Die leitenden Pastoren der Willow Creek-­Gemeinde wie auch deren Älteste sind zurück getreten – wie bewertest du das?

Ulrich Eggers: Diese Leute haben bis an ihre absoluten Kraftgrenzen ihr Bestes versucht. Dennoch war es jetzt ein richtiger Schritt des Neuanfangs, zu dem Mut und Demut gehört. Das Vertrauen war bei vielen einfach aufgebraucht, weil das Verhalten oft zu zögerlich war. Ich habe trotzdem großen Respekt vor ihnen, die Aufgabe war einfach zu groß.

Was lief schief?

Wir können das nur mit viel Respekt und Zurückhaltung sagen, weil auch wir ja im Wesentlichen von außen beobachten. Man hätte den Stimmen der Frauen von Anfang an mehr vertrauen und die alte gewachsene Loyalität zu Bill Hybels klarer im Sinne eines Verantwortungs-Gegenübers neu­tralisieren müssen. Es war falsch, die Frauen als Lügner hinzustellen oder eine Verschwörung zu unterstellen. Man wollte Schaden wehren und hat ihn damit eher verstärkt. Es zeigt sich sicher auch, dass ein Gremium von Ehrenamtlichen als Gegenüber eines starken langjährigen Gründers und Leiters und einer starken Organisation an Grenzen kommt. Hier muss man mehr nachdenken, wie in großen Organisationen, die von starker Leitung leben, auch ein starkes Gegenüber gebildet werden kann. Wo wir bei uns manchmal die Mühen demokratischer Prozesse bedauern, wird hier die Gefahr des Gegenteils deutlich.

Auch die Erklärungen von deutscher Seite fanden manche als zu zaghaft ...

Das kann ich verstehen, gerade bei einem solch emotionalen Thema. Zugleich agieren wir als Willow Creek Deutschland ja nicht als Aufklärungs-Journalisten oder vergeben Haltungsnoten oder Privatmeinungen. Wir haben auf der Grundlage unseres Vertrauens als Partner agiert und versucht, nach bestem Gewissen jeweils zu sagen, was wir sagen können. Das tun wir auch jetzt so verantwortungsvoll und nach biblischem Maßstab wie nur möglich.

Was für Reaktionen erhaltet ihr als deutsche Geschäftsführung von Willow Creek?

Hybels und die Arbeit von Willow sind sehr bekannt – entsprechend prominent und stark sind die Diskussionen. Und natürlich ist da auch eine Menge latenter Zorn mit im Spiel. Wer vorher kein Freund von Willow war, der wird es jetzt nicht werden. Wer Erfolg und Größe oder christliche Helden und Vorbilder seit jeher mit Vorsicht und Reserve betrachtet, wird sich jetzt bestätigt sehen.  

»Auf jeder Kanzel predigt immer nur ein Sünder mit schon erkannten oder noch nicht erkannten Sünden.«

Am Ende brauchen aber alle Seiten miteinander vor allem einen nüchternen Blick auf das, was da wirklich geschehen ist – weder voreiliges Verteidigen noch vorschnell fertige Urteile helfen, um Klarblick zu bekommen. Wichtig ist, dass gemachte Fehler erkannt werden und sich nicht wiederholen. 

Insgesamt sind wir sehr dankbar, mit welch großer Reife unsere Freunde und Besucher reagieren. Da ist Schaden und Schuld entstanden, da ist auch im Begleiten vieles nicht gut gelaufen. Aber klar ist auch, dass es sich um Vorgänge handelt, die Jahrzehnte zurückliegen und schwer zu bewerten sind. Ehebruch, Macht-Missbrauch, mangelnde Kontrolle, Intransparenz – wie genau spielt das alles zusammen? Das wollen wir wissen und daraus lernen – und zugleich brauchen wir dafür im Moment noch eine gute geistlich gegründete Geduld, die wir nutzen können, um vor eigenen Türen zu kehren.

Gibt es absehbare Auswirkungen auf den Kongress 2020 in Deutschland?

Natürlich machen wir uns Gedanken darüber, wie wir diese Themen beim nächsten Kongress gut aufgreifen. Schon beim Summit in Chicago hat Danielle Strickland dazu referiert. Die Frage nach derFaszination und Gefahr von Größe, der Rolle von Sexualität im Leben von Leitenden und dem Vorrang für Charakter und Integrität wird mit Sicherheit noch einmal stärker als bisher thematisiert. Wichtig scheint mir vor allem, dies alles auch aus der Sicht von Frauen zu betrachten, nicht nur aus dem Standard-Blickwinkel von leitenden Männern. 

Kann Willow ohne Bill Hybels noch funktionieren?

Sowohl der Kongress, als auch die Gemeinde haben Bill Hybels viel zu verdanken. Aber beides war schon immer auch sehr viel mehr als nur er. Ich hoffe, die Gemeinde besinnt sich auf ihren Auftrag und lebt ihn. Das hat immer die Faszination von Willow ausgemacht. Und natürlich muss die Aufklärung der Vorwürfe jetzt mit aller Kraft und neutral angegangen werden.

Für die deutsche Arbeit ist das alles noch einmal anders zu sehen. Wir sind nicht die Gemeinde, sondern eine Mini-Kongress-Organisation und haben unabhängige Strukturen, die von einem breit besetzten Vorstand mit kritischem Blick begleitet werden. Auch da werden wir auswerten, bleiben aber bei unserem Auftrag, für den der Name ›Willow Creek‹ ja nur eine Chiffre ist: Es gilt da mein Wort am Ende des vergangenen Kongresses: Es geht nicht um Willow, sondern es geht um Jesus und seinen Auftrag an uns! Es geht um Gemeinden, die diesen Auftrag leben und so zur Hoffnung für ihre Umgebung werden. Leitung im Kontext missionarischen Gemeindebaus – dafür sind unsere Konferenzen Plattform, dafür werden wir uns in Zukunft eher noch mehr Mühe geben, hervorragende Sprecher zu finden, die gute praxistaugliche Impulse liefern.

Wie gehe ich damit um, wenn mir Bill Hybels ein Mentor und Glaubensvorbild war?

Natürlich stürzt all das viele jetzt in einen großen Denkprozess. Aber diese Ent-Täuschung kann auch gesund sein. Wir alle haben Vorbilder, wir alle wollen möglichst makellose Helden, die ihre Erkenntnis-Perlen nur vom Nachdenken am Schreibtisch bekommen. Wir predigen über König David – und blenden aus, dass er ziemlich schlimme Dinge gemacht hat, die nicht zu verteidigen sind. Wir machen uns nicht klar, dass gute Früchte auch aus der dunklen Erde von Niederlagen geboren werden, mit denen wir alle uns rumschlagen müssen. Es ist enttäuschend, dass Bill Hybels offensichtlich auch aktiv wirksame Schattenseiten hatte, mit denen er nicht immer fertig geworden ist. Das überrascht mich zwar nicht, aber es tut weh, wie er damit umgegangen ist und wie sehr er offensichtlich den Schaden ausgeblendet hat, den das verursacht.

Mir persönlich geht es so: Das Gute, das ich von Bill Hybels gelernt habe als Vorbild, das bleibt und steht dennoch fest. Gutes und Richtiges bleibt gut, auch wenn der, von dem es kommt, gerade Probleme hat – oder macht. Ich will weiter für ihn beten und fordere zugleich von ihm, dass er die Vorwürfe klärt, ehrlich wird und Vergebung und Wiedergutmachung sucht, wo immer er im Umgang mit Frauen versagt hat. So würde er das übrigens selbst sagen! Man mag verstehen, dass er angesichts der massiven Kampagne jetzt in die Defensive gegangen ist und die Vorwürfe leugnet. Aber es ist eine Schande, dass es erst einer massiven Kampagne bedurfte, um den Stimmen dieser Frauen Gehör und ihrem Anliegen Gerechtigkeit zu verschaffen! Das empfinde ich als ein Versagen des Leitungssystems dieser Gemeinde. Und da muss noch viel Licht in Strukturen und Ereignisse scheinen. Ich hoffe darauf, dass Bill Hybels aus seiner Defensive herausfindet und sich stellt zu dem, was war. Ich traue ihm das zu – aber es ist auch überfällig.

Zugleich merke ich, wie sehr wir alle da auch ein Denkdefizit haben: Auf jeder Kanzel predigt immer nur ein Sünder mit schon erkannten oder noch nicht erkannten Sünden. Das Besondere von Kirche ist, dass wir ein Ort der Barmherzigkeit sind. Dazu müssen wir aber auch endlich ein Ort des Realismus werden. Wir dürfen Menschen weder überhöhen, noch zynisch jedem Vorbild kritisch misstrauen. Und wo Schuld liegt, muss Gerechtigkeit gesucht werden. Willow muss lernen aus dieser Krise, aber auch für uns in Europa stecken viele Botschaften darin, die wir entziffern und übersetzen müssen …

Kann man jetzt noch stolz sein auf Willow Creek? Wiegt das Gute das Schlechte auf?

Das ist kein Rechenspiel um Gewichte. Das Schlechte steht für sich – und das Gute bleibt genauso bestehen. Bei aller Trauer: Eine Gemeinde besteht ja eben nicht zuerst aus ihrem Pastor und ihrer Leitung, sondern aus den Hunderten oder Tausenden, die den Auftrag Jesu leben. Darauf muss man sich jetzt besinnen und den neuen alten Auftrag leben.

 

Ulrich Eggers ist 1. Vorsitzender von Willow Creek Deutschland und Geschäftsführer der SCM Verlagsgruppe