Wenn man sich jemanden vorstellen soll, der ein einfaches Leben führt, dann kommt einem Bill Hybels nicht unbedingt als Erster in den Sinn. Der Gründer und Pastor der Willow Creek Community Church, einer der größten Gemeinden in den USA, verantwortet – neben seiner Gemeindetätigkeit – den weltweiten Global Leadership Summit, berät und fördert kirchliche Führungspersonen in aller Welt. Und er schreibt Bücher. Sein neuestes: Einfach: Zehn Schritte zu einem aufgeräumten Leben. Ein erhellendes Gespräch über Terminplanung, Burnout, Regeneration und ›strategische Vernachlässigung‹.

Bill, was war der Grund für dieses Buch?

Der reine Überlebenswille. Mein Leben ist ziemlich kompliziert. Viele Projekte, die das Reich Gottes voranbringen, begeistern mich, aber irgendwann wird einem klar, dass man das, wozu Gott einen berufen hat, nur dann erfolgreich ausführen kann, wenn man einige harte Entscheidungen trifft. Man muss Schwerpunkte festlegen, Prioritäten setzen und die Dinge einfacher machen. Anders ausgedrückt: Vieles, was gut ist, muss unbeachtet bleiben, damit man das Beste schaffen kann

Was hast du verändert?

Meine Terminplanung. Ich weiß, dass das langweilig klingt. Aber sich mit seinem Kalender und einer offenen Einstellung vor Gott hinzusetzen, ist mit das Heiligste, was man tun kann. Bei der Termin­planung geht es nicht vorrangig darum, was man erledigen will. Die Frage ist vielmehr: Wer will ich werden?

Die meisten Menschen gehen so vor: »Hilfe, ich habe 30 Aufgaben zu erledigen. Wenn ich die nicht alle schaffe, wird es eng.« Man schreibt die Aufgaben auf und versucht, sie in den Kalender zu quetschen. Dieser Ansatz verhindert, dass wir uns mit der sehr viel schwierigeren und tief gehenden Frage auseinandersetzen: »Wer will ich werden? Was für ein Ehemann? Was für ein Vater? Was für ein Freund, Pastor oder Leitender?« Das führt dann automatisch zur nächsten Frage: »Was muss unbedingt in meinen Terminplan, damit ich dieser Mann oder diese Frau werde?« Wenn diese Fragen geklärt sind und das im Kalender entsprechend abgebildet ist, kann man wirklich ja dazu sagen. Natürlich gibt es Dinge, die erledigt werden müssen: Aber sie verdrängen oft das Wesentliche.

Es gibt christliche Organisationen, die propagieren: »Besser für Jesus ausbrennen als einrosten.« Was ist deine Haltung?

Mit diesem Bild kann ich nichts anfangen. Viele Führungspersonen – Pastoren, Unternehmer, Sportler – sind mit zu hohem Tempo unterwegs und dabei frontal an die Wand gefahren. Dabei haben sie ihre Ehe ruiniert, ihre Kinder vernachlässigt, schwere psychische oder körperliche Schäden davongetragen, von denen sich einige nie wieder erholt haben. Das hat nichts Romantisches an sich. Das ist nichts, was man fromm verklären sollte.

Von mir hören Leitende häufig eine Warnung – freundlich, aber ernst gemeint. Ein über lange Zeit beibehaltenes zu hohes Tempo führt unweigerlich zur Katastrophe. Das ist keine Migräne, die nach ein paar Tagen wieder verschwindet. Die Katastrophe kommt – und du wirst dich davon vielleicht nicht erholen.

 

»Mit seinem Kalender und einer offenen Einstellung vor Gott zu treten, ist mit das Heiligste, was man tun kann.«

Du schreibst, dass einfacher leben nicht zwangsläufig bedeutet, weniger zu arbeiten. Worum geht es stattdessen?

Es geht um etwas, was ich ›strategische Vernachlässigung‹ nenne. Im Zeitalter der stets verfügbaren Informationen kann man sich zwischen dem Aufstehen und Schlafengehen mit unzähligen komplexen Themen beschäftigen, wenn man das will. Die Situation im Nahen Osten, der Ukraine-Konflikt – ein Klick bei Google bringt so eine Fülle an Informationen, dass man die ganze Nacht lesen könnte. Sich mit allem möglichen zu beschäftigen, ist eine große Versuchung. Aber wir müssen uns sagen: »Diesen Konflikt oder jenes Dilemma überlasse ich klugen Menschen, die Gott mit der Lösung beauftragt hat. Ich werde dieses Thema strategisch vernachlässigen, damit ich meinen Verstand, mein Herz und meine Energie in das investieren kann, mit dem Gott mich beauftragt hat.« Das hilft beim Fokussieren. Wir müssen entscheiden: »Welche Aufgabe hat Gott für mich in seinem Erlösungswerk für die Welt? Und was kann ich links liegen lassen in dem Vertrauen, dass Gott diese Verantwortung anderen gegeben hat?« 

Wenn der Fokus klar ist, ist man mit sehr viel leichterem Gepäck unterwegs. Denn man kümmert sich nicht um Dinge, für die man nicht berufen ist. Das nimmt Tempo aus dem Leben, und man verliert allmählich diese chronische Angst, dass man irgendetwas doch wieder nicht geschafft hat. Wer Dinge liegenlassen kann, zeigt, dass er den richtigen Schwerpunkt setzen kann.

Welchen Ballast sammeln wir zusätzlich noch an?

Viel Stress und Überforderung hat mit dem Thema Finanzen zu tun. Man hat sich in eine Lage gebracht, aus der man allein nicht wieder herausfindet. Jeder Kauf endet in Schuldgefühlen. Und diese Situation ist eine enorme Belastung für die Seele. Auch zerbrochene Beziehungen sind ein Thema: Man geht mit dem ständig nagenden Gefühl durch’s Leben, dass einem die Kontrolle entglitten ist. Viele Menschen bleiben beim Entrümpeln ihres Lebens sozusagen im Keller stecken oder nehmen nur kleine Veränderungen bei der Terminplanung vor. Natürlich müssen auch die ›Keller‹ aufgeräumt werden, aber entrümpeln bedeutet auch, sich mit dem Ballast auseinanderzusetzen, der die Seele belastet. Wir müssen unsere Beziehungen und andere Dinge in Ordnung bringen, die – wenn wir sie ignorieren – zu einen großen Maß an Entmutigung führen können.

Dazu gehört auch der Umgang mit Erwartungen, die andere an uns stellen. 

Wie kann man damit zurechtkommen?

Das ist eine Lektion, die ich sehr früh gelernt habe. Von Anfang an habe ich Menschen in unserer Gemeinde gelehrt, welche geistlichen Gaben sie haben und welche sie nicht haben. Immer wieder habe ich bei Willow gesagt, dass niemand alle Gaben besitzt, und dass wir vor Gott keine Rechenschaft für etwas ablegen müssen, was er uns nicht gegeben hat.

Wenn eine Predigtreihe über geistliche Gaben wieder einmal zu Ende ging, habe ich gesagt: »Ich habe auch nicht alle Gaben. Ich habe nur drei, und ihr wisst, welche das sind. Ich werde von euch keine Rechen­schaft für Gaben fordern, die ihr von Gott nicht bekommen habt. Und das erwarte ich umgekehrt auch von euch. Wenn ich mich als Pastor in bestimmten Bereichen nicht engagiere, dann liegt das wahrscheinlich daran, dass es nicht meinen Gaben entspricht. Bitte gesteht mir das zu, was ich euch auch zugestehe.«

Wenn es in den Predigten um Ehe und Familie ging, habe ich gesagt: »Ich möchte, dass deine Familie, deine Ehe gewinnt. Und ich hoffe, dass ihr das meiner Familie genau so wünscht. Wenn wir also Urlaub machen, dann respektiert das genauso und helft uns, als Familie zu gewinnen.« Ich habe versucht von Anfang an eine Atmos­phäre zu schaffen, in der das Wohl des anderen eine große Rolle spielt.

Ist das in einer kleinen Gemeinde schwieriger?

Auf jeden Fall. In einer Gemeinde mit 300 Mitgliedern ist das sehr viel schwieriger als in einer Gemeinde mit 3.000. Bei Willow sind die Leute oft überrascht, wenn ich in bestimmten Veranstaltungen auftauche. In einer kleineren Gemeinde sind sie beleidigt, wenn du nicht überall dabei bist. Trotzdem müssen auch die Pastoren kleinerer Gemeinden harte Entscheidungen treffen. Das ist nicht unmöglich, nur schwieriger. Deshalb ist es wichtig, dass man der Gemeinde genau vermittelt, wie sie einen unterstützen kann. Anstatt zu sagen: »Ruft mich samstags nicht an«, kann man sagen: »Ich habe drei Kinder, die samstags schulfrei haben. Das ist der einzige Tag, an dem ich mit ihnen etwas unternehmen kann. Ich werde sie ja nur so lange zu Hause haben, bis sie die Schule abgeschlossen haben. Würdet ihr bitte dafür beten, dass die Samstage zu einer ganz besonderen Erfahrung für sie werden? Wenn ich also einen Anruf am Samstag nicht gleich beantworte, dann wisst ihr, dass ich mit meinen Kindern unterwegs bin.«

Wenn man seine Gemeinde so vorbereitet, kann man noch hinzufügen: »Ich hoffe, dass alle Mütter und Väter mit ihren Kindern solche besonderen Zeiten erleben.« Dann ist man nicht derjenige, der enge Grenzen steckt, sondern vermittelt: Ich möchte ein guter Vater für meine Kinder sein.

Wie können Leitende wirklich auftanken?

Wir müssen nach Wegen und Aktivitäten Ausschau halten, die uns im Tiefsten erfrischen und nicht auf Dinge zurückgreifen, die uns nur oberflächlich gut tun. Wir alle kennen die Versuchung, uns nur abzulenken oder mit Aktivitäten zuzuballern, wenn unsere Seele erschöpft ist. Bei Mentoring-Treffen frage ich häufig: »Was tust du, bevor du dir etwas gönnst, was dich wirklich wieder aufbaut?« Die Standardantworten: Essen, Alkohol, Fernsehen, Internet, Pornographie. Ich frage weiter: »Und wie fühlt sich das an, wenn du eine oder zwei Stunden gegessen, getrunken oder im Internet gesurft hast? Erholt sich deine Seele dabei? Schöpfst du dabei neue Kraft?« Und als Antwort höre ich: »Nein.«

Okay. Selbst wenn es keine Sünde ist, die du tust, hilft es dir offensichtlich nicht. Wir müssen lernen zu unterscheiden zwischen diesen kurzfristigen Ablenkungen, die nicht zur Erholung führen und den uns wohltuenden Dingen, durch die die Seele wirklich neue Kraft schöpfen kann.

Man hört häufig: Ich würde ja gerne für mehr Erholung sorgen, wenn mein Chef oder die Gemeinde mir diesen Freiraum geben würde!

Der Mensch, der am schwierigsten zu leiten ist, bist immer du selbst. Manchmal machen wir es komplizierter als es ist. Manchmal fehlt uns die nötige Disziplin. Manchmal nehmen wir uns nicht die Zeit um herauszufinden, was uns gut tut. Dabei schieben wir die Schuld gerne auf andere. Oder wir sagen: »Ich tue diese heldenhafte Arbeit für Gott. Darum bin ich überarbeitet.« Fakt ist: jeder ist selbst für das eigene Auftanken verantwortlich. 

In meinen Mentoring-Treffen zeige ich häufig auf einen Teilnehmenden und sage: »Erzähl uns bitte, welche Methode des Auftankens bei dir am besten funktioniert und warum.« Ein anderer entgegnet dann: »Bei mir klappt das nicht. Ich habe zwei kleine Kinder.« Der Punkt ist: Nicht jeder Weg passt für jeden. Am besten bespricht man das Thema in einem Team, in dem sich die Teilnehmer gut kennen. Dort kann man sich gegenseitig Tipps geben. Und das Korrektiv ist gegeben. Wenn jemand von seiner Art des Auftankens schwärmt, aber jeder weiß, dass er oder sie ein unglaubliches Lebenstempo vorlegt, kann man liebevoll aber bestimmt sagen: »Ich glaube, da solltest du noch einmal neu überlegen. Wir kennen dich und wissen, dass das so nicht stimmen kann. Du hast es mit dem Auftanken nie ernsthaft versucht. Stattdessen beschwerst du dich darüber, dass du überarbeitet bist. Das hören wir jetzt schon seit Jahren.« Das ist die Macht der Gemeinschaft – einander zur Rechenschaft zu ziehen und zu sagen: »Zeig uns doch mal, wie du diese Dinge umsetzt, anstatt dich immer nur darüber zu beschweren, dass du es nicht schaffst.«

»Wer die Leidenschaft für den Dienst über Jahre aufrechterhalten will, muss sich bestimmte Disziplinen aneignen.«

Gibt es etwas, das du gerne schon vor Jahren umgesetzt hättest, wenn du es früher gekannt hättest?

Ich glaube, es gibt keine Patentlösung. Ich habe schon immer bestimmte geistliche Übungen praktiziert, die in meiner Beziehung zu Gott sehr wichtig waren. Im Laufe der Zeit haben sie sich verändert. Einige haben sich bewährt, andere passten irgendwann nicht mehr.

Wenn man als Leitender allerdings die Leidenschaft für den Dienst über Jahre hinweg aufrechterhalten will, dann muss man einfach gewisse Disziplinen und Übungen haben. Man muss sich eine Routine aneignen, die einen durch den Alltag trägt. Man braucht regelmäßige Gelegenheiten, bei denen man auftanken kann, enge Freunde, die auch kritische Fragen stellen dürfen und einen immer wieder ermutigen. Das ist es letzten Endes, worauf es ankommt.

Marshall Shelley und Drew Dyck führten das Interview für das Leadership Journal. 

Übersetzung: Antje Gerner.