Ich werde öfter mal gefragt: „Was macht eigentlich Bill Hybels?“ Das wüsste ich auch gern – man hört, dass er wohl als Unternehmensberater aktiv ist. Hinter der Frage steckt vermutlich oft die Hoffnung, dass er sich mit Abstand noch einmal zu den Vorwürfen gegen ihn einlässt. Aber man hört nichts. Mich enttäuscht und ärgert das – es passt so wenig zu dem, was ich nachhaltig positiv von ihm gelernt habe und immer noch in mir wirksam ist. Ich merke das auch bei anderen, die sich von einstigen Helden und Vorbildern enttäuscht fühlen: Einstmals positive Impulse werden in ein Schwarzes Loch des Frustes gezogen. Waren wir nicht so inspiriert von der Leidenschaft für Gemeinde und Mission?

Es ist schade, dass Hybels sich nicht äußert oder noch einmal mit Distanz aufarbeitet, differenzierte Reue zeigt, Neuanfänge ermöglicht. Er würde damit helfen, all das visionär Gute zu fördern, das ja weiterhin gut und richtig bleibt – auch wenn es von einem Leiter kommt, dessen dunkle Persönlichkeits-Anteile seine Vision für Jesus-Nachfolge und leidenschaftliche Evangelisation jetzt überschatten.

Das kann doch nicht alles sein, oder?

Neben diesem Gefühl aber spüre ich auch einen wachsenden Widerstand in mir – Ärger und Trauer hin oder her: Die klare Orientierung am Auftrag Jesu und die gute missionarische Vision darf nicht in den Strudel des Hybels-Frustes geraten. Bei keinem unserer Glaubensheldinnen und Helden sollte das so sein! Im Gegenteil: Ich will und muss mich aus diesem Schatten befreien, sonst erlaube ich, dass der Frust über meine enttäuschte Begeisterung Macht über meine Prioritäten hat.

Visions- und Hoffnungs-Raub

Dies gesagt und betont, gefördert und ernst genommen, geht es mir in diesem Beitrag dennoch um diesen anderen Blickwinkel: Um das nämlich, was der Helden-Frust mit uns anderen macht, die unbetroffen danebenstehen, aber in gewisser Weise eben doch mitbetroffen sind. Die Fehler und das Versagen von Leitenden und Vorbildern macht ja auch etwas mit mir, mit uns. Es geht um Frust und Visions- und Hoffnungs-Raub. Eine Konsequenz mit ganz verschiedenen Gesichtern: Von kühler Des-Illusionierung bis zur heißen Wut über die eigene Begeisterungsfähigkeit und ihre Enttäuschung; von wachsender Gleichgültigkeit bis zum offenen Abwenden von allen neuen Inspirations-Hoffnungen und Impulsen in Sachen Gemeindebau und Nachfolge Jesu.

Ich glaube, jede und jeder muss hier ihren und seinen eigenen Weg der Bewältigung anstoßen: Wie wollen wir in Zukunft umgehen mit guten Impulsen, die ja wieder nur von „Auch-nur-Menschen“ kommen? Wofür will ich mich in Zukunft noch einsetzen und begeistern? Zugleich aber auch: Wem nützt es eigentlich, wenn ich mich von Frust und Visions-Raub dauerhaft in eine Art Gleichgültigkeit und Indifferenz treiben lasse? Ist es nicht dran, mit reiferen, tiefer sehenden Augen Frust und Enttäuschung zu überwinden? Brauchen wir vielleicht eine neue Art geistlicher Resilienz, die uns erlaubt, die guten Impulse vom Schatten unserer Enttäuschung zu befreien und neu durchzustarten?

In Sachen Hybels dachte ich bislang, ich könnte die positive Vision für Jüngerschaft und Mission ganz simpel vom Frust trennen. Intellektuell mag das auch so sein – praktisch aber merke ich, wie ich viele gute Sätze und Impulse von ihm nur zögernd einsetze. Blockiert uns das stille „Raus-Schrödern“, Aussitzen und Sich nicht-Einlassen von ihm doch irgendwie mehr als gedacht? Ich frage mich das – und entdecke zugleich eine wachsende Entschlossenheit, mir das inspirierend Gute wieder neu anzueignen. Mich nicht in eine Abhängigkeit vom heutigen Verhalten alter Vorbilder bringen zu lassen. Denn es geht dabei doch gar nicht um Willow, und es geht auch nicht um Hybels. Es geht um das, was von Jesus her immer noch als inhaltlich glaubwürdig, biblisch gut begründet und geistlich inspirierend dasteht: Der Fokus auf Jüngerschaft, Charakter, gute Leitung und missionarischen Gemeindebau.

»Wie wollen wir in Zukunft umgehen mit guten Impulsen, die ja wieder nur von "Auch-nur-Menschen" kommen?«

Von Krisen bedroht

Dieser Fokus gerät ja ohnehin zunehmend unter die Räder und zwischen die Fronten: Da ist die Corona-Krise, die digitale Kompetenz hinterlässt – aber auch erschöpfte Mitarbeitende und große Müdigkeit. Und dann der Ukraine-Krieg mit einer neuen Flüchtlingswelle. Dazu kommt die wachsende Polarisierung durch Streit – um Corona und Impfung oder um die polarisierenden Fragen rund um Homosexualität und Theologie. Streit bedeutet Selbstbeschäftigung. „Aber es ist doch ein notwendiger Streit!“ werden manche sagen. Ich kann das verstehen – aber im Ergebnis fällt Mission und Neuaufbruch oft hinten runter.

Missionarische Gemeinde war gestern – wir müssen uns erstmal wiederfinden. Unsere Leute wiederfinden. Unsere Werte wiederfinden. Unsere Lampen putzen. Unsere Federn ordnen. Uns auf uns konzentrieren. Verständlich – aber für mich ein Weg mit vielen Fragezeichen.

Mit Wehmut und Trauer blicke ich zurück auf unsere beiden letzten Kongresse. Da war der große Aufbruch von Dortmund, die positive Stimmung von Karlsruhe – so viele, die Bewegung wollten. Ein tiefer geistlicher Eindruck von Dortmund für mich: Es geht nur gemeinsam! Wir haben diese große „OneMission“ – diesen einen gemeinsamen Jesus-Missionsauftrag. Er ist so groß, die Entfremdung vom christlichen Glauben und der kirchliche Traditionsverlust so stark, dass es nur gemeinsam geht – gemeinsam mit allen, die Jesus nachfolgen und seinen Missionsauftrag umsetzen wollen. Was wir derzeit aber erleben ist Müdigkeit, Abgrenzung, Streit und Konzentration nach innen. Notwendig wäre ein Neuaufbruch. Notwendig wäre, um Jesu willen zweitwichtige Themen zweitrangig sein zu lassen und wieder Dampf zu machen hinter ihm her – persönlich und als Gemeinden.

Und gerade da verstärkt sich mein Nachdenken über Helden-Frust und Visions-Verlust. Müssen wir uns nicht erlauben, das Gute wieder neu in den Blick zu nehmen, was Gott in uns positiv bewegt hat? Denn es geht doch um Jesus – und um die von ihm geliebten Menschen, die in einer immer wilder werdenden Welt nach Orientierung suchen.

Was ich gelernt habe

Ich erinnere mich an so viel Positives, das ich von Hybels gelernt habe:

• Etwa an seine Rede vom „Walk across the room“, diesem kleinen ersten konkreten Schritt auf andere zu, den wir gehen müssen, um Beziehung aufzunehmen, Interesse zu zeigen, ein Leben mit Vision zu führen – Kirche mit Vision zu sein.

• An seine Mahnung, dass es immer um das „one life at a time“ geht – nicht um eine technokratische Vision von großer Gemeinde und modernen Methoden, sondern um den einzelnen Menschen, den Jesus liebt – und dem wir uns deswegen zuwenden.

• An die Hoffnung machenden Storys von seinen Segel-Kameraden, denen er mit jahrelanger geduldiger Zuneigung nachgegangen ist und wieder und wieder eingeladen hat. Ich denke an die „Fools Bench“, die „Bank der Enttäuschten“ im Eingangsbereich der Willow-Gemeinde, die an diesem vereinbarten Treffpunkt vergeblich auf die Menschen warteten, die sie eingeladen hatten.

• An das Reden von „vision leaks“ – der Vision, die verdunstet und versickert. Höre Hybels selbstkritisch analysieren, wie viel leichter Evangelisation als aktives Ziel der Gemeinde wegrutscht gegenüber der Beschäftigung mit sich selbst – und wie viel mehr Energie man an genau dieser Stelle einbringen muss, um seiner Vision treu zu bleiben.

Haben wir etwas zu vergeben?

Deswegen sehe ich heute mit größerer Klarheit: Ich will einen differenzierten Blick einüben und einen Filter für die positiven Impulse aktivieren. Egal, wer unsere Heldinnen und Helden sind: Es ist für uns kein Gewinn, wenn wir uns durch ihre Fehler das Gute rauben lassen. Wir spielen dem Gegenspieler Gottes in die Hände, wenn wir uns von Enttäuschung lähmen lassen. Weil „visionleaks“ brauchen wir immer wieder neuen Mut, Fokus, Priorität, Ermutigung. Brauchen neue Sprecher, neue Vorbilder, neue Erinnerungen, neue Geschichten. Deswegen freue ich mich so auf den Leitungskongress in Leipzig. Deswegen bin ich so motiviert, ein neues Netzwerk missionarischer Gemeinden und Werke für die deutschsprachigen Willow-Kongresse zu erschließen. Gute Impulse gibt es nicht nur in Amerika, sondern auch hierzulande und in Europa. Wir arbeiten daran, in den USA und hier bei uns neue Partner zu gewinnen, neue Sprecher und Ideen auf die Bühne zu bringen: Wir nennen es „Willow plus“. Willow-Kongresse als Ermutigungs-Plattform dieser Jesus Koalition, die die große Aufgabe nur gemeinsam schaffen kann.

Haben wir auch als Nicht-Betroffene des Verhaltens eines Vorbilds etwas zu vergeben? Brauchen wir einen befreiten Blick zurück zum Guten? In diesem Denkhorizont spricht mich der Satz des Theologen Lewis Smedes an: „Zu vergeben bedeutet, einen Gefangenen frei zu lassen – um zu entdecken, dass der Gefangene du selber warst.“ Ich kann das auch auf Vorbild-Frust und Visions Raub anwenden. Lewis Smedes fährt fort: „Vergebung löscht eine bittere Vergangenheit nicht aus. Eine geheilte Erinnerung ist keine gelöschte Erinnerung. Zu vergeben, was wir nicht vergessen können, ermöglicht aber eine neue Art des Erinnerns. Wir ersetzen die Erinnerung an gestern durch Hoffnung auf die Zukunft.“

Tatsächlich: Wir liegen in einer Art Visions-Gefangenschaft, wenn Trauer und Enttäuschung am Ende unsere Vision überschattet und das Feuer für „Gemeinde als Hoffnung der Welt“ auf Dauer löscht. Ja, wir brauchen ein neues, reifes Verhältnis zu Impulsen, die von alten und neuen Vorbildern kommen. Die sich am Ende als „Auch-nur-Menschen“ entpuppen. Ja, die Freude, Begeisterung und Vision für Evangelisation und Gemeinde ist durch die Krisen der letzten Zeit in einen Strudel hineingerissen. Wir brauchen geistliche Resilienz, um dem Auftrag Jesu auch in Krisen-Zeiten treu zu bleiben. Mir gefällt da, was der designierte Präses des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden Friedhelm Holthuis in seinem programmatischen Antritts-Statement sagt: „Wenn wir Gottes Wichtigstes zu unserem Wichtigstem machen, dann wird er unsere Anliegen zu seinen Anliegen machen.“ Wenn das keine Verheißung ist für einen Neuaufbruch …