Blaine Hogan war 10 Jahre lang einer von drei ›Creative Directors‹ in der Willow Creek-Gemeinde. Seine Aufgabe bestand darin, gemeinsam mit einem Team aus Schauspielern, Musikern, Filmemachern, Technikern und Bühnenbildnern kreative Momente für die Gottesdienste zu entwickeln, die Menschen nicht nur auf der Verstandes-Ebene ansprechen. Der gelernte Schauspieler, der unter anderem in der US-Gefangenen-Serie ›PRISON BREAK‹ auftrat, war einer der Sprecher beim Youngster-Kongress 2019 in Erfurt. Im Interview erläutert er die besondere Rolle, die ein ›Kreativdirektor‹ bei der Gottesdienstplanung einnimmt.

Blaine, nach zehn Jahren als ›Creative Director‹ in der Willow Creek-Gemeinde hast du dich entschlossen, freiberuflich als Regisseur zu arbeiten. Wie sieht das Anforderungsprofil für deinen Nachfolger aus?

Blaine Hogan: Die Person sollte einen ausgeprägten künstlerischen Blickwinkel mitbringen. Den erhält man zum Beispiel durch ein Studium im musischen Bereich oder durch eine Ausbildung in kreativen Fächern wie Regie, Video, Design. Aber auch eine geistliche Sensibilität ist wichtig. Ein ›Creative Director‹ muss ein Gespür dafür haben, wo eine Gemeinde gerade steht, wohin sie geführt werden soll und für welche Art von Beiträgen sie empfänglich ist.

Das klingt nach einer Leitungsrolle.

Ist es auch. Nicht zu vergessen: Ein ›Creative Director‹ darf auch kein zu großes Ego haben.

Ist diese Mischung nicht sehr ungewöhnlich? Ein Kreativkopf mit Leitungsgabe, geistlicher Sensibilität und obendrein einer Zurückhaltung, was das eigene Ego betrifft? Viele Künstler lieben das Rampenlicht …

Natürlich. Deshalb muss man bei der Auswahl dieser Position auch sehr sorgfältig vorgehen. Was das Ego betrifft: Bei Willow arbeiten wir immer in Teams. Es kommt sehr selten vor, dass jemand eine Idee hat, die wir eins zu eins umsetzen. In der Regel feilen wir immer gemeinsam an den künstlerischen Beiträgen unserer Gottesdienste. Wer Zusammenarbeit nicht mag, wird hier nicht glücklich. Bevor ich neue Leute ins Team geholt habe, habe ich mich immer auch danach erkundigt, ob die Person einen geistlichen Mentor oder Therapeuten hat.

Einen Therapeuten?

Ja. Man darf nicht vergessen: Diese Menschen haben auf der Bühne eine sehr exponierte Rolle. Da ist die Gefahr groß, dass man die Bodenhaftung verliert oder seine unverarbeitete Vergangenheit mit auf die Bühne bringt. Gerade bei Künstlern ist es wichtig, dass man sich der eigenen Vergangenheit stellt und Verhaltensmuster hinterfragt, die unreif oder destruktiv sind.

Welche Erfahrung hast du selbst damit gemacht?

Als ich bei Willow als ›Creative Director‹ anfing, war ich sehr schnodderig, trat vielen Leuten oft auf den Schlips. Matt Lundgren, einer der Worship­Leiter, schaute sich das eine Weile an. Dann nahm er mich beiseite und sagte: »Blaine, ich glaube, dass dein Charakter noch nicht den Level deiner Kompetenz erreicht hat.« Nie zuvor hatte mich jemand so direkt auf mein Verhalten angesprochen. Es war das unangenehmste Gespräch, das ich je geführt habe. Auch für Matt war das nicht leicht. Seitdem habe ich viel Zeit damit verbracht, an mir selbst zu arbeiten, wurde von Therapeuten und geistlichen Mentoren begleitet. Denn ich möchte ein besserer Mensch werden. In dem Prozess habe ich festgestellt: Wenn ich ein besserer Mensch werde, produziere ich auch bessere Kunst! Dieser Satz ist für mich zu einem Lebensmotto geworden: Bessere Menschen – bessere Kunst. Ein hoher Anspruch. In der Praxis läuft es oft anders: Gemeinden suchen händeringend nach Kreativen. Die Versuchung ist groß zu sagen: Der Typ ist doch so talentiert, da ist es nicht so wichtig, dass er menschlich gesehen ein Schuft ist. Ein großer Irrtum!

Eine Erkenntnis, die du durch deine eigene Lebensgeschichte gewonnen hast?

Ja, wahrscheinlich. Vor 18 Jahren habe ich das erste Mal einen Willow­Gottesdienst besucht. Menschlich gesehen war ich am Ende. Ich stand regelmäßig in der Schlange des Care Centers, um mir eine Tüte mit Lebensmitteln abzuholen. In der allerersten Tüte entdeckte  ich  ganz  unten  einen  Früchtekuchen in Engelform. Dieser Kuchen wurde für mich zu einem Hoffnungszeichen, zu einer geistlichen Symbolik. Danach besuchte ich die Selbsthilfegruppen von Willow, und mein Heilungsprozess nahm richtig Fahrt auf. Ich kam von meinen Abhängigkeiten los. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn es Willow nicht gegeben hätte.

Acht Jahre später folgte die Anstellung als ›Creative Director‹.

Für mich war das ein riesiges Privileg, in der Gemeinde zu arbeiten, die buchstäblich mein Leben  gerettet hat. Und das mehrfach. In den zehn Jahren bei Willow habe ich gelernt, wie man gut als Team zusammenarbeitet; wie man wieder aufsteht, wenn man gescheitert ist. Ich lernte, wie man Dinge durchzieht, auch wenn man selbst mal nicht so gut drauf ist und es an Inspiration fehlt. Ich lernte das Leiten und ich lernte, dass mein Charakter genauso wichtig ist – vielleicht sogar wichtiger – wie meine Kompetenz. Und schließlich entdeckte ich, wie Gnade in der Arbeit und im Leben eine sehr reale Sache ist.

Wie hat deine eigene Lebensgeschichte deine Art zu arbeiten geprägt?

Meine Arbeit als Regisseur verstehe ich als pastorale Aufgabe. Als Team verbringt man viel Zeit beim Entwickeln von Ideen, bei den Proben oder am Set. Es braucht enorm viel Energie, auf einem weißen Blatt Papier etwas Neues zu erarbeiten – besonders wenn es noch eine persönliche Komponente enthalten soll, was in der Kunst ja oft der Fall ist. Wenn etwas von dieser Energie verloren geht – weil Furcht die Oberhand gewinnt oder weil das Ego von jemandem die Arbeit erschwert –, dann hat das große Auswirkungen auf das Ergebnis. Einen Blick für die Befindlichkeiten der Mitarbeiter zu haben, auf sie einzugehen, ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit.

Weshalb ist Kreativität in einem Gottesdienst überhaupt so wichtig?

Kreativität ist für mich kein Hauptwort; es geht nicht um ein bestimmtes Element im Gottesdienst. Es geht um eine neue Art zu denken und die Dinge zu sehen. Die Künstler haben eine ähnliche Rolle wie damals die Propheten. Sie haben den Priestern und Königen mutig den Spiegel vorgehalten und gesagt, was wirklich los ist. Oft geschah das unter Zuhilfenahme von Bildern oder Geschichten. Jesus ist auf ähnliche Weise vorgegangen. Er hat die Leute dazu gebracht, das lineare Denken zu verlassen und eine neue Sichtweise einzunehmen. Diese Prophetenrolle sollen die Künstler einnehmen, mit denen ich arbeite.

Eine anspruchsvolle Aufgabe.

Oh ja! Es geht um weit mehr als nur zu fragen: Wollen wir im nächsten Gottesdienst mal wieder ein Theaterstück aufführen oder lieber von jemandem ein Bild malen lassen? Das sind die falschen Fragen. Eine bessere Frage wäre: Wie können wir unserer Gemeinde dabei helfen, in einem bestimmten Bereich besser zu leben oder zu handeln? Wenn diese Aufgabenstellung klar definiert ist, ist es Aufgabe der Künstler, einen Weg zu erarbeiten, wie Menschen dazu ganz konkret ermutigt werden können.

Und was Menschen wohl berühren würde?

Das wäre nicht meine Herangehensweise. Ich frage stattdessen: Was hat mich bewegt? Wenn ich diese Momente, diese eigenen Emotionen als Grundlage nehme, sind sie gleich mit Leben gefüllt und wirken nicht kraftlos und gekünstelt.

Wo findest du diese Inspiration?

Hauptsächlich durch Musik und Fotos. Ich habe mir die Disziplin auferlegt, jede Woche 30 Minuten durch den Musik­Streamingdienst Spotify zu klicken. Wenn mich ein Song nach 10­20 Sekunden nicht anspricht, klicke ich weiter. Wenn er mich berührt, speichere ich ihn ab. Ähnlich mache ich es beim Foto­Portal Pinterest: Fotos oder Themen, die mich anrühren, speichere ich ebenfalls. Dinge, die mich aufwühlen oder begeistern, notiere ich mir elektronisch bei Evernote. So sammeln sich viele Ideen an, noch bevor ich sie benötige – und ich flippe nicht aus, wenn ich für ein Projekt dringend eine frische Idee benötige.

Wie sprechen diese Ideen dann die Menschen an?

Man muss die Grenzen verschieben. Die Zuhörer müssen sich in gewisser Weise unwohl fühlen, wachgerüttelt werden. In unseren Kirchen sind viele Künstler zu vorsichtig. Aber schau dir mal die Geschichten in der Bibel an: Wir finden dort viel Verrücktes, Verruchtes, Haarsträubendes, Schmutziges. Und was machen wir? Wir runden die Ecken ab, säubern die Darstellung. Die Folge? Menschen, die in einer ähnlich desperaten Lebenslage sind, fühlen sich nicht angesprochen. Was noch schlimmer ist: Es wird der Eindruck erweckt, dass die größten Tiefen des Lebens in unserer Kirche nicht vorkommen. Aber wenn wir die Ehrlichkeit in unseren Kunstformen mehr zulassen, hat das etwas Heilsames: Die Menschen entdecken sich als Menschen. Sie fühlen sich verstanden. Das kann zu einem transzendenten Aha­Moment werden.

Wie formulierst du das Ziel der verschiedenen Kunstformen?

Matt Lundgren brachte unsere Zielsetzung einmal so auf den Punkt: »Tröste die Traurigen, beunruhige die Bequemen!« Dieses Motto haben wir immer im Hinterkopf, wenn wir entscheiden, was wir in welcher Form auf die Bühne bringen. Das Interessante: Ein Clip, ein Tanz, eine Performance … kann beides zur gleichen Zeit erreichen – trösten und beunruhigen.