125 Personen besuchten am 12. Oktober 1975 den ersten Gottesdienst der Willow Creek-Gemeinde in einem gemieteten Kino in Palatine, Illinois. 42 Jahre später zählt Willow Creek 25.000 Menschen an acht Standorten im Großraum Chicago. Großen Anteil an der rasanten Entwicklung der Gemeinde hat zweifelsohne ihr damals 23-jähriger Gründungspastor Bill Hybels. Geprägt wurde er von zwei Männern: von Harold Hybels, seinem Vater, und Dr. Gilbert Bilezikian, seinem Professor im Theologiestudium.

HAROLD HYBELS

Von seinem Vater Harold Hybels war Bill darauf vorbereitet worden, mit in das Familienunternehmen – eine erfolgreiche Gemüsegroßhandlung in Michigan – einzusteigen. Diesen vorgezeichneten Lebensentwurf stellte Bill lange nicht in Frage. Boote, Flugzeuge und schnelle Autos hatten große Anziehungskraft auf ihn. Aber er liebte auch das Risiko, das Abenteuer und das Gefühl, auf der Siegerseite zu stehen. Der wichtigste Grund für den Einstieg ins Familienunternehmen war allerdings die tiefe Liebe seines Vaters. »Er hat an mich geglaubt«, sagt Bill, »und mir vermittelt, dass es nichts gibt, das ich nicht erreichen kann.«

Sein Vater war der geborene Unternehmer. Die Firmenleitung lag ihm ebenso sehr wie das Segeln auf dem Atlantik. Harold Hybels bereitete seinen Sohn in einer unorthodoxen Art auf die Übernahme der Firma vor. Schon in der ersten Klasse konnte Bill die Kleinlaster der Firma fahren. In der fünften Klasse schickte sein Vater ihn mit dem Zug nach Aspen, Colorado zum Skifahren. Ganz allein. Dabei vergaß er allerdings zu erwähnen, dass der Zug nicht direkt in Aspen hielt, sondern in einer Stadt rund 30 Kilometer entfernt. Von der Zugfahrt ist dann folgende Unterhaltung zwischen dem 11-jährigen Bill und dem Zugbegleiter überliefert: Zugbegleiter: »Dieser Zug hält nicht in Aspen.« Bill: »Das hat mein Vater aber gesagt.« Zugbegleiter: »Das hier ist der nächstgelegene Bahnhof. Bis Aspen geht es nicht.« Bill: »Und wie komme ich nach Aspen?« Zubegleiter: »Das ist dein Problem.«

»Er hat mich ständig vor Herausforderungen gestellt.«

Mit 15 reiste er allein durch Afrika und Europa. In Nigeria ging ihm das Geld aus und sein Vater schickte ihm ›Nachschub‹ – wenn auch nicht sofort. Auch in den alltäglichen Kleinigkeiten forderte und förderte der Vater den Sohn. Als Bill in der vierten Klasse war, bat ihn sein Vater, einen Wagen mit einer Lieferung auszuladen. Bill sagte: »Papa, das sind 500 Kartons.« Sein Vater antwortete: »Na und? Du musst ja nicht alle auf einmal ausladen. Immer einen nach dem anderen.« Dieses Verhalten mag rücksichtslos erscheinen. Für Bill war es aber eine Herausforderung, der er sich stellte und durch die er viel lernte: Selbstwertgefühl,Überlebensfähigkeiten, keine Angst vor dem Unbekannten und Risiko. »Er hat mich ständig vor Herausforderungen gestellt. Das war wie ein Spiel zwischen uns«, erzählt Bill.

Bekehrung

Mit 17 traf Bill bei einem Awana-Camp der Vers aus Titus 3,5: »Er rettete uns – nicht weil wir etwas geleistet hätten, womit wir seine Liebe verdienten, sondern aus lauter Güte.« – »Der Gedanke, dass die Errettung ein Geschenk ist und ihren Grund in der Liebe des Vaters hat, hat bei mir eingeschlagen wie eine Bombe. Ich habe gedacht: ›Das ist einfach zu schön, um wahr zu sein. Wenn das wirklich stimmt, dann gibt es auf der Welt nichts Größeres.«

In der Reformierten Kirche, in der er aufgewachsen war, trafen sich 50 hart arbeitende Menschen mit holländischen Wurzeln jeden Sonntag in einer alten Schule. Diese Gemeinde hatte ihn vieles gelehrt: den hohen Stellenwert der Bibel, die Wichtigkeit von Familie, Arbeit und Integrität. Aber dass Jesus aus lauter Liebe rettet, das hatte er nicht gelernt. Und diese Botschaft von der bedingungslosen Liebe Gottes revolutionierte sein Leben. Er bezeugte seinen Glauben vor anderen. Er wollte Fremde mit zum Gottesdienst bringen – sogar Nicht-Holländer! In der Zeit verspürte er den Ruf in den Gemeindedienst. Und hier begann in ihm der Kampf zwischen den Wünschen seiner beiden Väter – seines leiblichen und des himmlischen: Firma oder Gemeinde?

Mit 18 nahm ihn der Leiter des Awana-Jugendcamps in Chicago beiseite und stellte Bill eine Frage, die dieser niemals wieder vergaß: »Bill, wie willst du dein Leben so führen, dass etwas bleibt für die Ewigkeit?« Durch diese Frage erkannte Bill, dass er im ›Hier und Jetzt‹ lebte. Geld, materieller Reichtum und vor allem der fast alles beherrschende Gedanke von Erfolg – das war sein Leben. Er ging aufs College, allerdings mit dem Plan, danach ins elterliche Unternehmen zurückzukehren. Nach zwei Jahren war ihm langweilig und er reiste für acht Wochen durch Südamerika. Bei einem Essen in einem Restaurant an der Copacabana, damals ein angesagter Ort für den Jetset, fragte er sich: »Stillt diese Reise wirklich die Sehnsucht meiner Seele?« Er hörte die Unterhaltung eines älteren Ehepaares am Nebentisch: »All die Jahre harter Arbeit haben sich wirklich gelohnt. Jetzt können wir hier sitzen und diesen Abend einfach nur genießen.« Bill erschrak. Sollte das alles sein, auf das er sich freuen konnte: Jahrzehnte harter Arbeit, damit er sich eines Tage ein Essen in einem Restaurant an der Copacabana leisten konnte? Das erschien ihm absurd. Er ging in sein Hotelzimmer, fiel auf die Knie und betete: »Gott, es muss im Leben doch mehr geben.« Dieses Erlebnis hat er nie wieder vergessen.

Dienst

Zurück in den USA stieg er wieder ins Familienunternehmen ein, allerdings nicht sehr lange. Er war unruhig. Das Gefühl, dass Gott ihn zu etwas anderem berufen hatte, ließ ihn nicht los. Bald ließ dieser Ruf sich nicht mehr unterdrücken. Er sagte seinem Vater, dass er das Unternehmen verlassen und in den Gemeindedienst gehen wolle. »Das war sehr schwer für ihn«, beschreibt Bill die Reaktion seines Vaters, der auch Christ war. Trotzdem ließ er seinen Sohn ziehen. Bill ging mit zwei Freunden, die er aus dem Awana-Camp kannte, nach Chicago und begann seinen ersten Kampf an der ›geistlichen Front‹ – mit einem schlecht bezahlten Job in der Versandabteilung der Awana-Jugendorganisation. Nach einigen Monaten kam sein Vater zu Besuch. »Er kam mit dem eigenen Flugzeug und besuchte mich, als ich gerade mit zwei Frauen mittleren Alters kleine Preise in Zellophantüten verpackte«, erinnert sich Bill. Er schaute seinen Sohn an, für den er so große Pläne gehabt hatte. Die beiden gingen essen, und sein Vater bot ihm an, ihn direkt nach Hause zurückzufliegen. Die Antwort, die Bill dann gab, war einer der Wendepunkte in seinem Leben. Er schaute ihm direkt in die Augen und sagte: »Papa, ich bin glücklich.« Sein Vater ging – und Bill kehrte zurück zu seinem Job in der Versandabteilung. Während er weiter kleine Preise in kleine Zellophantüten steckte, hatte er das Gefühl, dass soeben ein großes Abenteuer begonnen hatte. Der Ruf Gottes war unmissverständlich.

DR. GILBERT BILEZIKIAN

Herbst 1972. Am Deerfield College hörte der 20-jährige Bill Hybels gebannt zu, wie sein Professor für Neues Testament die Urgemeinde in Apostelgeschichte Kapitel 2 beschrieb. Mit seinem französischen Akzent schwärmte der in Paris geborene Dr. Gilbert Bilezikian von einer Gemeinschaft von Christen, in der radikal geliebt und authentisch gemeinsames Leben gestaltet wurde. Seine Vision brachte in Hybels etwas zum Klingen. »Er beschrieb genau die Art von Gemeinde, in die ich meine Freunde gerne einladen würde«, erzählt Bill, »eine Gemeinde, in der die Liebe Gottes ganz konkret gelebt wird. Die Schönheit dieses Bildes hat mich im Innersten berührt.« Dr. B. – so wird der heute 90-Jährige liebevoll genannt – beendete den Unterricht mit einer herausfordernden Frage: »Ist so eine Gemeinde nach Apostelgeschichte 2 auch heute möglich?«

»Der Traum war geboren.«

»Ich ging zu meinem Auto, legte meinen Kopf auf das Lenkrad und weinte«, erinnert sich Bill. »Der Traum war geboren: Zu so einer Gemeinde wollte ich gerne gehören.« Damals leitete er gemeinsam mit einigen Freunden eine Schülergruppe. Als sie die von Dr. B. erklärten Prinzipien hier anwandten, kam es zu einem explosionsartigen Wachstum. »Es war unglaublich«, sagt Bill. »Schüler kamen zum Glauben, ihr Leben veränderte sich und sie zeigten genau diese Liebe, die im 2. Kapitel der Apostelgeschichte beschrieben wird.«

»In den folgenden Monaten haben Dr. B. und ich viele Gespräche geführt. Eines davon ist mir in besonderer Erinnerung geblieben. Wir saßen bei ihm zu Hause im Garten. Ich fragte ihn: ›Wenn diese Prinzipien der Urgemeinde doch direkt aus der Bibel sind, sind sie doch allgemein gültige Wahrheiten und beschreiben, wie Gott sich das Leben in der Nachfolge Jesu vorstellt. Und wenn das so ist, kann man sie doch sicherlich nicht nur auf Schüler, sondern auch auf Erwachsene und eine ganze Gemeinde anwenden.‹ Dr. B. gab mir recht, und ich wusste, dass Gott mich auf einen Weg schickt, auf dem ich – unter seiner Führung – solch eine Gemeinde bauen sollte.«

Dr. B. erinnert sich: »Vor 42 Jahren entstand in dem College-Hörsaal eine besondere Verbindung zwischen diesem jungen Studenten, der eine große Zukunft im Familienunternehmen vor sich hatte, und mir, einem Dozenten mit europäischen Wurzeln und schon leicht eingefahrenen Vorlesungen. Bill war ein Freigeist, abenteuerlustig und risikofreudig. Er war leidenschaftlicher Sportler: Segeln, Fliegen, Autorennen und Motorradfahren gehörten zu seinem Repertoire. Und ich – der Professor – war ein Bücherwurm, der eine Familie mit vier temperamentvollen Kindern durchbringen musste, und dessen Vorstellung von Abenteuer sich mit dem Rückzug in einen der College-Leseräume erschöpfte.«

»Aber zwischen diesem ungleichen Paar entstand eine Verbindung, die unser beider Leben veränderte«, erzählt Dr. B. »Bill ließ sich von einer Vorlesung mitreißen, die seine Kommilitonen völlig unberührt ließ. Er nahm die Vision von Apostelgeschichte 2 auf, die auch mich einige Jahre zuvor in ihren Bann gezogen hatte. Und er ließ nicht mehr locker. Wir haben uns ernsthaft bemüht, diese Gemeinschaft der Einheit zu bauen, die wir in diesem Kapitel der Bibel vor Augen gemalt bekommen, und Gott hat unser menschliches Bemühen gesegnet.«