Als badischer Landesbischof lernte Dr. Fischer Willow Creek 1993 während eines Gemeindekongresses kennen.2001 nahm er am Leadership Summit in der Willow-Gemeinde in Chicago teil. Auf Einladung der hannoverschen Landeskirche referierte Dr. Fischer im Juni 2015 auf einem Informationsabend vor kirchlichen Führungskräften und Hauptamtlichen über die Chancen und Grenzen des Willow-Gemeindeansatzes. Sein Vortrag, der hier in einer gekürzten und bearbeiteten Fassung erscheint, gibt vor allem für den landeskirchlichen Kontext wichtige Impulse und Orientierungshilfen im Vorfeld des Leitungskongresses 2016 in Hannover.

Teil 1
Was habe ich bei Willow kennengelernt?

Eine Gemeinde, die den kulturellen Graben zwischen Gemeinde und Gesellschaft überbrücken will. Das Hindernis für kirchenferne Menschen ist eben oft nicht die ›Botschaft vom Kreuz‹ oder ›die Sünde‹, sondern besagter Graben: Sie verstehen die Sprache der Kirche einfach nicht. Unsere Musik empfinden sie seltsam, unser Benehmen oft bizarr. Sie wissen auch nicht, wie man sich in der Kirche benimmt, und sie erkennen vor allem nicht, was all dies mit ihrem Leben zu tun haben soll. Der junge Pastor Bill Hybels und seine Freunde lernten darum zu unterscheiden zwischen der Verschlossenheit des Menschen für das Evangelium und seiner Aversion gegen eine kirchliche Kultur, die er nicht verstehen kann. Gegen das Erste, so erkannten sie, kann nur der Heilige Geist etwas ausrichten. Gegen das Zweite, so überlegten die engagierten jungen Christen, müssen wir schon selbst etwas tun. 

Aus den Anfangstagen heraus wurde damals folgende 7-Schritte-Strategie für missionarische Arbeit entwickelt: 

Willow Creek setzt 1. auf Christen, die authentische und nicht nur ›taktische‹ Freundschaften mit anderen pflegen und die 2. zugleich über ihren Glauben Auskunft geben können und möchten. Neben diesem Eckpfeiler gibt es einen weiteren: 3. Gottesdienste, die auf suchende Menschen fokussieren und zu deren Besuch diese Freunde eingeladen werden. Wenn diese 4. zum Glauben kommen, können sie 5. selbst Teil einer Kleingruppe werden. 6. Sie entdecken die eigenen Fähigkeiten und arbeiten in der Gemeinde mit. 7. Schließlich übernehmen sie dort auch finanzielle Verantwortung. 

Leidenschaftliche Armutsbekämpfung mit Anwaltschafts-Arbeit verbinden

Wer die großen US-amerikanischen Gemeinden allzu schnell mit dem politisch rechten Lager identifiziert, das für soziale Belange eher unsensibel und politisch stramm konservativ ist, der hat gerade bei den vielen jüngeren evangelikalen Gemeinden nicht richtig hingeschaut. Jeder Gottesdienst­besucher soll hier sehen, dass es der Gemeinde um die leidenschaftliche Bekämpfung von Armut geht. Gleichzeitig soll jeder Einzelne, der zum Willow-Care Center kommt, spüren, dass diese Gemeinde ihren Gott mit der gleichen Leidenschaft anbetet und auf sein Wort hört. Und so hat Willow Creek nicht nur einen starken seelsorglichen Arbeitszweig; die Gemeinde ist tatsächlich der größte diakonische Dienstleister der Umgebung. Die umfangreichen diakonischen Bemühungen sind zudem eng verknüpft mit politischen Stellungnahmen: Als Beispiel sei hier die Anwaltschafts-Arbeit für die zahlreichen illegalen Immigranten genannt; Bill Hybels unterstützt das Vorhaben von Barack Obama, sie einzubürgern.

Die Ortsgemeinde als Hoffnung der Welt?

Damit sind wir bei dem theologisch zunächst etwas schwer verdaulichen Satz: ›Die Ortsgemeinde ist die Hoffnung der Welt‹. Fragen wir zurück: »Ist denn nicht Christus die Hoffnung der Welt?« Niemand bei Willow würde mir widersprechen. Doch man würde antworten: »Christus hat einen zweiten Wohnsitz auf Erden«, die Gemeinde ist mit den Worten Dietrich Bonhoeffers ›Christus als Gemeinde existierend‹. Lebt sie entschieden für andere, wie es ihrem Wesen entsprechen soll, dann wirkt der Gekreuzigte und Auferstandene durch sie auf Erden. Dann kann es auch in diesem abgeleiteten Sinn heißen: »Die Ortsgemeinde ist die Hoffnung der Welt«. Diese Mission von Willow Ceek integriert Wort und Tat aufrichtig und fachkundig. Die ›Creeker‹ sind nicht nur fantasie- und taktvolle Evangelisten, sondern auch mitfühlende, fachkundige und politisch aufgeklärte Diakoniker.

»Die ›Creeker‹ sind nicht nur fantasie- und taktvolle Evangelisten, sondern auch mitfühlende, fachkundige und politisch aufgeklärte Diakoniker.«

 

Drei Bereiche des Willow-Profils

Drei Bereiche kennzeichnen das Profil von Willow Creek; sie bilden zugleich das Herzstück der Gemeinde: Evangelisation, Barmherzigkeit & Gerechtigkeit (Compassion & Justice) und Jüngerschaft. Jedem Schwerpunkt sind jeweils eine Vision, eine Mission und unterschiedliche Werte zugeordnet. Während die Vision – ein Bild einer vom Evangelium her gedachten und wünschenswerten Zukunft – die Richtung vorgibt, formuliert die Mission den damit verbundenen Auftrag. Ist also durch die Vision geklärt, wohin es gehen soll und durch die Mission formuliert worden, was man hierzu tun möchte, geben die Werte darüber Auskunft, wie etwas getan werden soll. 

Beispiel Compassion & Justice: Die Vision gibt die Richtung vor: »Der Dienst Christi durch die Ortsgemeinde ist die Hoffnung der Welt«. Die Mission benennt die damit verbunden Aufgaben: »Gegen Armut und Ungerechtigkeit ankämpfen, damit Leben verändert werden und der Name Jesu bekannt wird«. Die Werte zeigen, wie man konkret agieren möchte: Im sozialdiakonischen Engagement will Willow den Menschen ›Würde‹ verleihen, ihnen ›Hoffnung‹ schenken und durch den konkreten Dienst dazu beitragen, dass ihr Leben zum Positiven ›verändert‹ wird.

Drei Ausprägungen des Profils

• Das Profil ist von einer starken Orientierung nach außen geprägt. Die beiden Bereiche Evangelisation und Compassion & Justice sind Ausdruck des Verlangens, mit Wort und Tat ›Kirche für andere‹ (Bonhoeffer) sein zu wollen.

• Das Profil ist Teil einer gemeinsamen Identität der Gemeinde. Es wird nicht nur in den Predigten und den Gruppenangeboten vielseitig zur Sprache gebracht, sondern auch in den Tauf- und Glaubenskursen für neue Gemeindemitglieder plausibilisiert.

• Das Profil ist absolut handlungsleitend für Ehrenamtliche und Hauptamtliche. Es ist jener vom Evangelium her gedachte ›Inhalt‹, von dem aus über die ›Strukturen‹ nachgedacht wird. Alles hat der übergeordneten Vision zu dienen. Sie ist der Prüfstein für das, was zu tun oder zu lassen ist. Gerade weil der ›Inhalt‹ so präzise ist, werden die besten Strukturen mit einem großen Maß an Lernbereitschaft gesucht. Auch Innovationen aus nichtchristlichen Organisationen und der Wirtschaft werden hier ohne Berührungsängste bedacht. Willow ist, bezogen auf den ›Inhalt‹, sehr fokussiert. Doch bei der Entwicklung von ›Strukturen‹ ist die Gemeinde trotz ihrer Größe enorm wandlungsfähig. Das ist eine ihrer großen Stärken.

Möglichkeiten und Chancen des Transfers in die Landeskirchen 
Auch in unseren Pfarrbezirken würden vom Evangelium hergeleitete Leitbilder oder Visionen, die den inhaltlichen Auftrag der Gemeinde zukunftsweisend formulieren, dazu verhelfen, stets vom ›Inhalt‹ her über Angebote und Strukturen nachzudenken. Daraus ergäben sich inhaltliche Kriterien als Entscheidungshilfe, was man verstärkt zu tun, aber auch zu lassen hat.

Wir können zudem lernen, dass Leitbild-Entwicklungsprozesse nicht nur einen Status Quo benennen sollen. Von dort müssen vielmehr wegweisende Visionen erarbeitet werden, die ganz zwangsläufig auch den Blick auf bestehende Defizite der Gemeinde richten.

Als Landeskirche können wir vom Mut zur Veränderung bei Willow Creek lernen: Dort geht es darum, regelmäßig zu überprüfen, ob die aktuellen Angebote und Strukturen – vor dem Hintergrund des Gesellschaftswandels – die Vision noch bestmöglich umsetzen können. 

Auch unsere aktiven Gemeindeglieder würden sich – durch ein gemeinsam erarbeitetes und geteiltes Leitbild – besser als Teil des Ganzen im Dienste Gottes verstehen. Dies würde ihrem Engagement einen tiefen theologischen Sinn verleihen und letztlich auch die Einheit fördern. 

Grenzen
Zu eng gefasste Profile sind in unseren Pfarrbezirken nicht möglich, denn für unter­schiedlichste Frömmigkeitsformen muss eine gewisse Breite gewahrt bleiben. Wir sollten also über Visions-Findungsprozesse nachdenken, die möglichst vielen Kirchenmitgliedern die Teilhabe ermöglichen, um ein Leitbild zu erarbeiten, mit dem sich möglichst viele identifizieren können.

Die Zugehörigkeit zu unseren Parochien ist aus theologischen Gründen über die Taufe hinaus nicht konditioniert und dies ist auch zu bewahren. Die starke Forderung an die Mitglieder, ein aktiver Teil im Ganzen zu sein und die Haltung der kirchenleitenden Ebene ›take it or leave it‹ ist in einer Parochie nicht angebracht. Eine Vision darf nicht die Machbarkeit des Glaubens suggerieren, sondern muss auf das Evangelium als Grund des Glaubens und gleichsam als Ermöglichung des konkreten Handelns hinweisen.

Mitgefühl und Gerechtigkeit

Die theologischen Überzeugungen innerhalb von Willow Creek und der persönliche Glaube der Mitglieder stehen in einem engen Zusammenhang mit dem Dienst am Nächsten. Compassion & Justice ist einer der Eckpfeiler der Willow-Gemeinde: In diesen Dienstbereich fließen 10 Prozent aller Einnahmen der Gemeinde. Die dahinter stehende Mission ist die Bekämpfung von Armut und Ungerechtigkeit, um Menschenleben zu verändern und Jesus bekannt zu machen. In South Barrington wird die Mission von Compassion & Justice im neu eröffneten Care Center verwirklicht. Im diakonischen Zentrum direkt auf dem Gemeindegelände werden derzeit rund 17.000 Familien pro Jahr betreut. Das geschieht durch Kurzzeit-Hilfen wie Lebensmittelversorgung, Bereitstellung von Kinderkleidung oder medizinische Versorgung. Darüber hinaus gibt es die Langzeithilfe in Form von Rechts- und Finanzberatung, Hilfen bei der Arbeitssuche oder indem mittellose Menschen ihre Autos in der gemeindeeigenen Werkstatt kostenfrei reparieren lassen können oder – entsprechende Bedürftigkeit vorausgesetzt – sogar einen Gebrauchtwagen kostenfrei erhalten. Hier wird eine enge Verknüpfung von Glaube und Dienst deutlich: Diejenigen, die Hilfe empfangen, sind teilweise schon Teil der Gemeinde. Falls nicht, werden sie eingeladen, auch den anderen Teil des Gebäudes zu betreten, nach dem Motto: »Willkommen im Leib Christi. Wir alle haben Nöte und Bedürfnisse.« Hilfe und Gebet geschehen also integrativ; Gottes Handeln und menschliches Handeln kommen zusammen, wenn eine Person Hilfe erfährt. 

Möglichkeiten und Chancen des Transfers in die Landeskirchen 
Die theologische Grundentscheidung durch den Bau des Care Centers auf dem Gemeindegelände könnte auch für unsere Ortsgemeinden durch eine Zusammenführung von Diakonie und Gemeinde wegweisend sein: Das Evangelium soll in unseren Gemeinden ja in Wort und Tat verkündigt werden, denn Verkündigung und sozialdiakonische Arbeit gehören ja untrennbar zusammen. Eine Chance der Zusammenführung besteht in der Einbindung Ehrenamtlicher in diakonische Tätigkeiten, denn ein Miteinander von professionellen Hauptamtlichen und engagierten, ortsansässigen Ehrenamtlichen in der Diakonie bringt fachliche und ›örtliche‹ Kompetenz zusammen. Nicht nur die Bedürftigen selbst profitieren von der Hilfe der Ehrenamtlichen; auch wer dem anderen dient, wird selbst beschenkt und erfährt Veränderung. Jede Gemeinde sollte dabei ihren jeweiligen Kontext beachten und sich fragen: Begegnen wir mit unseren diakonischen Tätigkeiten wirklich den Bedürfnissen der Menschen vor Ort? Und es lohnt sich, auch selbstkritisch zu fragen: Was würde diesem Ort eigentlich fehlen, wenn es uns als Gemeinde nicht gäbe? Würde es überhaupt jemand merken?

»Eine Chance für evangelische Kirchengemeinden: Ein Miteinander von professionellen Hauptamtlichen und ortsansässigen Ehrenamtlichen in der Diakonie bündelt die fachliche mit der lokalen Kompetenz.«

Grenzen
Die Größe der Willow Creek Gemeinde ist nicht unerheblich von der Lage in der Großstadt Chicago mit ihren rund 9 Millionen Einwohnern geprägt. Eine solche ›Mega-

Church‹ kann mit ihren Kapazitäten und Ressourcen natürlich viel mehr auf die Beine stellen, als ein Pfarrbezirk innerhalb der deutschen Landeskirche. Unsere Gemeinden vor Ort sollten daher in erster Linie die Kooperation mit bereits bestehenden sozialen und diakonischen Einrichtungen der umliegenden Bezirks- und Kreisstädte suchen. Diese sind ja ihrerseits auf ein gutes Netzwerk in den jeweiligen Ortschaften angewiesen. Möchte man also – gerade in ländlichen Räumen – das sozial-diakonische Engagement der Gemeinde stärken, so besteht die eigentliche Herausforderung im Vernetzen von professionellen Diensten und den Bedürftigen vor Ort.

Wo bringen uns Willow-Kongresse Gewinn?

Der Reiz des Fremden
Wir können den Reiz des Fremden, Unbekannten spüren, wenn wir ohne Frustgefühle anerkennen, dass die Situation in Chicago nicht zu vergleichen ist mit unseren Landeskirchen und ihren Ortsgemeinden. Niemand – übrigens auch keiner im Willow-Team – wird erwarten, dass unsere Gemeinden sich genau so entwickeln, wie die in den USA. Niemand wird das Kopieren von Blaupausen empfehlen. 

Anstecken lassen
Ansteckend bei den ‚Creekern‘ ist das behutsam und liebevoll veränderte Leben von Menschen, die Offenheit und Lernbereitschaft, das starke Ehrenamt und die ganzheitliche Mission. Ansteckend wirken Christen aus einer anderen Kultur, die fröhlich an unseren Gott glauben. Sie beleben uns, stecken uns an mit der Freude und Zuversicht, mit der sie von Gott reden und ihn loben. Willow-Kongresse sind Feste des Glaubens. Man geht in der Tat ein bisschen frömmer heraus, als man hinein kam. Man möchte die Bibel etwas neugieriger lesen und etwas erwartungsvoller beten. Und man gewinnt Hoffnung für die eigene Gemeinde.

Kapieren, nicht kopieren
Es gibt auch Kongressteilnehmende, die nach der Veranstaltung im ›Kopier-Modus‹ nach Hause fahren, dort etwas hochmütig auf die eher bescheidenen Verhältnisse schauen – und dann tüchtig auf die Nase fallen oder im schlimmsten Fall auch Schaden anrichten. Dagegen hilft aus meiner Sicht das bessere Motto ›kapieren, nicht kopieren‹.

Haltungen überdenken – der Stadt Bestes suchen
Schließlich werden uns bestimmte Haltungen empfohlen, die weit über eine amerikanische Kultur hinaus bedenkenswert sind: Etwa dass wir unsere Gemeinden von außen betrachten und noch ernsthafter als bisher prüfen, wie ›barrierefrei‹ sie für Menschen sind, die bisher in großem Abstand zu Kirchen und christlichem Glauben standen. Oder dass wir unsere Gemeinde nicht um ihrer selbst willen erhalten, sondern uns fragen, was sie für unser Umfeld, unser Dorf, unsere Stadt bewirken kann. Inwiefern sind wir heute ein Segen, weil wir »der Stadt Bestes suchen?«

 

Diesem Vortrag liegen Ausführungen von Prof. Herbst (Greifswald) und von Vikaren der badischen Landeskirche zugrunde.