Es war meine persönliche Schlüsselszene für mein Verhältnis zu Willow Creek. Ein Besuch in der Gemeinde vor knapp zwei Jahren. Wir waren Teil einer Veranstaltung, mit der eine Reihe von „recovery groups“ gestartet wurden, Gruppen zur Gesundung von Menschen mit schweren seelischen Verletzungen und Problemen (1). Ein überschaubarer Raum, vielleicht 80 Personen. Vorn saßen fünf Menschen auf Barhockern, die ihre Geschichte erzählen würden: Jüngere, Ältere, Männer, Frauen, Schwarze und Weiße. Eine junge Frau ist mir in Erinnerung geblieben. Sie erzählte leise, kurz, ziemlich nüchtern: von ihrem Leben, der Gewalt zu Hause, den Übergriffen, dem Abrutschen in die Prostitution. Und sie erzählte, was diese Gemeinde ihr bedeutete, vor allem, was Jesus ihr bedeutete: Hier fand sie ihre Würde, erfuhr Respekt. Sie bekam Hoffnung und schaffte den Start in ein anderes Leben. Sie wolle den Gästen an diesem Abend eines sagen: Wir sind keine Heiligen, bei uns ist vieles drunter und drüber gegangen. Wir kennen viel von dem, was ihr gerade durchmacht. Nach dieser Einleitung begannen die Selbsthilfegruppen, für Menschen nach Scheidung, für Überschuldete, für ­Gewaltopfer, für Suchtkranke.

Willow Creek gilt als eine „Megachurch“, eine übergroße Gemeinde. Und die Zahlen können „erschlagen“: Etwa 24.000 Menschen besuchen an einem normalen Wochenende die verschiedenen Gottes­dienste. Allerdings fällt auf an dieser Megachurch: „Menschen zählen“, lautet ein Credo von Willow Creek. Auf die Einzelnen kommt es an. Das kann man bei aller Größe auch erleben, wenn man tiefer schaut. Im „mission statement“ der Gemeinde lautet der erste Satz: „Willow Creek Community Church was founded on this conviction: People matter to God; therefore they matter to us.“ (2)

Aber der Reihe nach: Was ist die Geschichte und das Konzept von Willow Creek?

1. Wie alles begann

Es gibt einen programmatischen Satz des Willow-Gründers und Leiters Bill Hybels: „The local church is the hope of the world.“  (3) Ein vollmundiger, auch nicht ganz unumstrittener Satz. Die Google-Suche danach ergibt 217 Millionen Treffer. Das ist selbst für Google-Verhältnisse viel! Hybels hat erzählt, wie diese Überzeugung hinsichtlich der Ortsgemeinde in ihm gewachsen ist (4).

Der 61-jährige wuchs in einer kirchlichen Unternehmerfamilie in Michigan auf (5). Die Zukunft als wohlhabender Obstgroßhändler war eigentlich vorherbestimmt; sein Verhältnis zum Gemeindeleben ziemlich unterkühlt. Er empfand das, was er in der Gemeinde erlebte, als langweilig, irrelevant, lebensfern, hoffnungslos (hopeless).

Das änderte sich, als er in Kontakt mit einer lebendigen Jugendarbeit kam: die South Park Church in Park Ridge. Jetzt lautete seine Überzeugung: „There is hope for the local church!” (Es gibt Hoffnung für die Ortsgemeinde). Er verzichtete auf das väterliche Unternehmen und studierte Theologie am Trinity College in Chicago. Dort infizierte ihn sein Dozent Dr. Gilbert Bilezikian („Dr. B.“) mit der Idee einer „Acts-2-Church“, einer Gemeinde, die sich an Apostel­geschichte 2 orientiert: Menschen voller Glauben, die verbindlich zusammenleben, deren Leben und Dienst andere anzieht, weil sie spüren, dass hier etwas Besonderes, Heilsames und Gutes zu erfahren ist. Warum sollte es das nicht auch heute geben, fragte Dr. B. seine Studenten. Und warum solltet ihr nicht Pastoren einer solchen Gemeinde werden? (6) 

Hybels trat 1971, mit gerade 20 Jahren, seine erste Stelle an, in Park Ridge. Er gründete die Jugendgruppe „Son City“, die in kurzer Zeit 1.000 Jugendliche anzog. Ihn bewegte damals schon die Frage: Warum kommen Menschen zur Kirche, und warum kommen sie gerade nicht zur Kirche? An diesem Punkt entwickelte sich der Ansatz, für den Willow Creek später berühmt werden sollte: Wenn wir Gottesdienst feiern, dann muss das, was da passiert, für Menschen nachvollziehbar und bedeutsam sein, und zwar zuerst für solche Menschen, die Glauben und Gemeinde noch fern­stehen. Nicht das Evangelium dürfen wir marktgerecht zuschneiden, aber unsere Ausdrucksformen, Musik, Sprache, unser Benehmen muss sich an möglichen Gästen orien­tieren, wenn wir unserer Mission gerecht werden wollen! Der Begriff des suchersensiblen Gottesdienstes („seeker-sensitve worship“) wurde später zum Markenzeichen von Willow Creek.

Dahinter steht das Bild vom kulturellen Graben. Das Hindernis für kirchenferne Menschen ist nicht die Botschaft vom Kreuz, sondern der kulturelle Graben. Sie verstehen unsere Sprache nicht, finden unsere Musik seltsam und unser Benehmen bizarr. Sie wissen nicht, wie man sich in der Kirche benimmt, erkennen nicht, was dieses Christliche mit ihrem Leben zu tun hat. Sie möchten nicht so seltsam werden wie diese Christen. Bill Hybels und seine Freunde lernten zu unter­scheiden zwischen der Verschlossenheit der Menschen für das Evangelium und ihrer Aversion gegen eine kirchliche Kultur, die sie nicht verstehen. Gegen das Erste kann nur der Heilige Geist etwas tun, gegen das Zweite müssen wir schon etwas tun, dachte sich der junge Pastor.

Aber noch gab es Willow Creek nicht, noch war Hybels Pastor einer kleinen Jugendkirche. Erst 1975 ging es los, in einem Kino namens „Willow Creek“. Um die Miete zu bezahlen, handelten Hybels und seine Mitstreiter mit Tomaten. Der Kino-Gottesdienst mit kleinen Theaterszenen, Bandmusik, wenig Liturgie und einer Predigt, die ein lebensrelevantes Thema von der Bibel her deutete, wuchs und wuchs (7). 1977 kamen schon 2.000 Menschen zum Gottesdienst.

Das ist bis heute das Herzstück. Eine evangelistische Leiden­schaft treibt diese Gemeinde an. Dieser Motor sorgt dafür, dass die gesamte Arbeit daran gemessen wird, ob es unreligiöse Menschen hindert oder fördert, einen Zugang zum Evangelium zu bekommen. Unkirchliche Menschen sollen anfangen, Christus nachzufolgen.

Als die Gemeinde merkte, dass das in erstaunlicher Weise gelang, ging sie den nächsten Schritt: 200 Mitarbeiter nahmen ein Darlehen auf und kauften ein Gelände. Dort, auf dem heutigen Campus, entstand 1981 das erste Gebäude. Dort ist die Gemeinde unter dem alten Namen geblieben. Dort wurde 2004 ein neues Gebäude errichtet, der größte Saal fasst 7.100 Menschen. Und 2012 entstand das Care Center für die sozialdiakonische Arbeit, gleich neben dem großen Auditorium. Diese architektonische Entscheidung ist auch eine theologische.

2. Lernbereit und flexibel

Der Gottesdienst wuchs auf 24.000 Menschen pro Wochen­ende. Und daraus entwickelte sich die typische Willow Creek-Gemeindearbeit. Damit bin ich bei meinem zweiten Sympathiepunkt für Willow Creek: Diese Gemeinde ist extrem lernbereit und flexibel. Sie scheut sich nicht, Fehler zuzugeben und Dinge über Bord zu werfen, die ihre Zeit hatten, aber jetzt nicht mehr der Mission der Gemeinde dienen. Krisen beim Führungspersonal ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Die Gemeinde hat keine Krise ausgelassen – und aus jeder gelernt. Nach 37 Jahren ist sie noch ungemein jung. Zugleich ernüchtert das angenehm: Auch diese Gemeinde hat erhebliche Fehler gemacht. Auch dort stellten sich teils heftige Krisen ein. 

3. Lernerfahrungen und Kurskorrekturen

1. Eine erste Krise kam relativ schnell: Die Gemeinde wuchs, aber das bedeutete auch: Das Ganze wurde sehr unpersönlich. Der Einzelne verschwand in der großen Menge. Viele Menschen wurden erreicht: die „unchurched Harrys and Marys“, die unkirchlichen Menschen im suburbanen Umfeld von Chicago. Aber sie wurden nicht wirklich verändert. Viele gingen auch wieder fort. Erst als Willow Creek ein Netzwerk von überschaubaren Kleingruppen schuf, änderte sich das. Seither gibt es auch in Willow Creek den typischen Zweiklang: Vollversammlung im Gottesdienst; persönliche Gemeinschaft in der Kleingruppe.

2. Identifiziert man große US-amerikanische Gemeinden­ zu schnell mit dem politisch stramm konservativen, sozial­ unsensiblen Lager, dann hat man bei vielen jüngeren evangelikalen Gemeinden nicht richtig hingeschaut (8). Jeder, der zum Gottesdienst kommt, soll sehen, dass es der Gemeinde um die Bekämpfung von Armut mit gleicher Leidenschaft geht. Und jeder, der zum Care Center kommt, soll sehen, dass diese Gemeinde leidenschaftlich gern Gott anbetet und auf sein Wort hört. Willow Creek hat einen starken seelsorglichen Arbeitszweig, ist aber auch der größte diakonische Dienstleister in der gesamten Umgebung!

Das Care Center umfasst eine Food Pantry („Tafel“), Rechtsberatung und Arbeitsvermittlung. Bei „Car Ministries“ bekommen mittellose Menschen eine Autoreparatur oder ein Auto. 12.000 Haushalte werden über das Care Center unterstützt, 100 Autos im Jahr repariert und kostenlos weitergegeben. Es gibt Partnerschaften mit sozial engagierten Kirchengemeinden im Großraum Chicago und weltweit.

Damit sind wir wieder bei dem theologisch erst etwas schwer verdaulichen Satz: „Die Ortsgemeinde ist die Hoffnung der Welt.“ Beim 35. Geburtstag 2010 sagte Bill Hybels sinngemäß: Christus hat einen zweiten Wohnsitz auf Erden. Gemeinde ist nach Dietrich Bonhoeffer „Christus als Gemeinde“. Lebt sie, wie es ihrem Wesen entspricht, entschieden für andere, wirkt also der Gekreuzigte und Auferstandene durch sie auf Erden, dann kann man diesen Satz so sagen. Man mag einwenden: Das kann auch zu Hochmut führen. Aber der Zusammenhang, in dem Hybels davon redet, ist eher der einer sehr wachsamen und mitfühlenden Wahrnehmung der sozialen Verhältnisse.

Das ist der dritte Grund meiner Sympathie für Willow Creek: Ihre Mission integriert aufrichtig und fachkundig Wort und Tat. Die Creeker sind fantasie- und taktvolle Evangelisten, mitfühlende, fachkundige und politisch auf­geklärte „Diakone“: eine seltene Verbindung.

3. Eine dritte Lernerfahrung erwuchs aus der Einsicht, eine sehr weiße, angelsächsische Mittelschichtgemeinde zu sein. Folglich hat die Gemeinde einen heftigen Umschwung vollzogen. Die Außenseite dieser Kehrtwendung: Auf der Bühne sollen stets alle Ethnien aus der Region vertreten sein, alle Altersgruppen, Frauen wie Männer. Dies setzt sich in der Mitarbeiterschaft und bei den Hauptamtlichen fort. In der – spanisch sprechenden – gottesdienstlichen Gemein­schaft von „casa de luz“ (Lichthaus) halten sich 60% der Gottesdienstbesucher illegal im Land auf.

4. Als Willow Creek merkte, dass etliche langjährige Gemeindeleute unzufrieden waren oder auch die Gemeinde verließen, gab sie eine externe Studie in Auftrag. Sie wollte wissen, was los ist (9). Die „REVEAL“-Studie zeigte: Viele Christen in der Gemeinde fühlen sich unterfordert. Sie möchten geistlich wachsen und haben das Gefühl, das in der Gemeinde nicht zu können und nicht genug unterstützt zu werden.

Daraufhin entwickelte Willow ein Bildungsziel für Christen. Menschen kommen als Suchende, sie erkunden den Glauben und wagen erste Schritte in der Nachfolge. Menschen leben als Christen, aber der Glaube durchdringt nicht alle Lebensbereiche. Das aber wäre das Ziel: ein christuszentriertes Leben, in dem der Glaube im Zentrum steht und alles heilsam und förderlich durchdringt. Faszinierend ist hier das Bestreben, dass die Glaubenden wachsen können, das sie nicht Kleinkinder im Glauben bleiben, sondern mündige Töchter und Söhne Gottes werden.

Willow hat daraus Konsequenzen gezogen und ein paar heilige Kühe geschlachtet. Lange gab es einen Gemeinde­gottesdienst in der Mitte der Woche und einen suchersensiblen Gottesdienst am Wochenende. Nun wurde der Gottes­dienst in der Wochenmitte ersetzt durch eine Vielzahl gemeindepädagogischer Lernorte, Angebote, in einem Bereich vertiefte Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben. Im Wochenendgottesdienst wurden Möglichkeiten zur Beteiligung erweitert und vermehrt auch Themen der Glaubens­vertiefung und des Lebens in der Nachfolge integriert (10).

5. Ähnlich die Entscheidung, das Leben in der Nachbarschaft stärker in den Blick zu nehmen. Die Siedlungsstruktur im Großraum Chicago ist weiträumig. Ohne Auto kommt man nirgendwo hin. Je größer die Gemeinde, desto größer auch die Entfernungen für die Gemeindemitglieder. Willow Creek sah auch hier Grenzen des Wachstums. Dazu fanden die Verantwortlichen es wichtig, dass Christen ihr Leben mit ihren Nachbarn teilen und dort, wo sie leben, Gemeinde erleben. Also begründete Willow fünf regionale Tochtergemeinden, mit eigenen Mitarbeiterteams, eigenen Gottesdiensten (meist mit Predigt aus der Zentrale über Video) und eigenem Gemeindeleben, durchaus mit der ­Absicht, diesen Prozess der Tochtergründungen zu vervielfältigen. Niemand sollte mehr als 30 Minuten zur Kirche fahren müssen!

6. Bekannt war Willow Creek auch stets für sein „Promiseland“-Konzept, einen erlebnisstarken Kindergottes­dienst für 2.500 Kinder an jedem Wochenende. Die Ent­deckung hier: Zwar war Promiseland mit seiner Spielstraße, der kindgerechten Worship-Zeit und den festen Kleingruppen wirklich ein Highlight für die Kinder. Aber Promiseland war nicht mit dem Leben in der Woche und der Familie verknüpft. Das Konzept, noch einmal komplett überdacht, heißt nun: Orange! Orange ist die Farbe, die aus „Gelb“ (das Licht der Gemeinde) und „Rot“ (die Liebe der Familie) entsteht. Wenn Kindergottesdienstmitarbeiter „orange“ denken, dann versuchen sie, die Verantwortung der Eltern zu stärken und ihnen Hilfen zu geben, auch zu Hause mit den Kindern den Glauben zu erkunden und Glauben zu leben: etwa durch kleine Rituale, die im Kindergottesdienst wurzeln und zu Hause fortgesetzt werden  (11).

So viel zu Geschichte, Idee und Entwicklungen bei Willow Creek.

 

(1) www.willowcreek.org/recovery – am 10. März 2013

(2) www.willowcreek.org/beliefs – am 9. März 2013. Deutsch (Übersetzung M. Herbst): „Die Willow Creek Gemeindekirche wurde auf der Basis dieser Überzeugung gegründet: Menschen zählen bei Gott, und darum sind sie für uns wichtig!“

(3) Bill Hybels 2002, 15. 

(4) Vgl. Predigt zum „36th Anniversary“ am 16. November 2011. Vgl. auch: media.willowcreek.org/weekend/36th-anniversary – aufgesucht am 8. März 2013. Und: Lynne Hybels und Bill Hybels 1996.

(5) Vgl. en.wikipedia.org/wiki/Bill_Hybels – am 9. März 2013; vgl. auch „den Klassiker“ zur Geschichte von Willow Creek: ibid.

(6) Vgl. www.kfg.org/download/artikel/plock-willowcreek_e.pdf – am 10. März 2013.

(7) Vgl. en.wikipedia.org/wiki/Bill_Hybels – am 9. März 2013: „Willow Creek Community Church has become well known as the prototypical mega­church, with contemporary worship, drama and messages focused toward both Christians and those exploring the Christian faith.“

(8) Vgl. Marcia Pally 2010.

(9) Vgl. Greg L. Hawkins und Cally Parkinson 2007; Greg L. Hawkins und Cally Parkinson 2009.

(10) Vgl. en.wikipedia.org/wiki/Bill_Hybels – am 9. März 2013: „Willow Creek‘s three weekend services were more ‚seeker sensitive’, but have now become less so, since the ‚Reveal Study’ which showed members desiring a deeper dive focused on scripture and spiritual growth. Most recently (September 2011), Willow brought an even deeper dive into scripture by promoting Shane Farmer as Discipleship Director, and having him lead the Mid-week experience, meeting on Wednesday evenings.“

(11) Vgl. Karsten Böhm und Jonathan Rauer 2013. Oliver Ahlbrecht von Willow Creek Deutschland beschreibt das so: Aus „der schönsten Stunde der Woche“ bei Promiseland wurde „partnering with parents to create a faith that sticks“.