Das theologische Begleitpersonal Achim Härtner und Michael Herbst und ihre Einschätzungen der Chicago-Studienreise.

 

Welchen Wert hat eine Reise zur Willow-Gemeinde für Theologiestudierende?


Michael Herbst: Reisen bildet! Die Studierenden lesen nicht nur, sondern erleben, wie z.B. sich Gemeindeleben in der Willow Creek Community Church ›anfühlt‹, wenn man Gastfreundschaft
erlebt, beim Lobpreis mitsingt oder die Leiter der Gemeinde befragen kann. Erleben und reflektieren ist deutlich mehr als nur Lesen.

Achim Härtner: Es ist eine gute Möglichkeit, das eigene theologische Profil zu schärfen. Dieser Effekt wird verstärkt, wenn es gelingt, die Studienreise auch formal ins Theologiestudium einzubinden. Durch vorbereitende Lektüre, schriftliche Reflexion, Credit-Punkte. An unserer Hochschule haben wir gute Erfahrungen damit gemacht.

Die Willow-Gottesdienste werden von 23.000 Menschen besucht. Was können angehende Theologen von der Megachurch lernen? Später werden sie ja für deutlich kleinere Gemeinden zuständig sein.


Herbst: Ich mag nicht wiederholen, was man oft hört: dass man nichts kopieren könne. Stimmt das eigentlich? Abgesehen davon ist es die unermüdliche Bereitschaft, Altes zu prüfen, Gewohntes und Beliebtes bei Bedarf auch zu lassen oder mindestens zu überarbeiten, wenn es den innersten Werten der Gemeinde
nicht mehr entspricht. Man sieht bei Willow wenig von unserer Untugend, sich nur schwer von Altem zu verabschieden.

Das Wort „Megachurch“ hat hierzulande häufig einen negativen Beigeschmack: Menschen gehen in der Masse unter, bleiben anonym und allein, wird gemutmaßt. Zutreffend?


Herbst: Ich erlebe eine Gemeinde, die bei aller Größe den Einzelnen sieht und achtet, deren Gastfreundschaft überwältigend ist. Und ich sehe eine Gemeinde, in der Menschen mit ihren Wunden Hilfe finden und mit ihren Stärken Freiräume zum Mitwirken. Ich sehe eine Leitung, die demütig und klar zugleich ist. Und ich sehe eine Gemeinde, die in 40 Jahren nichts von ihrer Leidenschaft verloren hat, glaubensferne Menschen zu hingegebenen Nachfolgern von Jesus zu machen. Ich jedenfalls bin dort gerne Schüler.

Härtner: Meinem Eindruck nach haben viele Theologiestudierende kaum mehr ein positives Bild einer vitalen Gemeinde nach dem Vorbild von Apg. 2,42-47. Insofern ist diese Studienreise so etwas wie ein ›bildgebendes Verfahren‹. Willow hat über Jahrzehnte bewiesen, dass eine Gemeinde ihren Grundwerten treu bleiben und sich gleichwohl permanent weiterentwickeln kann, um ihrer Berufung so gut wie möglich gerecht zu werden.

Hat das „bildgebende Verfahren“ funktioniert?


Härtner: Zunächst: Wer Willow zum ersten Mal besucht, ist natürlich von der Größe des Gemeindezentrums und der Exzellenz all dessen, was dort angeboten wird, beeindruckt. Manche Studierenden waren begeistert und sagten: So etwas brauchen wir in Deutschland auch! Andere waren skeptisch oder gar ablehnend:zu groß, zu perfekt, zu amerikanisch, hieß es. Es ist gut, dass die ersten Wahrnehmungen in Reflexionsrunden ausgesprochen werden konnten. Die Begegnungen mit Willow-Leitungspersonen und ›normalen‹ Gemeindegliedern verschafften den Studierenden dann einen differenzierten Einblick in das Selbstverständnis und den Dienst der Gemeinde.


»Wir haben befreites Denken erlebt in den von uns besuchten Gemeinden: Der Blick ist nicht auf den Mangel gerichtet, sondern auf das, was Gott tun kann«.




Herbst: Es gibt eine Art ›Virus‹, das zu einem guten deutschen Theologen gehört: Skepsis! Skepsis gegenüber Größe, Professionalität, Exzellenz, dem Mangel an vertrauter Liturgie und überhaupt allem, was aus Amerika kommt – bis auf dieses oder jenes Spielzeug, das man dann doch gerne nutzt. Es wäre seltsam, wenn unsere Studierenden nicht auch diese viral vermittelte Zurückhaltung mitbrächten und auch deutlich äußerten. Aber dann gab es bei der Reise eine Wandlung: nicht zu kritikloser Begeisterung, aber zu wachsendem Respekt, größerer Zuneigung und persönlicher Offenheit: Häufig ist der Besuch im Willow-Care Center der ›turning point‹, weil man kaum durch diese Räume geführt werden kann, ohne den Geist zu spüren, der hier weht: Hingabe, Respekt vor dem Einzelnen, reflektiertes Tun, professionelle Hilfe, die nicht nur ›Pflästerchen‹ verteilt, eine im Gebet sich äußernde Abhängigkeit von Gott und fantasievolle Liebe zu denen, die die Dienste in Anspruch nehmen. Das Care Center leistet also auch Überzeugungsarbeit an mild skeptischen deutschen Theologen.

Die regelmäßigen Reflexionsrunden, die Achim Härtner erwähnt hat, spielten offenbar auch eine wichtige Rolle.


Herbst: Genau. Es war wichtig, dass sie das Erlebte reflektieren und mit dem verknüpfen konnten, was sie theologisch gelernt haben. Zahlreiche theologische Grundfragen stellen sich, wenn man Willow Creek, und die anderen spannenden Orte der Reise, aufsucht: Wie denke ich über Taufe, Leitung, Mission, Diakonie, Heiligung, Eschatologie usw.? Der Transfer geht in mehrere Richtungen: Das theologisch Erlernte hilft das Erlebte einzuordnen und zu verstehen, wenn es z.B. um die Bemühungen um Wachstum im Glauben geht und wir dann noch einmal theologisch über das Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung nachdenken. Dabei kommen die Dinge in Bewegung: Ich muss mir klarmachen, warum z.B. unsere Taufpraxis in der Landeskirche eine andere ist, und was wir in dieser Hinsicht voneinander lernen können.

Worauf müsste in der Ausbildung angehender Pfarrerinnen und Pfarrern ein noch größerer Schwerpunkt gelegt werden?


Härtner: Fachlich gut begleitete Exkursionen müssten noch stärker Teil theologischer Ausbildungsgänge sein. An Good-Practice-Beispielen wie Willow kann man viel lernen, wenn gewährleistet ist, dass nicht das Modell an sich im Mittelpunkt steht, sondern das Lernen am Modell.

Herbst: Und dass schon im Studium zusammenkommt, was zusammen gehört: fleißiges Lernen, tiefes Nachdenken, beste Theologie, alle Mühe, die es kostet, sich einzulesen und einzudenken, um theologisch auskunftsfähig und urteilskräftig zu werden. Und dann: Leidenschaft für die Mission Gottes, Gebet und Gottesdienst, geistliche Bildung des eigenen Herzens, Begegnung mit Menschen, die eine Vision für die Kirche haben, Einübung in alles, was die Gemeinde im 21. Jahrhundert braucht. Dass das weitgehend auseinandergerissen bleibt, schädigt unseren theologischen Nachwuchs und die Kirche.

Das Umfeld, auf das die angehenden Theologen treffen, hat sich in den letzten 20 Jahren stark verändert. Wurde in der Ausbildung darauf reagiert?


Herbst: Leider hat sich seit dem letzten Jahrhundert – oder sollte ich sagen: seit dem letzten Jahrtausend – nichts geändert. In der Tat: Die Rahmenbedingungen für den pastoralen Dienst ändern sich rasant. Es geht etwas zu Ende in unserem Land: die selbstverständliche Volkskirchlichkeit. Wenn wir nur lernen, wie wir pflegen, bewahren, weiterführen, was immer schon da war, mit denen, die immer schon da waren, dann werden wir der missionarischen Herausforderung nicht gerecht. Wir brauchen neben der erwähnten ›Wiedervereinigung von Wissenschaft und Frömmigkeit‹ auch eine Erweiterung des Spektrums: vom Bewahrer des kirchlich Vorgegebenen zum geistlichen Unternehmer, der Neues aufzubauen hilft, und der mit theologischer Kenntnis hilft, gemeindliche Start-ups in einer säkularer werdenden Welt zu begründen.

Härtner: Nicht zu vergessen, dass angehende Theologen eine geistliche Persönlichkeit ausbilden müssen. Dass sie einen Lebensstil einüben, der die Jesus-Nachfolge für andere erkennbar und einladend macht. Zugleich ist ein gutes Beheimatet-Sein in der eigenen Glaubenstradition wichtig – während sie lernen müssen, offen für Menschen anderen Glaubens zu sein. Dazu gehört auch die Fähigkeit, die eigenen geistlichen Überzeugungen so zur Sprache zu bringen, dass sie von Menschen ohne religiöse Vorkenntnisse verstanden werden können.


»Die Willow-Mitarbeiter bringen sich mit einer leidenschaftlichen Liebe in ihren Dienstbereich ein, weil sie eine Gottesbegegnung hatten, die ihr Leben verändert hat«.




Gab es ein Highlight auf der Reise?


Herbst: Da könnte ich ganz viel nennen: im Gottesdienst plötzlich ›Bluegrass Worship‹ zu hören; der Vortrag von Bill Hybels; ein exzellentes Steakessen mit dem Team; morgens um 6:30 Uhr Joggen in einem bezaubernden Park; der Anblick der Chicago-Skyline vom Lake Michigan aus… Herausragend aber waren die vielen kleinen Gespräche, bei den Autofahrten mit den Studierenden, über alles Mögliche, mal ernst, mal albern, mal theologisch, mal ›kirchlich‹ und oft auch über das, was den jungen Leuten wirklich auf der Seele brennt.