Ein Mann mit einem großen Herzen für seine Mitmenschen und ein offenes Haus stehen am Anfang dieser Geschichte einer stark wachsenden sozialen Organisation. Heute, zwölf Jahre später, bietet der Verein im schweizerischen Olten, die WG Treffpunkt, mehr als 80 Tagesstätten und berufliche Integrationsplätze sowie weitere rund 90 stationäre Wohnplätze in sieben Häusern an. Mehr als 110 Mitarbeitende sind aktiv in Kinder- und Jugendwohngruppen; in stationären oder ambulanten Angeboten für Erwachsene mit psychischen Erkrankungen; in inte­grativen Arbeitsangeboten, die zugleich unter eigenem Label innovative Produkte auf den Markt bringen. Was sind die Grundlagen dieses Wachstums? Volkhard Michel hat sich auf Spurensuche gemacht.

Im Treffpunkt für ausländische Jugendliche, angeboten von der Freien Evangelischen Gemeinde Olten (Schweiz), kam Kurt Widmer vor zwölf Jahren mit Menschen in Kontakt, die nicht nur Gesprächspartner suchten, sondern auch Wohngelegenheiten. Widmer leitete diese Arbeit ehrenamtlich, mit einem besonderen Blick für das Potenzial, das Gott in jeden Menschen gelegt hat. Er nahm sie an, wie sie waren – vorbehaltslos. Brauchten sie einen Schlafplatz, nahm er sie mit zu sich nach Hause. Er hatte damals keine konkreten Ziele, geschweige denn Startkapital für ein Projekt. Aber dann kamen immer mehr Gäste zu Widmers, und irgendwann konnte es so nicht mehr weiter gehen – musste der Familienvater doch auch Rücksicht auf seine Frau und drei eigene Kinder nehmen. Er suchte nach einem Gebäude, in dem er Menschen in Not unter­bringen konnte. Und wurde fündig. 

Business-Plan auf Notizpapier

Der Bankangestellte, den Widmer kurz darauf aufsuchte, konnte nicht glauben, was er hörte, und lud den außergewöhnlichen Kunden gleich drei Mal zu einem zweistündigen Gespräch ein, um sich dessen Idee wieder und wieder schildern zu lassen. Gleichzeitig faszinierte ihn dieser Mann, der ihn mit einer handgeschriebenen Kalkulation auf Notizpapier und einer großen Vision im Herzen zu überzeugen versuchte. Nicht nur, dass er seinen Job an den Nagel hängen wollte, um Menschen in Schwierigkeiten zu betreuen – er wollte das in einem großen Gebäude mit zwölf Zimmern und Gewerberäumen tun, für das er eine Finanzierung brauchte. Zwar besaß er Eigenkapital – aber auch das war von einem Freund geliehen.

Seine Begeisterung jedenfalls war ansteckend und größer als jede Skepsis: Kurt Widmer bekam seine dringend benötigten Finanzmittel. Das Haus wurde gekauft, die Wohngemeinschaft Treffpunkt – kurz: ›WG Treffpunkt‹ – startete 2004. In den ersten Jahren wurde die Arbeit geradezu übernatürlich versorgt: An jedem Tag war letztlich alles vorhanden, was zum Leben und Wachsen nötig war. Dennoch war die Zeit nicht leicht. Oft trug der WG-Gründer sich mit dem Gedanken, aufzugeben. In solchen Momenten kam unerwartet viel Ermutigung. Kurt Widmer erinnert sich an eine besonders amüsante Episode: »Wir hatten leider kein Geld für ein Dienstfahrzeug. In einem Einkaufszentrum bemerkte ich einen Wettbewerb – mit einem idealen Auto als 1. Preis. Im Zwiegespräch mit Gott wurde mir klar, dass ich mitmachen sollte. Zwei Wochen später erhielt ich einen Brief vom Einkaufszentrum. In Gedanken gehörte das Auto schon uns. Ich las: ›Sie gehören zu den glücklichen Gewinnern. Sie haben ein Fahrrad gewonnen!‹ Als ich unser erstes Betriebsfahrzeug abholte, war mir klar: Gott hat Humor!«

Sicherheiten loslassen

Während einer schweren finanziellen Krise 2006 lernte Widmer Michael Häfeli kennen, der kurz vor dem Abschluss seines Betriebswirtschaftslehre-Studiums stand. Eigentlich mit ganz anderen Plänen im Kopf, ließ sich Häfeli von dem gelernten Landwirt und Sozialpädagogen Widmer als Geschäftsführer anwerben – mit Vertragsbedingungen, bei denen andere Berufseinsteiger fluchtartig den Raum verlassen hätten. »Ich kann dich nicht gut bezahlen«, sagte Widmer, »und dir höchstens eine halbe Stelle bieten. Und dann musst du selbst sehen, wie du dein Geld verdienst«. Häfeli sagte zu. Diese Entscheidung sollte sein Leben auf den Kopf stellen.

Der junge Fachhochschul-Absolvent kam zum richtigen Zeitpunkt als Geschäftsführer an Bord, denn nun wurden auch die Behörden auf die ›WG Treffpunkt‹ aufmerksam. Im Herbst 2006 wurde der Antrag auf die Führung einer Wohngemeinschaft mit zwölf Plätzen offiziell bewilligt. Heute, zehn Jahre später, sind sieben Betreuungszentren offiziell zertifiziert. Die meisten Bewohner leben mehrere Jahre in den Wohngruppen. ›WG Treffpunkt‹ fördert sie, schafft Tagesstrukturen und individuell angepasste Arbeitsmöglichkeiten. Hauptsächlich betreut der Verein Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung. Doch auch der ›Christhof‹, ein Kinderheim und eine Jugendwohngruppe sind seit 2016 in die Vereinsarbeit integriert. Ambulante Betreuungsangebote runden das Hilfsangebot ab.

Das Schönste fur uns ist, wenn ein Mensch sich in seinen Möglichkeiten entfalten kann.

»Das Schönste für uns ist mitzuerleben, wenn Menschen sich in ihrer Persönlichkeit entfalten«, erzählt Michael Häfeli. »Es gibt Beispiele, dass eine begeisterte Sozialpädagogin heute in demselben Wohnheim arbeitet, in dem sie einen großen Teil ihrer eigenen Kindheit verbracht hat. Ein anderer hat heute einen Beruf, eine Familie und ein Leben voller Freude, nachdem er eine tiefe Lebenskrise und eine schwere Depression in der Wohngemeinschaft durch viele Gespräche und gute Betreuung erfolgreich bewältigen konnte. Von vielen solcher Lebensführungen können wir berichten, aber oft muss man sich auch an kleinen Schritten erfreuen und mit Rückschlägen leben lernen.«

 

Chancen entdecken 

»Jeder Mensch soll angenommen sein und sein Potenzial entfalten – gerade auch die Menschen, die im gesellschaftlichen Abseits stehen.« Dieses Leitmotiv von Kurt Widmer prägt die Arbeit bis heute. Selbst in Phasen starken Wachstums zählt immer der einzelne Mensch. Er soll seine Möglichkeiten entdecken und nutzen, charakterlich wachsen, Verantwortung für sein Handeln übernehmen. All dies können die Menschen später auch in ihren Beruf und ihre Berufung mit hinein nehmen: etwa, indem sie kreative Dienstleistungen entwickeln oder außergewöhnliche Produkte. »Mittlerweile bieten wir Angebote unter eigenem Label an«, sagt Michael Häfeli. Dazu gehören das Alphorn aus dem Jura, eine Stofftier-Produktion, die eigene Entwürfe der Kinder realisiert oder das Bloomell Coffeehouse, ein selbständiges Unternehmen mit eigener Kultur und Vision. Immer wieder wagten Widmer und Häfeli mutige Schritte und legten starke Fundamente für die Zukunft der sozialen Organisation. 

Eine starre Strategie gibt es bis heute nicht; auch Projekte oder Immobilien haben die beiden nie aktiv angefragt. So leben Widmer und Häfeli in gewisser Weise aus dem Momentheraus und danken Gott für alles, was er ihnen anvertraut – ob neue Vorhaben, nötige Häuser oder die Menschen, die in ihnen leben oder arbeiten. 

Gesellschaft prägen

Aus dem Moment heraus zu leben und spontan zu agieren, hat hier viele Facetten. Ein Beispiel: In Olten, wo die ›WG Treffpunkt‹ einen Teil ihrer Angebote und Zielgruppen hat, entsteht gerade ein neuer Stadtteil mit rund 2.500 Wohnungen und Gewerbeflächen. Es zeugt vom guten Ruf der ›WG Treffpunkt‹, dass der Eigentümer des Großprojekts auf Widmer und Häfeli vor Baubeginn zuging mit der Frage, ob sie bei dem städtebaulichen Projekt mitwirken möchten. So bekamen sie die Möglichkeit, neu entstehende Gewerbeflächen für den Verein anzumieten und mitzugestalten – allerdings bei einer Mindest-Mietdauer von fünf Jahren. »Wieder einmal war der Entscheidungshorizont mit wenigen Tagen eng gesetzt«, so Michael Häfeli. »Wir waren überhaupt nicht vorbereitet, hatten bestenfalls vage Vorstellungen, welche Gesamtkosten auf uns zukommen würden.« Doch Widmer und Häfeli wussten, dass erneut die Zeit für ein schnelles, mutiges Ja gekommen war. So eröffneten sie in dem Quartier das Bloomell Coffeehouse. »Es ist eine Brücke zu den Menschen, zu denen wir dort Beziehungen aufbauen wollen«, erklärt Häfeli. Gleichzeitig wird nun im Quartier eine neue Anlauf- und Koordinationsstelle des Vereins aufgebaut, der auch einen sozial- und medizinischen Dienst beheimatet. ›WG Treffpunkt‹ ist damit mittendrin im neuen Teil der Stadt – und kann aktiv mitgestalten.

Gemeinsamkeit schafft mehr Kräfte für Veränderung.

Willows Spuren

Willow Creek hat zur Entwicklung der Arbeit in Olten wichtige Impulse beigesteuert. »Bill Hybels hat mir persönlich, durch Vorträge und Bücher, in den letzten Jahren die Augen geöffnet«, erzählt Häfeli. »Es war schmerzhaft zu erkennen, dass ich von Menschenführung so gut wie nichts verstanden habe – trotz meiner Ausbildung und der bisherigen Führungsposition. Heute führe ich mir diese Verantwortung jeden Tag sehr bewusst vor Augen.« In der ›WG Treffpunkt‹ weiß man: Wo Leiter sich entwickeln und Verantwortung übernehmen, da entsteht viel Gutes.

Der Besuch des ›Leadership Summit‹ vor zwei Jahren in Chicago hat Häfeli so bereichert, dass er in diesem Jahr erneut daran teilnahm – und eine 13-köpfige Führungscrew der ›WG Treffpunkt‹ gleich mit. Die Gruppe ließ sich besonders vom Besuch des ›Willow Care Centers‹ inspirieren. Auch der Umgang mit den rund 2.500 Ehrenamtlichen allein im Care Center hinterlässt Spuren: »Sie motivieren Menschen im großen Stil, ihre wertvolle Freizeit und Kompetenzen in die Arbeit einzubringen. Mir war wichtig, dass unsere Führungscrew das mit eigenen Augen sieht«, so Häfeli. Davon will man in der Schweiz profitieren: Derzeit hat der Aufbau einer professionellen Ehrenamtlichen-Arbeit einen hohen Stellenwert, um die Angebote weiter auszubauen. 

Zukunftspläne

Ist die ›WG Treffpunkt‹ mit all diesen beeindruckenden Entwicklungen der letzten Jahre ein erfolgreiches, ›frommes Startup Unternehmen?‹ Die beiden ›Projektväter‹ zögern. So recht gefällt ihnen der Begriff nicht. »Wir sind überzeugt, dass es Gottes Wille war, die WG Treffpunkt ins Leben zu rufen. Er hat die richtigen Menschen zusammen gebracht, die sich mit Leidenschaft und langem Atem in die Aufgaben investieren. Wir haben unser Bestes gegeben und uns weiterentwickelt. Das Wachstum aber hat Gott geschenkt.«

Kurt Widmer und Michael Häfeli leben ihren Traum mutig und unbekümmert, ohne dabei verantwortungslos zu sein. Ängste, zu hohe Ansprüche oder andere Barrieren haben sie nie daran gehindert, den nächsten großen Schritt zu wagen. In der ›WG Treffpunkt‹ geschieht das Neue, das Wachstum, die Innovation nicht in Mini-Schritten über einen ermüdend langen Zeitraum hinweg. Hier denken und handeln Christen großdimensioniert und aus ihrem Glauben heraus, weil sie einen mächtigen Gott hinter ihrer Arbeit wissen.

Die Vision bis 2020 für die ›WG Treffpunkt‹ ist ein Netz, das trägt: in dem Menschen geholfen wird und in dem sie sich entwickeln können. Darum stecken Widmer und Häfeli viel Energie in eine ganzheitliche Vernetzung von sozialen Strukturen, Wirtschaft, Kirche, Gesellschaft und Kultur. Gemeinsamkeit schafft mehr Kräfte für Veränderung, schafft Synergien und gibt gleichzeitig dem Einzelnen die Möglichkeit, individuelle Kompetenz bestmöglich zu nutzen. »Lass Sachen los, die du nicht kannst«, rät Häfeli, »konzentriere dich auf deine Stärken und bau sie aus. Überlass‘ das, was du nicht kannst, den anderen die es können. Und dann mach aus deinen Gaben das Allerbeste!«