu überzeugen, die intellektueller gestrickt sind als andere, sondern gehört für sie untrennbar zusammen: „Glauben ohne Denken wird schnell naiv – oder birgt jedenfalls diese Gefahr in sich. Und Glauben ohne Alltag, ohne das Emotionale, wird schnell irrelevant und hat wenig persönlich mit mir zu tun. Der christliche Glaube aber hat ja den Anspruch und die Verheißung: Es wird persönlich! ‚Du bist ein Gott, der mich sieht!‘ Du bist der, der also auch in meinem Alltag präsent ist. Ich glaube, diese beiden Dinge zusammenzufassen, ist genau das, was Jesus gemacht hat.“ 

Wenn Julia also von Hochschulen, Gemeinden oder im Wirtschaftskontext eingeladen wird, über kritische Fragen an den christlichen Glauben zu sprechen, ist ihr Anliegen nicht, schnelle und leichte Antworten zu finden. Im Gegenteil: „Es geht nicht darum, Diskussionen zu gewinnen, sondern Herzen.“ Wenn Menschen kritische Fragen stellen, lohnt es sich vielmehr, genauer hinzuhören und selbst demütig die Rolle eines Fragenden einzunehmen: „Was ist die Frage hinter der Frage meines Gegenübers?“, gibt Julia zu bedenken. Beschäftigt sich die Person mit der Frage nach dem Leid zum Beispiel auf einer intellektuellen Ebene, weil sie ein Fable für philosophische Gedankengänge besitzt, oder geht die fragende Person gerade durch ein tiefes Tal, geprägt von persönlichem schwerem Leid? Was braucht die fragende Person gerade? Eine intellektuell zufriedenstellende Antwort oder vielleicht eher ein ehrliches und empathisches Gegenüber, das einfach mal nur zuhört und Wertschätzung für die Frage ausdrückt? 

„Dios te ve – Gott sieht dich!“

Diese Wertschätzung, die jeder Mensch erfahren sollte, ist für die sympathische 41-Jährige zutiefst biblisch begründet. Sie kommt auch in dem bekannten Vers aus dem Alten Testament zum Ausdruck, in dem eine verzweifelte schwangere Frau namens Hagar mitten in der Wüste einem Engel begegnet und anschließend über Gott sagt: „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (1. Mose 16,13). Dieser Vers wurde für Julia zentral, als sie nach dem Abitur ein FSJ in Peru machte und dort mit Familien zusammenlebte, die große Armut kennen. „Das hat einen sehr, sehr tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Und was ich gesehen habe, war, dass ganz viele Organisationen mit Kindern arbeiten – was super und total wichtig ist. Aber sobald sie die Schule beendet hatten (sofern es überhaupt dazu kam), war diese Arbeit wieder vorbei.“ Und das bedauerte Julia sehr. 

Einige Jahre später ging sie erneut nach Peru, traf dort eine befreundete Sozialarbeiterin und erfuhr vom Schicksal einer jungen Frau: einer alleinerziehenden Mutter, die Geld für ihr Studium gespart hatte, und dieses nun zur Pflege ihres kranken Kindes einsetzen musste. An diesem Tag las Julia den oben genannten Vers aus 1. Mose und ermutigte die Frau, dass sie sich um finanzielle Unterstützung aus Deutschland bemühen wollte, damit sie ihren Traum zu studieren nicht aufgeben musste. Am nächsten Tag sagte die junge Frau zu ihr: „Ich habe die ganze Nacht wach gelegen, weil ich mich gefragt habe: Wer würde mich sehen und unterstützen?“ 

„Dios te ve“ – spanisch für „Gott sieht dich“ – lautete Julias Antwort auf diese Frage und ist mittlerweile der Name der Hilfsorganisation, die sie gemeinsam mit anderen gegründet hat. Der Verein unterstützt etwa 16 junge Menschen in Peru, damit sie eine Berufsausbildung machen können und damit Hoffnung auf eine gute Zukunft haben. Julias Augen leuchten, wenn sie an all die jungen Leute denkt, denen durch den Verein bereits geholfen werden konnte: „Das ist so inspirierend, wenn die anderen in der Familie, in der Community sehen: Wenn eine es geschafft hat, vielleicht kann ich es auch schaffen!“

Berufen, das Evangelium zu verkünden

Menschen ehrlich und authentisch zu begegnen, die Glaubensfragen haben, und junge Menschen zu unterstützen, um sie auf ihrem Lebensweg positiv zu prägen – dafür setzt Julia sich in ihren verschiedenen Arbeitsbereichen ein. Seit 2015 verbindet sie diese beiden Anliegen sogar in einer weiteren Funktion: als Leiterin des deutschlandweiten digitalen Jungendevents „truestory“. Viele Menschen sind daran beteiligt und Julia gerät geradezu ins Schwärmen, wenn sie von all den verschiedenen Konfessionen und Denominationen erzählt, die Teil dieser Arbeit sind: „Es gibt truestory nur, weil alle zusammenkommen und ihre ganze Kreativität da reingeben.“ 
Die Art und Weise, wie Julia (gerade auch jungen) Menschen begegnet und sie in ihren Fragen ernst nimmt, zeichnet sie aus und bestätigt auch den Eindruck, den sie selbst hat: „Evangelistin zu sein, ist für mich ein wichtiger Teil meiner Berufung.“

Der FeG-Themenabend über spannende Glaubensfragen hat manch eine Frage für den ein oder anderen Teilnehmer beantworten können. Vor allem aber hat er eine große Wertschätzung fürs Fragenstellen und die Fragensteller geweckt, die einem im Alltag begegnen. Auf die Frage, ob er denn bei einem ähnlichen Abend wiederkommen würde, antwortet ein 16-Jähriger lässig: „Safe!“ (Das heißt übrigens: „Auf jeden Fall!“)