Im Jahr 2019 besuchte ich im Rahmen meiner Beratungstätigkeit jede Woche Gemeinden in den USA. Ich nahm an Teamsitzungen teil, traf mich mit den Hauptamtlichen und lernte die Kultur der jeweiligen Gemeinde gut kennen. Dabei traf ich innerhalb einer Woche auf zwei Gemeinden, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Eine dieser Gemeinden war The Bridge Church in der Nähe von Nashville. Jede Begegnung war inspirierend: Die Mitarbeitenden waren engagiert bei der Sache, man spürte ihnen ab, dass sie ihre Gemeinde lieben – und zwar nicht nur auf der Leitungsebene, sondern bei allen. Sie wussten, wofür sie da sind, hatten die Vision ihrer Gemeinde verstanden, lebten die vereinbarten Werte, die Chemie in den Teams war ansteckend ...

Einige Tage später war ich in einer Gemeinde in Südkalifornien. Schon beim Betreten des Gemeindezentrums spürte ich den Unterschied: Es lag eine Spannung in der Luft. Nach nur wenigen Minuten hörte ich von Streit, Vorwürfen und Manipulation. Der Pastor ließ sich eine Viertelstunde über einen Mitarbeiter aus, dem er eine negative Arbeitseinstellung und mangelndes Engagement vorhielt. Hier stand nicht die Arbeit an einer gemeinsamen Vision im Vordergrund, im Gegenteil: Jeder schaute auf sich und die eigenen Interessen. Ich ging durch die Büros, und alle blickten verlegen nach unten – nach dem Motto: Bloß nicht auffallen!

Die Beispiele machen deutlich, welche Bedeutung die Gemeindekultur hat: Wenn die Kultur negativ oder gar toxisch ist, werden auch die talentiertesten Mitarbeitenden über kurz oder lang aufgeben. Bemüht man sich aber um eine attraktive Kultur, kann selbst ein mäßig begabtes Team viel erreichen, wenn seine Mitglieder Jesus und die Gemeinde lieben.

Was ist Kultur?

Die Autorin Jenni Catron sagt: »Kultur zeigt wer wir sind und wie wir an der Erfüllung unseres gemeinsamen Auftrags arbeiten.« Ich würde hinzufügen: »Eine gute Kultur zeichnet sich aus durch ein engagiertes Team, das sich auf gemeinsame Werte verständigt hat und diese lebt.« Das führt u.a. dazu, dass ...

  • sich Spannungen im Miteinander verringern und keine unnötige Energie rauben
  • Mitarbeitende Raum zur Entfaltung erhalten
  • die Erfüllung des Auftrags einfacher und wirkungsvoller ist
  • die Gemeinde wächst, wenn Mitarbeitende ihre Liebe zur Gemeinde explizit äußern

Meine Anfänge bei Willow

Als ich im April 2020 meinen Dienst in der Willow Creek-Gemeinde antrat, bat ich die leitenden Mitarbeitenden, mir die Kultur von Willow zu beschreiben. Sie fragten zurück: »Welche Kultur?« Ich dachte, dass sie die Frage vielleicht nicht richtig verstanden hätten, aber bald merkte ich, dass ihre Rückfrage durchaus berechtigt war. Willow hatte nicht die eine Kultur, sondern viele verschiedene. Nach der Leitungskrise 2018 waren die Teams an den verschiedenen Gemeindestandorten sehr isoliert. Einige hatten eine starke Kultur, bei anderen herrschten ungesunde Zustände, geprägt von Misstrauen und Einzelkämpfertum. Nur wenige verfolgten noch dem gemeinsamen Auftrag, einige hatten gar ihr eigenes Leitbild entwickelt. Wir waren eher ein loser Zusammenschluss von Gemeinden, als dass uns ein gemeinsames Vorangehen Kraft gegeben hätte.

Im ersten Jahr unter der Führung von Dave Dummitt als neuem Leitenden Pastor lag der Schwerpunkt auf Teambuilding. Uns war klar, dass wir die Kultur wohl nicht von innen heraus verändern konnten. Also arbeiteten wir in diesem Prozess mit Leitungspersonen aus US-Gemeinden, die für ihre gesunde Kultur bekannt sind, und »importierten« deren gesunde Strukturen. Wir prachen über Mechanismen gesunder Teams und sagten zu den Mitarbeitenden: Stellt euch einmal bildlich vor, wie unser Zusammenleben aussieht, wenn ...

  • herausragende Mitarbeitende Schlange stehen, um bei Willow arbeiten zu können
  • wir einander vertrauen und stets vom Besten ausgehen
  • wir hart arbeiten und dabei der Spaß nicht zu kurz kommt
  • unsere Arbeitsplätze durch eine ansprechende Gestaltung unsere Kultur widerspiegeln

»Wer einmal bei Willow in Chicago war, sieht Gemeinde mit anderen Augen. «

Das Kulturteam

Im März 2021 begannen wir, Auftrag und Vision der Gemeinde neu zu formulieren. Gleichzeitig arbeitete ein Team an den Werten für unsere Hauptamtlichen. Wir wollten Verhaltensweisen festlegen, die uns ausmachen. Wir nannten diese Gruppe das »Kulturteam«. Es bestand aus 14 Männern und Frauen aus allen Gemeinde­standorten, aus jungen und alten Menschen, aus neuen und langjährigen Gemeindemitgliedern. Wir nahmen uns mehrere Monate Zeit, um unsere Werte zu entdecken und zu benennen.

 

Träumen wieder erlaubt

Wir fingen wieder an zu träumen. Dabei ging es nicht darum, wer wir sind, sondern darum, wer wir sein wollen. Wir baten Mitarbeitende und Teams, folgende Fragen zu beantworten:

  • Was waren die schönsten Momente, die du als Mitarbeitender bei Willow erlebt hast?
  • Wie müsste das Arbeitsumfeld bei Willow aussehen, damit du als Angestellter hier den Rest deines Arbeitslebens verbringen möchtest?
  • Was müsste sich ändern, damit dein Ehepartner/deine Familie total begeistert darüber ist, dass du hier arbeitest?

Allmählich entstand das Bild eines positiven Arbeitsumfelds. Das war kein Prozess, bei der die Gemeindeleitung von oben herab den Angestellten und Ehrenamtlichen ihre Lieblingswerte aufdrückte. Lediglich ein Pastor war involviert. Wir wollten die Gedanken der Basis hören, um eine weitreichende Akzeptanz zu erreichen. Im vergangenen September hatten sich dann zehn Werte herauskristallisiert. Fünf davon bezogen sich auf die ganze Gemeinde: Was ist wichtig für den Umgang mit Gästen, aber auch mit langjährigen Mitgliedern und Mitarbeitenden? Die anderen fünf Werte beziehen sich auf leitende Mitarbeitende und beschreiben, was wir von jemandem erwarten, der bei Willow Menschen leitet.

Kein Zuckerschlecken

Werte definieren ist der erste Schritt. Danach kommt der schwierige Teil: sie in der Kultur zu verankern. Das wird den größten Teil dieses und des nächsten Jahres in Anspruch nehmen. Dazu gehört u.a.:

  • Wir brauchen Bewertungsmethoden, die anzeigen, an welchen Werten wir weiterarbeiten müssen und bei welchen wir Fortschritte machen.
  • Künftige Angestellte müssen die Werte bereits leben, bevor sie eingestellt werden.
  • Die Werte müssen Grundlage jeder Entscheidung sein.
  • Wenn Mitarbeitende die Werte leben, gilt es dies immer wieder zu feiern.

Noch ist der Prozess nicht abgeschlossen. Es wird wohl etwa drei Jahre dauern, bis wir ehrlich sagen können, dass wir wieder gesunde Teams haben. Aber wir arbeiten weiter daran, wieder eine lebendige Gemeinde zu werden. Und sind überzeugt: Unsere beste Zeit kommt noch!

 

Die Werte der Willow-Gemeinde

 

Auf blauen (für Gemeindemitglieder) und...

Als Gemeinde geht es uns darum ...

Jesus nachzufolgen

Völlige Abhängigkeit von ihm (Joh 12,26; Mk 8,34; Gal 5,25)

  • Wir verlassen uns auf den Heiligen Geist und fragen in allem, was wir tun, nach Gottes Führung
  • Wir praktizieren täglich geistliche Disziplinen
  • Wir beten regelmäßig
  • Wir spiegeln Christus in unserem Umgang miteinander wider

Menschen zu lieben

Jeder Mensch ist Gott wichtig (Lk 5,30-32; Lk 15)

  • Wir helfen Menschen dabei, Jesus zu finden und ihm nachzufolgen
  • Wir sind bekannt für das, wofür wir sind, nicht für das, wogegen wir sind
  • Wir kümmern uns um die, die verletzt und angeschlagen sind
  • Wir dienen anderen, auch wenn es unbequem ist

Nächste Schritte zu wagen

Werden, nicht ankommen (Kol 2,6-7; 2Petr 1,5-8; Jak 1,22-25)

  • Wir glauben, dass es für jeden Menschen einen nächsten Schritt gibt
  • Wir übernehmen Verantwortung für unser eigenes Wachstum und unsere persönliche Entwicklung
  • Wir sind ständig in einer Haltung des Lernens
  • Wir praktizieren Empathie, Geduld und Barmherzigkeit

Uns zu verjüngen

Die nächste Generation bewusst mit hineinzunehmen (Ps 145,4; Dtn 6,6-9; 1Tim 4,12)

  • Wir glauben, dass niemand zu jung ist für einen Leitungsdienst und niemand zu alt ist, um noch dazuzulernen
  • Wir feiern unsere Investition in Kinder und Jugendliche
  • Wir sind ständig auf der Suche nach Nachwuchskräften und arbeiten daran, uns selbst überflüssig zu machen
  • Wir arbeiten an Programmen, mit denen wir einer Mehr-Generationen-Gemeinde gut dienen können

Authentisch zu sein

Wir bringen uns ganz ein (1Sam 16,7; Röm 8,1-2; Eph 2,10)

  • Wir arbeiten permanent an unserer Eigenwahrnehmung
  • Wir erwarten keine Perfektion, Fragen und Zweifel sind willkommen
  • Wir stellen Menschen über Produkte
  • Wir bieten Gott unser Bestes an und unsere ganze Kreativität - und überlassen die Ergebnisse ihm

 

 

weißen Würfeln (für leitende Mitarbeitende) hat die Willow-Gemeinde ihre Werte formuliert.

Als Leitende ...

Gehen wir vom Besten aus

Vertrauen ist Standard (Phil 2,25; 1Petr 3,8; Röm 12,18)

  • Wir sind „für“ einander
  • Wir sorgen für kurze Dienstwege
  • Wir verstehen und lösen Konflikte zügig
  • Wir übernehmen Verantwortung für unsere Schwächen und unser Versagen

Verpflichten wir uns zu Aufrichtigkeit

Freundlichkeit ist unsere Art (Eph 4,15; Spr 16,24; Eph 4,25)

  • Wir sprechen Probleme / Missverständnisse etc. zügig an, um eine ‚Sitzung nach der Sitzung‘ zu vermeiden
  • Wir führen angemessene, mutige Gespräche
  • Wir ignorieren keine Alarmzeichen
  • Wir geben und erhalten gerne Feedback

Nehmen wir Herausforderungen an

Mut ist unser Kennzeichen (Kol 3,23; Jos 1,9; Phil 4,13)

  • Wir feiern Innovation
  • Wir sind ständig auf der Suche nach Alternativen (einem „dritten Weg“)
  • Wir sehen Misserfolge / Versagen als Lernmöglichkeit
  • Wir lernen, bewerten und wachsen  - ständig

Sorgen wir für einen angemessenen Umgangston

Freude ist unsere Grundhaltung (1Thes 5,18; Röm 15,13; Spr 17,22)

  • Wir äußern Worte des Dankes, der Wertschätzung und der Ermutigung
  • Wir lächeln. Wir lachen. Wir haben ganz bewusst Spaß
  • Wir nehmen uns selbst nicht zu ernst
  • Wir haben stets Hoffnung und halten Ausschau nach Gottes Wegen - in jeder Lage

Entscheiden wir uns für Einheit

Vielfalt ist unsere Stärke (Spr 27,17; Offb 7,8; Kol 3,11)

  • Wir fragen stets, wer zu einem bestimmten Thema/Projekt noch etwas beitragen könnte
  • Wir bauen Teams, die nicht begrenzt sind von Aspekten wie Rasse, Ethnie, Kultur, Geschlecht oder Generation
  • Wir pflegen bewusst Beziehungen zu Menschen, die anders sind als wir
  • Wir glauben, dass wir gemeinsam mehr erreichen können. Zusammenarbeit wird groß geschrieben - an allen Standorten und in allen Teams