Sie gehörte zum Schweizer Leichtathletik-Nationalkader der 1.500- und 5.000-Meter-Läuferinnen. Dann warfen ein Burnout und eine Depression die Spitzensportlerin aus der Bahn. Verstärkt wurde ihre Krise durch einen frommen Leistungsdruck, den sie in zwei Gemeinden verspürte, die unterschiedlicher kaum sein konnten: einer konservativen Hauskirche und einer aufstrebenden, modernen Lifestyle-Gemeinde, die ihre Gottesdienste laut und leidenschaftlich feiert.
Willow Magazin-Redakteur Gotthard Westhoff traf die ehemalige Leistungssportlerin zu einem Trainingslauf im schweizerischen Olten. Leichtfüßig lief die 30-Jährige in den rund 60 Minuten und erzählte dabei – ohne aus der Puste zu kommen – offen von ihrem sportlichen Aufstieg, der Bewältigung ihrer Krise – und wie ein Willow Magazin-Artikel sie zu ihrer neuen Berufung führte.

Nathalie, was empfindest du beim Laufen?

Pure Freiheit. Ich liebe es, mich in der Natur zu bewegen, fühle meinen Körper auf eine sehr intensive Weise. In den Momenten bin ich ganz bei mir, spüre nur mich, die Natur und Gott.

Das klingt kontemplativ.

Ja, so könnte man es nennen. Laufen ist heute für mich ein Zugang zu mir selbst und zu Gott. Ich kann mich auf ihn einlassen, die Dinge des Alltags ablegen.

Und wie steht es um die Lust, wieder auf einen Wettkampf hin zu trainieren, die eigenen Bestzeiten zu verbessern?

Ich mag den Wettkampf, das Kribbeln im Bauch vor dem Start, das Gefühl, auf mich allein gestellt zu sein und das Hinarbeiten auf ein bestimmtes sportliches Ziel. Aber darin steckt auch eine Gefahr: dass ich mein gesamtes Leben darauf programmiere, ein bestimmtes Ziel zu erreichen und diesen Plan dann nur noch stumpf abspule. Durch meine Krise habe ich das Laufen als ein so wertvolles Geschenk entdeckt, dass ich dies nicht mehr missbrauchen möchte, indem ich mich darüber definiere oder mich durch äußere Vorgaben festlegen lasse. Wenn der Leistungsaspekt zu stark ist, die Trainingspläne wieder ins Spiel kommen, würde der neu gewonnene Zugang zu mir selbst und zu Gott nicht mehr mit dieser inneren Freiheit möglich sein.

Viele Jahre war das dein Leben. Hast du das Laufen damals als Druck empfunden?

Am Anfang nicht. Mein Vater hatte diese Begeisterung für das Laufen. Schon früh hat er mit mir trainiert – ohne Zeitmessung und Druck. Wenn ich keine Lust mehr hatte, haben wir aufgehört. Das Training schlug rasch an. Das steigerte die Motivation für den Spitzensport als Lifestyle. Mein Vater und ich unterschätzten aber, wie wichtig Themen wie Identität, Selbstwert und das Entwickeln einer eigenen Persönlichkeit waren. So stand die Leistungsentwicklung viel zu stark im Zentrum. Dieser Druck und diese Einseitigkeit erstickten mich zunehmend von innen her.

Hast du die einsetzende Dynamik nicht gemerkt?

Nein, erst später. Das Laufen hat mir ja Spaß gemacht. Und der Lifestyle einer Spitzensportlerin hat mir auch gefallen: morgens um halb sechs schellte mein Wecker, dann ging ich laufen, war anschließend fit für den Tag. Dann ging’s zur Uni, am Abend wurde noch mal trainiert, später folgten Physio, Massage, Sauna. Du lebst in einem System, in dem dein Körper von Kopf bis Fuß umsorgt wird und Aufmerksamkeit erhält.

Es ist aber auch eine große Investition.

Aber du darfst nicht vergessen: Ich konnte jeden Tag an meinem Selbstbild arbeiten. Das ist enorm verlockend: Du absolvierst eine Trainingseinheit und machst damit sofort einen weiteren Schritt nach vorne in deiner Leistungsfähigkeit – und deinem Idealbild von dir selbst. So ging das Tag für Tag: 12 Trainingseinheiten, 140 Kilometer in etwa 20 Trainingsstunden pro Woche.

Aber dann erhielt dein Idealbild erste Risse.

Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich nur noch festgelegt bin: von Trainings- und Ernährungsplänen, von Vorstellungen, wie ich dem Bild einer Spitzensportlerin zu entsprechen habe. Mein gesamter Tag war durchgetaktet. Das größte Problem war: Meine Identität war allein vom Sport bestimmt. Dazu kam eine Abhängigkeit hinein, stets gute Leistungen bringen zu müssen, zu funktionieren. Gefühle unterdrückte ich, weil ihre Botschaft nicht in den Plan gepasst haben. Für mich als Menschen gab es kaum mehr Platz. Meine Persönlichkeitsentwicklung erstarrte und ohne es zu merken, entfremdete ich mich immer mehr von mir selbst.

Woran kann das gelegen haben?

Der entscheidende Grund war wohl, dass ich keine eigenen inneren Werte entwickelt hatte, an denen ich mich orientieren konnte. Deshalb war der Fremdbestimmung Tür und Tor geöffnet.

»Ich wurde angehalten Emotionen zu unterdrücken – wie sollte ich da lernen, eine authentische Beziehung zu Gott aufzubauen?«

Du bist in einer christlichen Gemeinde aufgewachsen. Wurde dir dort eine Art Leitfaden fürs Leben vermittelt?

Nicht in einer ausreichend tiefgründigen und differenzierten Weise. Es war eine sehr konservative und theologisch enge Gemeinde. Deren Kernbotschaft war: Es gibt nur zwei Wege: den schmalen und den breiten. Der ›schmale‹ Weg führt zum ewigen Leben, der ›breite‹ in die Verdammnis. Auf dem schmalen Weg bleibst du, wenn du Gott gehorsam bist und ein heiliges Leben führst. Vor allem sollte man seinen Gefühlen nicht trauen, weil der Teufel sie nutzen würde, um einen vom rechten Weg abzubringen, hieß es. Gott war für mich vor allem der, der in mein Innerstes sieht, mir den Spiegel vorhält und zeigt, wo ich seinem hohen Anspruch nicht gerecht werde.

Du hattest also den Eindruck, nicht nur im Sport deine Leistung abliefern zu müssen, sondern auch bei Gott?

Genau. Besonders wichtig war die Erwartung, dass man Gott im Alltag sichtbar macht. Und mein Alltag war das Laufen. Also habe ich mich angestrengt, um Gott durch den Spitzensport sichtbar zu machen. Der Sport war schließlich nur noch ein Mittel zu diesem Zweck.

Also nicht die pure Freude, die du heute mit dem Laufen verbindest?

Ganz und gar nicht. Ich hatte irgendwann keine schönen Momente mehr – weder im Sport, noch im sonstigen Alltag. Ich war innerlich nicht mehr lebendig. Bei den Wettkämpfen war ich psychisch müde. Ich funktionierte nur noch.

Wann hast du gemerkt, dass es so nicht weiterging?

In einem Trainingslager in St. Moritz, vor sechs Jahren. Ich bekam plötzlich Atemprobleme, meine Muskeln zogen sich zusammen, während mein Wille sagte: Reiß dich zusammen, du kannst dir nicht erlauben, kürzer zu treten! Dann kollabierte mein gesamtes System: Ich war von einem auf den anderen Tag wie ausgeschaltet, konnte am Morgen kaum mehr aufstehen. Lag schließlich über Monate fast nur noch im Bett. Es begann eine lange Burn out- und Depressionsphase. Diese Ohnmacht, nicht mehr über mich selbst bestimmen zu können, konnte ich als Macher-Typ fast nicht aushalten. Das Laufen war meine Lebensmitte: meine Tagesstruktur, meine Identität, meine Zukunft und mein Zugang zu Gott. Als das so plötzlich wegbrach, zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Ich stand vor dem Nichts.

»In dem Moment, wo alles zerbrach und ich nichts mehr für Gott tun konnte, war er plötzlich da.«

Welche Gedanken gingen dir da durch den Kopf?

Im Bett wurde ich gezwungenermaßen mit mir selbst konfrontiert. Ich war erschüttert darüber, dass ich mich selbst überhaupt nicht kannte. Ich war völlig überfordert mit meinen eigenen Emotionen, die plötzlich in mir hochkamen. Ständig fragte ich mich: Wie konnte es dazu kommen, dass ich mich so weit von mir selbst entfernt habe?

Hast du darauf eine Antwort gefunden?

Ein Grund war sicher meine religiöse Prägung. Von klein auf bin ich mit der Angst aufgewachsen, dass mich meine Emotionen auf den ›breiten‹ Weg ins Verderben führen könnten. Ich wurde angehalten, sie zu unterdrücken – wie sollte ich da lernen, mich konstruktiv mit ihnen auseinanderzusetzen, geschweige denn eine authentische Beziehung zu Gott aufzubauen? Heute weiß ich: Wenn wir unsere Emotionen buchstäblich verteufeln, machen wir es uns zu einfach. Wir wollen nur nicht uns selbst begegnen, keine Seiten von uns anschauen, denen wir lieber ausweichen möchten.

Hast du therapeutische Hilfe gesucht?

Das hat meine religiöse Prägung nicht zugelassen. Für mein frommes Umfeld waren Dämonen im Spiel, die mich ans Bett fesseln wollten. Menschen aus der Gemeinde haben versucht mich freizubeten, damit Gott wieder das Kommando übernehmen und meine Gefühlswelt bestimmen kann.

Und?

Nichts ist passiert. Im Gegenteil: Ich fühlte mich danach nur noch weiter weg von Gott: »Wieso tust du nichts, wenn doch so intensiv für mich gebetet wird?« rief ich zu Gott. Das hat mich fast in den Wahnsinn getrieben.

Wie hast du aus dieser hoffnungslosen Lage herausgefunden?

Zunächst habe ich in meinem Umfeld nach Vorbildern, nach Menschen gesucht, die mir zeigen konnten: So kann authentisches, erfülltes Christsein aussehen. Aber ich habe niemanden gefunden. Das war für mich der Moment, in dem ich klar spürte: Wenn es da niemanden gibt, dann glaube ich, dass Gott mir selbst zeigen wird, wie er sich in meinem Leben entfalten möchte. Ich werde mich Gott gegenüber vorbehaltlos öffnen, indem ich versuche, all das zuzulassen, was in mir an Emotionen, Widerständen, Bildern und Vorstellungen aufsteigen möchte.

Wie hast du das konkret gemacht?

Ich brauchte morgens etwa vier Stunden, um aufzustehen. Dann saß ich ruhig da, um mich vor Gott zu sammeln und das Chaos in mir zur Ruhe zu bringen. Dann begann ich zu lesen, um für mich herauszufinden: Was hat das Leben für einen Sinn?

Was hast du gelesen?

Was meine Sinnsuche, Wertefindung und religiöse Neuorientierung betraf, bin ich mit Joyce Meyer und Max Lucado eingestiegen. Dann folgten Bücher von Johannes Hartl, Eugen Drewermann und vor allem C.G. Jung. Die Bücher von Bill Hybels haben meine Sichtweise von Kirche neu geprägt. An ihm hat mich fasziniert, wie er Kirche und Gesellschaft immer zusammen im Blick hatte. Für ihn fand Kirche und Glaube nicht abseits der Gesellschaft statt, wie ich es immer erlebt hatte, sondern sollte ein Teil davon sein. Auch Predigten von ihm habe ich mir auf ›YouTube‹ angeschaut.
Bei allem, was ich hörte oder las, stellte ich mir die Frage: Was löst dies bei mir aus? Stimmt das mit meinen innersten Gefühlen und meinem Denken überein? So begann ich eigene Einstellungen zu entwickeln, nicht einfach Überzeugungen anderer unreflektiert zu übernehmen. In diesem Prozess, in dem ich viele Stunden mit mir selbst verbrachte, lernte ich meine Emotionen auszuhalten, die ich all die Jahre unterdrückt hatte, jetzt aber immer deutlicher an die Oberfläche kamen: Wut, Scham, Verzweiflung, Angst und Ohnmacht.

Hat es dich zusätzlich belastet, diese Gefühle zuzulassen?

Interessanterweise entwickelte sich bei mir der Gedanke: Wenn meine Gefühle und mein Verhalten durch meine Kindheit und meine Gemeindesozialisation in einer destruktiven Weise geprägt worden sind, können sie ja in Zukunft auch in eine andere, konstruktive Weise umgeprägt werden. Meine Zukunft muss nicht so aussehen wie meine Vergangenheit! Dieser Gedanke war so befreiend für mich!
Ich war überzeugt: Gott kann in meinem Leben viele neue Türen aufschließen. Ich muss einfach lernen, meine innere Stimme, meine ganz persönliche, individuelle Verbindung zu Gott neu aufzubauen. Dass dies ein jahrelanger Prozess werden könnte, der mich tief hinterfragen und wesentlich verändern würde, hätte ich mir damals nicht vorstellen können.

Gab es einen konkreten Wendepunkt?

Ja, den gab es: Als ich nur noch Kraft hatte im Bett zu liegen und es kaum in meinem Körper aushielt, spürte ich, dass plötzlich etwas in mir aufbrach: Eine tiefe Wärme, Liebe, etwas, das mich zu sich zog.
Ich wusste zunächst nicht, was das war. Dann erkannte ich: Es ist Gott, der hier wirkt! In dem Moment, wo alles zerbrach, tauchte er auf. In einer Phase, wo ich nichts mehr für ihn tun konnte, war er plötzlich da. Diese Erfahrung hat mein gesamtes religiöses Denken auf den Kopf gestellt. Mir wurde klar: Wenn Gott sich trotz meines Chaos’ nicht von mir entfernt, sondern sogar auf mich zukommt, dann habe ich eine völlig falsche Vorstellung von ihm – und wie angeblich richtiges Christsein aussehen muss.

Du hast die konservative Gemeinde irgendwann verlassen und dich einer Schweizer ICF-Gemeinde angeschlossen. Ein echtes Kontrastprogramm!

Oh ja! Zunächst war es sehr befreiend, die energiegeladenen ICF-Gottesdienste mitzuerleben. Aber auch auf Menschen zu treffen, die alle vital, aktiv und sportlich rüberkamen. Aber dann war mein Eindruck, dass durch die Art des Gemeindelebens dort eine Idealvorstellung gezeichnet wurde, wie ein guter Christ und eine lebendige Jesus-Beziehung auszusehen hat. Wenn man das so nicht in gleicher Weise erlebt – und das war bei mir der Fall –, beginnt man sich selbst zu hinterfragen, was mit einem nicht stimmen könnte oder was man im Leben besser hinbekommen sollte, damit sich Gott dann in dieser Weise einem selbst zuwendet. Hinzu kam der Drive dieser zielorientierten Gemeinde: Mit Gott kann man Dinge bewegen, er tut Wunder, war stets die Haltung. Aber bei mir gab es damals kein Wunder. Also wurde ich ermutigt, einfach weiter daran zu glauben,dass Gott eines Tages auch meine Not wenden wird.

Konntest du mit der Gemeindeleitung über diese Tendenzen sprechen?

Nein. Ich war damals noch nicht so weit. Erst jetzt mit dem zeitlichen Abstand sehe ich diese Dinge differenzierter und bin sensibel für frommes Leistungsdenken. Ich glaube, dass gerade neue, aufstrebende Gemeinden oft einen zu großen Fokus darauf legen, hip zu sein und eine perfekte Show abzuliefern, dabei aber an Authentizität und Differenziertheit verlieren, was das tatsächliche Leben anbelangt.

Seit zwei Jahren bist du nun Mitarbeiterin bei ›WG Treffpunkt‹ in Olten – einem Sozialunternehmen, das sozialtherapeutische und integrative Dienstleistungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene anbietet. Dazu hat auch das Willow Magazin beigetragen ...

Genau. Im Willow Magazin  entdeckte ich zufällig einen Artikel, in dem die Gründer – Kurt Widmer und Michael  Häfeli – porträtiert wurden. Mich hat sofort fasziniert, wie ihre Organisation den christlichen Glauben in die Gesellschaft hineinträgt; dass ihre biblischen Werte nicht nur in den Statuten stehen, sondern sich in ihrer Arbeit ausdrücken – auch in der Zusammenarbeit mit Menschen, die keinen religiösen Hintergrund haben. Ich habe die beiden sofort angeschrieben, um einen Termin zu vereinbaren. Ihr Konzept wollte ich mir aus nächster Nähe anschauen und herausfinden, ob das, was im Willow Magazin stand, sich auch vor Ort bewahrheiten würde.

Und?

Wir haben sofort gemerkt, dass die Chemie stimmt und dass die Ziele der Organisation mit meiner Vision und Zielsetzung übereinstimmen. Ein paar  Monate später wurde bei ›WG Treffpunkt‹ eine Stelle frei, so dass ich einsteigen konnte. Es ist toll und erfüllend, miteinander eine Lebensvision zu teilen und diese im Alltag und mitten in der Gesellschaft in die Wirklichkeit umsetzen zu können. So ist für mich mein Beruf zugleich auch Berufung.

Profitierst du in deiner Arbeit von deiner Krise?

Ich bin bei ›WG Treffpunkt‹ für die berufliche Integration von Menschen zuständig, die oft wegen psychischen  Gründen aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden sind. In meiner Coaching-Aufgabe hilft mir die eigene Krisen-Erfahrung natürlich enorm, um Menschen in ihrer Situation besser zu verstehen und wahrzunehmen.

Wenn du von Anfang an ein gutes Gleichgewicht im Leben gehabt hättest – wäre dann eine gesunde Karriere im Spitzensport möglich gewesen?

Diese Frage stelle ich mir bis  heute. Eine befriedigende Antwort habe ich aber noch nicht gefunden. Sicher ist: Mit der jetzt gewonnenen inneren Freiheit und dem Zugang zu mir selbst könnte ich mein Potenzial mit viel mehr Kraft und Freude ausschöpfen. Aber in meinem Findungsprozess habe ich neue Seiten an mir entdeckt: mich intellektuell zu fordern und innovative sozialgesellschaftliche Ansätze zu entwickeln. Diese zu verfolgen, bereichert mich viel mehr als unzählige Stunden allein zu trainieren und auf dem Höhepunkt eine tolle sportliche Leistung abzuliefern. Dieses Ziel ist für mich zu klein geworden.