Sie ist eine Willow-Partnergemeinde der ersten Stunde: Seit 1998 gehört die Ev. Matthäus-Gemeinde in Bremen zum Netzwerk von Willow Creek Deutschland. Bis heute nehmen regelmäßig große Mitarbeiter-Gruppen an Willow-Kongressen teil. Mehr noch: Sie reflektieren das Erlebte und übertragen dies konsequent in die eigene Gemeinde­arbeit. Auf diese Weise hat die Bremer Gemeinde nicht nur in ihrem Stadtteil erstaunliche Wirksamkeit erlangt, sondern eine Strahlkraft erworben, die weit über die Region hinaus reicht. Es überrascht nicht, dass sie in der Zeitschrift „chrismon“ zur „Kirchengemeinde des Jahres 2013“ gekürt wurde. Der Bericht von Pastor Lothar Bublitz beschreibt wichtige Schlüsselpunkte bei der Neuausrich­tung und Entwicklung der Gemeinde.

Blick über den Tellerrand

Die St. Matthäus-Gemeinde ist das, was sie heute ist, vor allem durch Anregungen von außen geworden. „Wir beherrschen auf dem Klavier nur eine Oktave, aber der Tastenumfang eines Klaviers ist weit größer“, lautete die Einschätzung des damaligen Pastors. Mitte der 80er Jahre war uns daher klar: Wenn wir uns weiterentwickeln wollen, müssen wir kräftig hinzulernen. Der Gemeindevorstand besuchte daraufhin eine Woche lang große Gemeinden in Deutschland: in Hamburg die Gottesdienste von „Anskar“-Leiter Wolfram Kopfermann und die der Freien evangelischen Gemeinde am Holstenwall; in Gießen erkundeten wir die Freie evangelische Gemeinde, in Braunschweig die Baptistengemeinde. Manches, was wir hörten und entdeckten, setzten wir um. Ein Schlüsselmoment war der Besuch des Willow-Kongres­ses in Hamburg 1996. Mit Willow wurde uns dort eine Gemeinde vorgestellt, die sich dem heutigen Menschen in so überzeugender Weise öffnet, wie wir es bis dahin nicht kannten, ohne dabei an biblischer Substanz zu verlieren. Ohne diese Begegnung wäre unsere heutige Gemeindearbeit so nicht denkbar. Seit 1996 ist Willow für uns zum ständigen Ideengeber geworden – für alle Dienstbereiche.

Ende der 90er Jahre waren es mehrere Besuche der Willow Creek-Gemeinde in Chicago, die für unsere Gemeinde­ent­wick­lung ebenso wichtig waren. Auch die Visite der Saddleback-Gemeinde von Rick Warren bei Los Angeles hat uns entscheidend weitergebracht. Was man durch Vor-Ort-Besuche lernt, findet man in keinem Lehrbuch. Bei der Auswahl der Gemeinden ist das entscheidende Kriterium nicht, ob es sich um Gemeinden der eigenen Denomination handelt, sondern ob sie in ihrer Entwicklung weiter sind als man selbst.

Weiteres Personal

Ein entscheidender Punkt, um eine Grundlage für Wachstum nach innen und außen in Landes- wie Freikirchen zu schaf­fen, lautet: Weiteres Personal einstellen! Hier entscheidet sich, ob sich eine Gemeinde dynamisch entwickelt oder im Normalmaß verharrt.

Viele Hauptamtliche kommen nicht voran, weil es ihnen an diesem Punkt an Leitungsqualität mangelt. Sie sind trotz größten Einsatzes oft gefangen in ihren Alltagspflichten. Taufen, Geburtstage, Trauungen … können die gesamte Zeit und Energie eines landeskirchlichen Pastors aufsaugen. Je nachdem, wie antriebsstark er ist, gelingt es ihm vielleicht noch, den ein oder anderen Arbeitszweig ins Leben zu rufen. Aber solange alles an ihn gebunden ist, wird die Entwicklung seiner Gemeinde über ein bestimmtes Maß nicht hinauskommen. Provokant ausgedrückt: Wenn man zum „Mädchen für alles“ wird, dann reicht es zu nichts anderem. Schlimmer noch: Das wirklich Wichtige bleibt auf der Strecke!

Der häufige Einwand: „Wir würden ja gern jemanden zusätzlich anstellen, aber dafür gibt es von der Kirche kein Geld, wir selbst können die Mittel nicht aufbringen.“ Genau hier gilt es den gordischen Knoten zu durchschlagen. Weil ein Hauptamtlicher für fast alles zuständig ist, kann er nicht noch mehr machen. Und weil er nicht mehr machen kann, stagniert das Gemeindewachstum an einem bestimmten Punkt, den man auch mit verstärkter ehrenamtlicher Unter­stützung nicht aushebeln kann. Wenn das Wachstum stagniert, stehen nicht genügend finanzielle Ressourcen zur Verfügung, um einen Mitarbeiter über Spenden zu finanzieren. Aber wenn die Gemeindeentwicklung richtig vorankommen soll, braucht es zusätzliches Personal für die neuen Arbeitsbereiche.

Für die St. Matthäus-Gemeinde bedeutete das, einen Verein oder andere Strukturen zu schaffen, um zusätzliche Mitarbeiter anzustellen. Vor allem war es wichtig, der Gemeinde den Blick für diese Notwendigkeiten zu eröffnen. Heute werden 4 ¼ Vollzeitkräfte, eine 400-Euro-Stelle und zusätzlich ein Vielfaches des durch die Landeskirche nicht finanzierten Gemeindehaushaltes über Spenden finanziert. Natürlich: Es war ein langer Weg dorthin. Aber er begann mit dem Mut, den gordischen Knoten zu durchschlagen.

Er eröffnete viele neue Möglichkeiten: die Entwicklung neuer Arbeitsbereiche, den Ausbau vorhandener Dienst­bereiche, die Durchführung aufwendiger Projekte, die kata­lytisch das Gemeindeleben befeuerten, bis hin zu mehr Freiraum für den Pastor für die Ausarbeitung von Predigt­reihen.

Strahlkraft

Je größer die Stadt, desto größer muss auch die „Stimme“ sein, die in ihr Gottes Sache voranbringt. Es muss schon eine Menge passieren, bis eine Stadt die Frommen in ihrer Mitte wirklich wahrnimmt. Besondere Möglichkeiten haben große Gemeinden, wenn es um gesellschaftliche Verantwortung geht. Als wir erkannten, dass unser Gemeindezentrum nicht nur Veranstaltungsort, sondern auch Lebensraum werden sollte, hatte das spürbare Auswirkungen. Im Blick auf die Kinder- und Jugendarbeit wollten wir unser Zentrum zu einem täglichen Anlaufpunkt machen. Wir wussten, dass wir ein „Zuhause für Kinder“ im Sinne eines offenen Kinder- und Jugendzentrums für den ganzen Stadtteil brauchten. Fast zwei Millionen Euro kostete der Um- und Neubau. Dafür haben wir unter anderem auch Gelder von „außerhalb“ erhalten. 

Das „Zuhause für Kinder“ stellt in Bremen mittlerweile eine Größe dar, die ernst genommen wird, wenn es um benach­teiligte Kinder geht. Die St. Matthäus-Gemeinde wird in einem Maße öffentlich wahrgenommen wie noch nie in ihrer Geschichte. Die großen Fernsehanstalten ARD, ZDF, RTL oder Sat1 waren alle mehrfach vor Ort. Auf regionaler Ebene berichten Presse, Funk und Fernsehen fast wöchentlich über die Arbeit. Das stellt in sich noch keinen Wert dar – aber öffentliche Wahrnehmung ist ein wichtiger Schritt zu öffentlicher Wirksamkeit.

Ob es einem gefällt oder nicht: Diese Leuchtturmfunktion in die Gesellschaft können nur große Gemeinden wahrnehmen. Sie haben die Chance, die positive Wahrnehmung kirchlicher Aktivität zu prägen – weit über ihre eigene Gemeinde hinaus. Sie können so auch für kleine Gemeinden ein wohlwollendes Umfeld bereiten. Das ist in einer zunehmend atheistisch ausgerichteten Gesellschaft eine wichtige Aufgabe.

Gemeinden mit einem starken Gemeindeleben wirken auch nach innen: Sie erhalten in übergemeindlichen, landeskirchlichen Abgeordnetenversammlungen nicht automatisch ein größeres Gewicht, aber ihr Standpunkt findet im viel­stim­mi­gen theologischen Konzert der kirchlichen Land­schaft deutlich mehr Beachtung.

 

 

Die Evangelische St. Matthäus-Gemeinde befindet sich im Bremer Stadtteil Huchting, einem sozialen Brennpunkt. Rund 50% der Einwohner sind Sozialhilfeempfänger. Um den Menschen zu dienen, hat sich die Gemeinde zu einem Begegnungszentrum entwickelt. 300 ehrenamtlich Mitar­­beitende engagieren sich und tragen Gottes Liebe in den Stadtteil, wie glaubenseröffnende Angebote, ein Lebenshilfe-Programm und das „Zuhause für Kinder“.

Gottesdienste und Kleingruppen

Ende der 90er Jahre wurde deutlich, dass der Gottesdienst nicht mehr den unterschiedlichen Lebensstilen der Besucher gerecht wurde. Zwei verschiedene Gottesdienste wurden durch die Impulse von Willow entwickelt: Der 10-Uhr-Gottesdienst aufgelockert-traditionell, der 12-Uhr-Gottesdienst moderner, mit Theaterstücken, Videoclips und Lobpreis­team. Identisch sind Predigt und multimediale Unterstützung. Rund 500 Personen besuchen die Gottesdienste. Während der Woche finden in Privathäusern etwa 45 Gesprächskreise statt.

Seelsorge

Durch das Angebot „Leben finden“ können Menschen mit unterschiedlichen Problemen Rat und Hilfe erfahren. Etwa 50 Personen nehmen dies z.Zt. in Anspruch. 14-tägig findet dazu ein Abend mit Essen, Musik, Vorträgen und Gesprächs­gruppen statt. In der dazwischen liegenden Woche trifft man sich in verschiedenen 12-Schritte-Gruppen, um gezielt an der eigenen Problematik zu arbeiten. Auch praktische Hilfe ist oft nötig. Ein hauptamtlich Angestellter ist für diese mobile Sozial- und Familienhilfe verantwortlich.

„Zuhause für Kinder“ 

2008 konnte für 2 Millionen Euro das „Zuhause für Kinder“ als offenes Kinder- und Jugendzentrum gebaut werden. Davon wurden 1,6 Millionen durch Spenden und Zuwendungen finanziert. 5.000 Stunden haben Gemeindeglieder ehrenamtlich beim Bau mitgeholfen. 2011 wurde das „Zuhause für Kinder“ mit einem Indoor-Spielplatz als einer der größten „Winterspielplätze“ Deutschlands erweitert. Es folgte der Bau eines großen Outdoor-Bewegungsspielplatzes, ebenso durch Spenden finanziert.

Zur Inneneinrichtung gehören u.a. eine Lernwerkstatt mit PC-Bereich, Hobbythek, Spiele- und Freizeitraum, eine Mehrzweckhalle sowie ein Kinder- und Elterncafé. Etwa 100 Kinder zwischen 0 und 14 Jahren nehmen nachmittags an dem kostenlosen Angebot teil. Den Indoorspielplatz am Vormittag besuchen 70 Kleinkinder in Begleitung eines Elternteils. Vier Hauptamtliche sind für das Projekt verantwortlich. Sie werden von 60 ehrenamtlichen Mitarbeitern unterstützt.

Im Stadtteil Huchting lebt jedes dritte Kind von Sozialhilfe. Die Matthäus-Gemeinde hilft u.a. durch Patenschaften, Kleidung, Möbel, Freizeitmaßnahmen. Müttern mit Migra-

­tionshintergrund wird Deutschunterricht angeboten. Kinder erhalten nachmittags kostenlose Zwischenmahl­zeiten. Im pädagogischen Kochstudio lernen die Kleinen, wie man kocht. Die kostenlose Hausaufgabenhilfe wird täglich in Anspruch genommen, ebenso Angebote zur musikalischen Weiterbildung.

Das „Zuhause für Kinder“ ist mit dem Deutschen Kinderpreis, dem Deutschen Bürgerpreis, als „Ausgezeichneter Ort“ sowie als „Bildungsidee“ von „Deutschland – Land der Ideen“ bundesweit ausgezeichnet worden. 2013 wurde die Matthäus-Gemeinde mit dem „Zuhause für Kinder“ zudem als Deutschlands Kirchengemeinde des Jahres geehrt.

Spenden 

Die finanziellen Mittel der Landeskirche decken nur noch Heiz-, Wasser- und Stromkosten der Gemeinde. Die gesamte Gemeindearbeit – von den Kopierkosten bis zur Kinder-, Jugend- und Erwachsenarbeit – wird allein durch Spenden der Gemeindemitglieder finanziert; darunter auch 4 ¼ Vollzeitkräfte.

Über die Mitgliederspenden hinaus hat die Gemeinde durch intensives Fundraising bereits mehr als 1 Million Euro von außerhalb erhalten. Dazu wurden viele Aktionen gestartet (Charity-Tage mit Radio- und TV-Unterstützung, Promi-Versteigerungen, SMS-Spenden, Gewinnung von Fir­men als Sponsoren, Spendenkampagnen, Benefiz-Konzerte, Gala-Essen usw.). Ein Beratungsstipendium von McKinsey half u.a. beim Aufbau der Sponsorengewinnung. Mit gleicher Zielsetzung läuft gerade ein Projekt mit der Uni Bremen, bei dem sich Studenten als beratende Modellagentur einbringen.