Wer kennt ihn nicht, den Ruf nach Veränderung und Weiterentwicklung der örtlichen Gemeinde. Aber wenn tatsächlich die Entscheidung für den wirklich großen Einschnitt ansteht, siegt oft genug der Kleinglaube gegen das Gottvertrauen. Die FEG Winterthur (Schweiz) hat gezeigt, wie es anders sein kann: So wurden radikale bauliche Überlegungen, die anfangs nur verständnisloses Kopfschütteln auslösten, allen äußeren Widerständen zum Trotz umgesetzt: Manchmal muss man das Alte wegreißen, damit etwas ganz Neues entstehen kann. Durch unkonventionelles Handeln und eine große Portion Gottvertrauen macht eine Gemeinde ihre Visionen Schritt für Schritt sicht- und erlebbar.

Was uns an Willow faszinierte

Vor uns dampfte der Kaffee in großen Bechern. Das Ambiente des weitläufigen Foyers der Willow Creek-Gemeinde im Chicagoer Vorort South Barrington hatte es uns angetan. Über den Tisch hinweg tauschten wir rege die Eindrücke aus der hinter uns liegenden Intensiv-Studienwoche aus. So hatten Roger, der Vorsitzende unserer FEG und ich als ihr Pastor Kirche noch nie erlebt. In uns brannte ein Feuer: Das wollen wir auch erleben, so wollen auch wir Kirche bauen. Diese Entscheidung stand für uns unumstößlich fest.

An jenem Dezembertag 2005 zogen wir später durch das gigantische Chicago und stolperten dabei über eine Frau, die ein Schild trug: »I’m stranded« – ich bin gestrandet. Bei 15 Grad minus gab es für sie nur eine einzige wichtige Frage: Gibt es in dieser kalten Welt da draußen jemand, der mir helfen kann? Ihr graues Gesicht blieb lange an meiner emotionalen Pinnwand hängen. Wir hatten ja bei Willow oft genug erlebt, wie genau solche Menschen in die Kirche und zu Christus fanden – nämlich durch die ›Hintertür‹ der Willow Creek- Gemeinde: ihr umfangreicher sozial-diakonischer Arbeitsbereich. So wurde Willow für viele zu einem Ort der Hoffnung – das faszinierte uns!

Langsame Erneuerung und ein visionärer Ausblick

Rückblick ins Jahr 1998. An einem Abend im Januar fragten wir in unsere Gemeinde hinein: Wie könnte unsere Kirche in fünf Jahren aussehen? Lasst euren Träumen einmal freien Lauf. Wir wussten, dass die Zeit für einen solchen Prozess reif war, denn bereits seit einigen Jahren hatten wir eine sanfte Erneuerung gespürt, nachdem es uns in den Jahren davor sehr belastet hatte, dass kaum Menschen zu Christus gefunden hatten. Die Einführung von Alpha- Kursen und niedrigschwellige Gäste-Gottesdienste hatten dann erste Wirkungen gezeigt: Neue Menschen waren zu uns gekommen, viele von ihnen hatten sich für eine Nachfolge Jesu entschieden. Und so ließen wir unsere Gemeinde am erwähnten Abend einmal so richtig träumen und wurden von einer Vielzahl von Wünschen, Sehnsüchten und Vorstellungen überrascht, ja überflutet. An jenem Abend wurde uns klar: Wir sind bereit, in die nächste Phase ihrer Erneuerung einzusteigen, und wir hatten tatsächlich so etwas wie die Seele unserer Gemeinde gespürt. In den folgenden Jahren würden wir auf dieser erwartungsvollen Wachstumsfreude aufbauen.

Zähe Entwicklung und schmerzhafte Einschnitte

Aus den noch eher vagen, undeutlichen Zukunftsideen wurde ein Bild, das immer deutlicher wurde. Mit der Gemeindeleitung besuchten wir die Willow-Leitungskongresse, besprachen Bücher und ließen uns immer wieder von blühenden Ortsgemeinden inspirieren. Bald mussten wir aus Platzgründen einen zweiten Gottesdienst anbieten, und eine ganze Schar von Kindern brachten unsere Räumlichkeiten an die Grenzen ihrer Kapazitäten.

Im Jahr 2004 beschlossen wir, den Veränderungen baulich Rechnung zu tragen, um für noch mehr Menschen in unserem Umfeld da sein zu können. Auf dem Nachbargrundstück sollte neben unseren bestehenden Gebäuden ein großes Auditorium mit Nebenräumen entstehen. Doch nicht immer folgt auf eine mutige Entscheidung auch die entsprechende Bestätigung von Gott: Der Nachbar verkaufte das Grundstück einem türkischen Verein, und anstelle eines Gemeinde- Neubaus wurde gleich neben unserem Gemeindezentrum eine Moschee errichtet. Personelle Schwierigkeiten und eine Trennung innerhalb des Leitungsteams forderten uns zusätzlich heraus. Nach diesen schmerzhaften Erfahrungen dauerte es Monate, bis wir uns wieder neu ausgerichtet hatten und an unserer Vision für die Gemeinde weiter ›bauen‹ konnten. Mitten in dieser schwierigen Phase schrieben wir unsere Grundwerte und die Vision noch einmal um. Die neu formulierte Vision ›nöchi Chile‹ (nahe Kirche) gab den Impuls für den nächsten Schritt: In einer Leitungssitzung wurde ein Vorschlag vorgebracht, der zunächst verrückt erschien: Wir reißen alle alten Gebäude ab und bauen ein völlig neues Begegnungszentrum auf. Zuerst erntete die Idee nur ungläubiges Kopfschütteln – eines der Gebäude war ja noch nicht einmal 30 Jahre alt. Aber dann tauchte eine wichtige Frage auf: Hat uns Gott in diese Warteschleife geführt, damit unsere Vision jetzt noch größer und weiter werden kann?

Die Vision: Ein Begegnungszentrum für Winterthur

Der Gedanke ließ uns nicht mehr los und ein Traum begann Gestalt anzunehmen: Wenn wir als ›nöchi Chile‹ ein öffentlicher Ort werden wollen, dann müssen wir auch ein öffentliches Gebäude bauen! Und so planten wir auf dem Papier das große Auditorium, kleinere Gemeinderäume, eine Kapelle, die 24 Stunden am Tag geöffnet ist, ein öffentliches Bistro, weiterhin eine Internet- Coffee-Lounge sowie Räumlichkeiten für öffentliche und kirchliche Kinderangebote – und schließlich einen Band-Raum mit integriertem Tonstudio. Durch weitere frei vermietbare Räume würde ein Begegnungszentrum für unsere Stadt entstehen. Hier sollten sich die Menschen einfach wohlfühlen – und gern wiederkommen.

Abstimmung mit dem Portemonnaie

Aber wie sollten wir uns dieses Vorhaben leisten? Nach einem Architekturwettbewerb war schnell klar, dass wir eine zweistellige Millionensumme investieren müssten. Eine solche Summe hätte uns als Freikirche über Jahrzehnte hinweg finanziell blockiert. Wir diskutierten verschiedene Modelle, doch nach und nach setzte sich die Idee durch, dass die Finanzierung des Gebäudes durch den Verkauf von Wohnungen realisiert werden könnte. Wir beschlossen also, 18 der 21 Wohnungen als Stockwerkeigentum zu verkaufen, um unsere Baukosten auf etwa ein Drittel zu reduzieren. Aber wären wir mit dem Projekt nicht trotz allem hoffnungslos überfordert?

Als die Entscheidung anstand, stimmten die Gemeindemitglieder nicht mit ihren Händen ab, sondern mit ihren Geldbörsen: Sofern in einem halben Jahr 1,5 Millionen Schweizer Franken zweckbestimmt eingehen würden, würden wir dies als Zustimmung für den Bau des Begegnungszentrums werten. Käme die Summe nicht zusammen, würden alle Spenden ohne Abzug wieder zurückgezahlt. Das ›Abstimmungs-Ergebnis‹: Nach sechs Monaten hatten wir 1,68 Millionen Franken zusammen!

Abriss der Gemeinde-Gebäude macht Platz für ›gate27‹ Nachdem der Startschuss gefallen war, ging alles ziemlich schnell. Trotz der Größe des Hauses gab es seitens der Nachbarn und Behörden keinerlei Widerstände. In kurzer Zeit rissen wir den alten Bestand ab, und innerhalb von zwei Jahren entstand an gleicher Stelle unser ›gate27‹, wie wir das Gebäude aufgrund der Nähe zum Bahnhof nennen.

Trotz großer Freude erlebten wir die Übergangszeit als Herausforderung! Wie würden wir, eine 175 Jahre alte Freikirche, diesen Paradigmenwechsel von einer recht unbekannten Gemeinde zu einem öffentlichen Begegnungszentrum schaffen? Die Schwerpunkte legten wir in dieser Phase auf zentrale geistliche Themen, etwa: »Wenn sich Gottes Angesicht in unserem Leben spiegelt, sehen die Menschen Gott durch uns«. Einmal falteten wir während des Gottesdienstes ein Papierschiffchen. Als es fertig war, konnte man auf dem Bug das Gandhi-Zitat lesen: »Be the change you wish to see«. Ich predigte darüber, dass es jetzt darauf ankommt, wie wir selbst mit dem Boot auf der andern Seite des unsicheren Flusses der Veränderung anlegen werden: Kritisch oder mit erwartungsvoller Vorfreude? Ein anderes Mal gestalteten wir einen Gottesdienst im Rohbau. Jeder schrieb seinen Namen auf einen Backstein und sagte damit: Ich bin ein Teil dieses Bauwerks – das ist unser Neubau! Am nächsten Tag wurden alle Steine eingemauert.

Ganz bewusst entwickelten wir die Gemeinde in der Übergangszeit weiter und führten eine weitere, moderne Gottesdienstkultur mit dem Namen ›Triebwerk‹ ein, die wir später in das neue Begegnungszentrum mitnahmen.

Breites diakonisches Angebot mit neuem Träger

Im ›gate27‹ können wir unser sozialdiakonisches Angebot nun richtig ausbauen. Der gemeinnützige Verein ›Stägetritt‹ (Treppenstufe) bietet heute unterschiedliche Angebote an, ohne dass wir uns dem ›missionarischen Generalverdacht‹ der Öffentlichkeit aussetzen zu müssen: Der Stägetritt ist organisatorisch und rechtlich von der freikirchlichen Institution losgelöst. Angestellte und Ehrenamtliche aus der Gemeinde bieten öffentliche Angebote für Kinder (zwei unterschiedliche Kinderhorte, Krabbelgruppe) sowie für Eltern (Kurse, Kleiderbörsen) an.

»Von einer recht unbekannten Gemeinde zum öffentlichen Begegnungsort!«

Ausgesteuerte Arbeitslose werden betreut, können im Bistro sowie im Begegnungszentrum in einem Teillohnsystem jobben und werden hoffentlich den Weg ins Berufsleben zurückfinden.

›nöchi Chile‹ – nahe Kirche ganz praktisch

Schritt für Schritt entwickeln wir uns zu einer offenen Kirche. Viele Menschen aus der Stadt besuchen das Bistro und die 24-Stunden- Kapelle. Sie mieten unsere Räumlichkeiten, feiern ihre Familienfeste, veranstalten Tanzabende und Konzerte. Unsere Freikirche wird so zum öffentlichen Raum, in dem vieles geschieht, was mit der Gemeinde zunächst nichts zu tun hat – aber es spiegelt unsere Vision von ›nöchi Chile‹. noch gibt es viel zu tun, damit aus kurzen Begegnungen vertrauensvolle Beziehungen wachsen. Trotzdem sind schon in diesem Frühjahr im Alphakurs so viele Menschen Christus begegnet wie in den vergangenen Jahren nicht mehr.

Seit einigen Monaten arbeiten wir intensiv an der Formulierung einer neuen Vision: Welche Aufträge legt uns Jesus mit den neuen Ressourcen aufs Herz? Was soll sich für viele Menschen in Winterthur bis 2020 verändern? Im Fokus unserer Ziele werden drei Stichworte stehen: ›Niederschwellige Begegnungen ermöglichen‹, ›die nächste Generation stärken‹ und ›Gottes Reich in unserer Stadt und darüber hinaus multiplizieren‹. Warum? Weil die lokale Kirche die Hoffnung der Welt ist und bleibt!

Wachstum zieht weitere Herausforderungen nach sich. Einige Räume sind schon wieder zu klein, doch insgesamt sind wir sehr dankbar über die mutigen Schritte in einer schwierigen Zeit. Folgendes ist uns im Rückblick wichtig: Trotz Krisen und Zerbruch hielten starke Freundschaften unsere Einheit zusammen (das Kernanliegen Jesu in Johannes 17). Zweitens: Wir haben an unserem Traum festgehalten und werden tagtäglich belohnt: Wir dürfen sehen, wie er Schritt für Schritt wahr wird. Drittens: Wenn wir nicht weiter wussten, hat uns Gott mit überraschenden Lösungen beschenkt. So investieren zum Beispiel drei kompetente Geschäftsleute einen Großteil ihrer Arbeitszeit kostenlos in die Kirche. Mit ihnen und vielen weiteren engagierten Ehrenamtlichen wird jede Woche ein Stück mehr Vision Wirklichkeit.