Abitur, Studium, ­Karriere – so ­hätte ­Nathalie Schallers ­
Leben ­aussehen können. Doch auf ­Reisen nach ­Indien und ­Kambodscha ­begegnet sie Überle­benden von Menschenhandel und Zwangs­prostitution. Sie will helfen, schmeißt ihr ­Jura-Studium gründet ein humanitäres Mode-­Label. Hier erzählt die Sprecherin beim ­Leitungs-
kongress 2022, wie ihr Herz Feuer fing für eine große Vision.

Nathalie, was war der Beweggrund, dein Jurastudium aufzugeben und stattdessen ein humanitäres Mode­label zu gründen?

Nathalie Schaller: Im Studium habe ich über Jahre die tatkräftige Art von Gerechtigkeit vermisst, nach der ich mich gesehnt habe. Ich wollte mehr zu einer Gerechtigkeit beitragen, die von Liebe geprägt ist und die das Leben von Menschen konkret verändert. Dass ich diese Art von Gerechtigkeit schließlich als Sozial­unternehmerin gefunden habe, ist für mich rückblickend auch eine absolut verrückte Geschichte, bei der sich viele Puzzleteile über die ganze Welt verstreut zusammengesetzt haben.

Welche waren das?

Zum einen wollte ich Ausbildungs- und Arbeitsplätze für traumatisierte Frauen schaffen und habe dabei direkt an eine handwerkliche Tätigkeit gedacht, bei der man etwas Schönes herstellt und der Selbstwert gestärkt wird. Auf der anderen Seite habe ich mich schon immer für Mode interessiert und war selbst zeitweise eine richtige Shopping-Queen. Nachdem aber die schrecklichen Produktionsbedingungen in der Textilindustrie immer mehr an die Öffentlichkeit kamen, konnte ich nicht mehr mit gutem Gewissen Klamotten shoppen. Also habe ich einfach eins und eins zusammengezählt und beschlossen, mein eigenes eco-faires Modelabel zu gründen, das speziell für Frauen Arbeitsplätze schafft. [eyd] gibt es jetzt seit 2017.


Label mit »Empowerment«: [eyd] macht nicht nur nachhaltige Mode, sondern bietet Frauen mit einer dunklen Vergangenheit eine hellere Zukunft

Und welche Mission steckt hinter deinem Label [eyd]?

Die Mission unseres Modelabels steckt bereits im Namen, denn EYD steht zum einen als Abkürzung für »Empower Your Dressmaker«. Zum anderen sprechen wir es wie das englische Wort ›Aid‹ (Hilfe, Unterstützung) aus. Unsere Mission ist das Empowerment von Frauen mit einer schweren Vergangenheit. Die Mode ist unser Motor.

Wie genau unterstützt ihr mit eurem Label die Frauen, die aus Menschenhandel und Zwangsprostitution befreit worden sind?

Die eigentliche Reintegrationsarbeit mit den Frauen machen unsere Freunde und Partner in Indien. Hier erhalten die befreiten Frauen einen fair bezahlten Job als Näherin in einem geschützten und liebevollen Umfeld. Und sie bekommen auch die Möglichkeit, ihren Schulabschluss nachzuholen, und erhalten allgemeine Hilfestellung, um ihr Leben in Freiheit gut und gesund zu gestalten. Wir aus Deutschland sind quasi Ressourcen-Geber und versorgen sie mit Produktionsaufträgen, Schnitten, Stoffen und zusätzlichem Knowhow.

Was fehlt den Frauen am meisten, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Und wie vielen Frauen ­konntet ihr bisher helfen?

Die Frauen haben oft den größten Teil ihrer Jugend in den Fängen von Menschenhändlern verbracht und nie ein normales Leben kennengelernt. Unsere indische Partnerorganisation bringt den Frauen daher auch Basic Life Skills bei: einfache Grundlagen wie Hygiene, Haushaltsführung, Behördengänge usw. Bisher konnten 24 Frauen das Programm unserer indischen Partner abschließen.

Welche Bedeutung haben die kleinen gestempelten Blumen in euren Kleidungsstücken?

Mit unserem so genannten ›Imprint‹ möchten wir eine Brücke schlagen zwischen den Näherinnen und den Käufer­innen und Käufern hierzulande. Jede Näherin in unserer Partnerwerkstatt hat einen eigenen Stempel mit dem Symbol einer Blume. In jedem Kleidungsstück findet man den Blumenstempel der Näherin, die an dem Kleidungsstück mitgewirkt hat. Auf unserer Webseite kann man die Blumensymbole dann wiederfinden – zusammen mit den Geschichten der Frauen.

Viele Menschen sehnen sich danach, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Was würdest du ihnen raten, damit aus Ideen Taten folgen?

Ich glaube, das Wichtigste ist, dem Funken in unserem Herzen Beachtung zu schenken. Es braucht Mut, nicht wegzuschauen, nicht zu verdrängen, sondern die Schief­lagen unserer Welt an sich ranzulassen. Wer diesen Mut aufbringt, sich dafür zu öffnen und bewegen zu lassen, der wird nicht mehr zu bremsen sein. Wenn unser Herz einmal für eine Sache brennt, können wir fast nicht anders, als uns in irgendeiner Form zu engagieren.

Ilka Walter führte das Interview

Ein paar Stücke aus der aktuellen Sommer-Collection von EYD. Deren Slogan lautet: »Empowerment is our mission.
Fashion is our motor.«